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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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einzelten Besonderung) gibt dieses unmittelbare, absolut sichere Wissen. Die
Auseinandersetzungen mit Kant und den Neukantianern erhöhen das Interesse
an dem Buch.

Daß die Kantphilosophie im weiteren Sinne immer noch üppig in Blüte
steht, findet in dem bahnbrechenden, die kommenden Geschlechter auf tausend
neue Probleme hinweisenden Geiste Kants Grund und Berechtigung. Nicht
zufällig und darum nur in der Ordnung ist es, wenn die neuerliche Zuwendung
zum nachkantischen deutschen Idealismus eine vorwiegend historische Bedeutung
besitzt, während die Probleme des obgleich älteren Kant uns auch jetzt immer
noch aus voraussichtlich lange Zeit vorzüglich systematisch beschäftigen. Viel¬
leicht vom jüngeren Fichte abgesehen -- was sind uns die Systeme Schellings
und selbst Hegels anderes als ehrwürdige Sackgassen, Baulichkeiten voll
bedeutsamer Einzelheiten und als architektonische Totalitäten zwar malerisch,
aber unsolide und gefährlich? Nicht um einen Wiederaufbau darf es sich darum
handeln, sondern nur um die rein historische, gefahrlose Rekonstruktion der
Grundrisse und Zusammenhänge. Solche verdienstvolle Arbeit sehen wir in
Dr. Eckart von Sydows Buch "Der Gedanke des Ideal-Reichs in der
idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel" (Felix Meiner, Leipzig
1914) geleistet. Die Idee des zukünftigen idealen Gemeinschaftslebens der Menschen
als der Zeit der Vollendung und Erfüllung, des absoluten Geschichtsziels, des
"dritten Reiches", des staatlichen und kulturellen Jdealzustandes wird von den
ersten Anfängen an, eingehender aber erst für Kant, Fichte, Schelling, Hegel
und Marx entwickelt. Die Probleme des menschlichen Urzustandes, des Sünden¬
falles, der philosophischen Ableitung des Guten und des Bösen, des Anfangs
und der Etappen des Geschichtsverlaufs, des Krieges und des ewigen Friedens,
des "auserwählten" Kulturvolkes, der geschichtlichen Rangordnung von Religion,
Moral, Kunst und Wissenschaft fehen wir vor uns entstehen und sich gegen¬
seitig beleuchten. Die Quellen der ganzen auf Herstellung eines vollkommenen
Menschheitsorganismus gerichteten Fragestellung zeigt uns der Verfasser in der
französischen wie in der deutschen Philosophie. Während dort aber die
Philosopheme direkt auf ihre Umsetzung in der Praxis Hinausliesen, wollten die
deutschen Gedankengänge selten mehr als eine theoretische, geschichtsphilosopische
Konstruktion sein.

Hinsichtlich der treffenden Kritik, die der Verfasser gibt, würde zu betonen
sein, wie der von Kant aufrecht erhaltene Unterschied zwischen Theorie und
sittlichem Postulat, zwischen Sein und Sollen von seinen Nachfolgern verwischt
ist. Besonders Schelling ist groß in der Verwechslung der Theorie vom tat¬
sächlichen Geschichtsverlauf und dem das Handeln regulierenden Ideal. Nur
in dieser letzten Bedeutung hat Kant zum Beispiel seinen Gedanken vom Völker¬
bund und vom ewigen Frieden verstanden wissen wollen. Doch ist das nur
ein Symptom Von Kant konnte Windelband das seine ganze Bedeutung für
die systematische Philosophie aller Zeiten kennzeichnende Wort sprechen: "Kant


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einzelten Besonderung) gibt dieses unmittelbare, absolut sichere Wissen. Die
Auseinandersetzungen mit Kant und den Neukantianern erhöhen das Interesse
an dem Buch.

Daß die Kantphilosophie im weiteren Sinne immer noch üppig in Blüte
steht, findet in dem bahnbrechenden, die kommenden Geschlechter auf tausend
neue Probleme hinweisenden Geiste Kants Grund und Berechtigung. Nicht
zufällig und darum nur in der Ordnung ist es, wenn die neuerliche Zuwendung
zum nachkantischen deutschen Idealismus eine vorwiegend historische Bedeutung
besitzt, während die Probleme des obgleich älteren Kant uns auch jetzt immer
noch aus voraussichtlich lange Zeit vorzüglich systematisch beschäftigen. Viel¬
leicht vom jüngeren Fichte abgesehen — was sind uns die Systeme Schellings
und selbst Hegels anderes als ehrwürdige Sackgassen, Baulichkeiten voll
bedeutsamer Einzelheiten und als architektonische Totalitäten zwar malerisch,
aber unsolide und gefährlich? Nicht um einen Wiederaufbau darf es sich darum
handeln, sondern nur um die rein historische, gefahrlose Rekonstruktion der
Grundrisse und Zusammenhänge. Solche verdienstvolle Arbeit sehen wir in
Dr. Eckart von Sydows Buch „Der Gedanke des Ideal-Reichs in der
idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel" (Felix Meiner, Leipzig
1914) geleistet. Die Idee des zukünftigen idealen Gemeinschaftslebens der Menschen
als der Zeit der Vollendung und Erfüllung, des absoluten Geschichtsziels, des
„dritten Reiches", des staatlichen und kulturellen Jdealzustandes wird von den
ersten Anfängen an, eingehender aber erst für Kant, Fichte, Schelling, Hegel
und Marx entwickelt. Die Probleme des menschlichen Urzustandes, des Sünden¬
falles, der philosophischen Ableitung des Guten und des Bösen, des Anfangs
und der Etappen des Geschichtsverlaufs, des Krieges und des ewigen Friedens,
des „auserwählten" Kulturvolkes, der geschichtlichen Rangordnung von Religion,
Moral, Kunst und Wissenschaft fehen wir vor uns entstehen und sich gegen¬
seitig beleuchten. Die Quellen der ganzen auf Herstellung eines vollkommenen
Menschheitsorganismus gerichteten Fragestellung zeigt uns der Verfasser in der
französischen wie in der deutschen Philosophie. Während dort aber die
Philosopheme direkt auf ihre Umsetzung in der Praxis Hinausliesen, wollten die
deutschen Gedankengänge selten mehr als eine theoretische, geschichtsphilosopische
Konstruktion sein.

Hinsichtlich der treffenden Kritik, die der Verfasser gibt, würde zu betonen
sein, wie der von Kant aufrecht erhaltene Unterschied zwischen Theorie und
sittlichem Postulat, zwischen Sein und Sollen von seinen Nachfolgern verwischt
ist. Besonders Schelling ist groß in der Verwechslung der Theorie vom tat¬
sächlichen Geschichtsverlauf und dem das Handeln regulierenden Ideal. Nur
in dieser letzten Bedeutung hat Kant zum Beispiel seinen Gedanken vom Völker¬
bund und vom ewigen Frieden verstanden wissen wollen. Doch ist das nur
ein Symptom Von Kant konnte Windelband das seine ganze Bedeutung für
die systematische Philosophie aller Zeiten kennzeichnende Wort sprechen: „Kant


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[0420] Philosophisch« Neuerscheinungen einzelten Besonderung) gibt dieses unmittelbare, absolut sichere Wissen. Die Auseinandersetzungen mit Kant und den Neukantianern erhöhen das Interesse an dem Buch. Daß die Kantphilosophie im weiteren Sinne immer noch üppig in Blüte steht, findet in dem bahnbrechenden, die kommenden Geschlechter auf tausend neue Probleme hinweisenden Geiste Kants Grund und Berechtigung. Nicht zufällig und darum nur in der Ordnung ist es, wenn die neuerliche Zuwendung zum nachkantischen deutschen Idealismus eine vorwiegend historische Bedeutung besitzt, während die Probleme des obgleich älteren Kant uns auch jetzt immer noch aus voraussichtlich lange Zeit vorzüglich systematisch beschäftigen. Viel¬ leicht vom jüngeren Fichte abgesehen — was sind uns die Systeme Schellings und selbst Hegels anderes als ehrwürdige Sackgassen, Baulichkeiten voll bedeutsamer Einzelheiten und als architektonische Totalitäten zwar malerisch, aber unsolide und gefährlich? Nicht um einen Wiederaufbau darf es sich darum handeln, sondern nur um die rein historische, gefahrlose Rekonstruktion der Grundrisse und Zusammenhänge. Solche verdienstvolle Arbeit sehen wir in Dr. Eckart von Sydows Buch „Der Gedanke des Ideal-Reichs in der idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel" (Felix Meiner, Leipzig 1914) geleistet. Die Idee des zukünftigen idealen Gemeinschaftslebens der Menschen als der Zeit der Vollendung und Erfüllung, des absoluten Geschichtsziels, des „dritten Reiches", des staatlichen und kulturellen Jdealzustandes wird von den ersten Anfängen an, eingehender aber erst für Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Marx entwickelt. Die Probleme des menschlichen Urzustandes, des Sünden¬ falles, der philosophischen Ableitung des Guten und des Bösen, des Anfangs und der Etappen des Geschichtsverlaufs, des Krieges und des ewigen Friedens, des „auserwählten" Kulturvolkes, der geschichtlichen Rangordnung von Religion, Moral, Kunst und Wissenschaft fehen wir vor uns entstehen und sich gegen¬ seitig beleuchten. Die Quellen der ganzen auf Herstellung eines vollkommenen Menschheitsorganismus gerichteten Fragestellung zeigt uns der Verfasser in der französischen wie in der deutschen Philosophie. Während dort aber die Philosopheme direkt auf ihre Umsetzung in der Praxis Hinausliesen, wollten die deutschen Gedankengänge selten mehr als eine theoretische, geschichtsphilosopische Konstruktion sein. Hinsichtlich der treffenden Kritik, die der Verfasser gibt, würde zu betonen sein, wie der von Kant aufrecht erhaltene Unterschied zwischen Theorie und sittlichem Postulat, zwischen Sein und Sollen von seinen Nachfolgern verwischt ist. Besonders Schelling ist groß in der Verwechslung der Theorie vom tat¬ sächlichen Geschichtsverlauf und dem das Handeln regulierenden Ideal. Nur in dieser letzten Bedeutung hat Kant zum Beispiel seinen Gedanken vom Völker¬ bund und vom ewigen Frieden verstanden wissen wollen. Doch ist das nur ein Symptom Von Kant konnte Windelband das seine ganze Bedeutung für die systematische Philosophie aller Zeiten kennzeichnende Wort sprechen: „Kant

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/420>, abgerufen am 22.07.2024.