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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Philosophische Neuerscheinungen

verstehen, heißt über ihn hinausgehen." Ein solches Hinausgehen dagegen über
seine "Nachfolger" führt an denselben Abgrund, in dem nach Hegels Tod die
deutsche Philosophie versank. Ein gründliches Studium dieser Zeit mit rein
historischer Blickrichtung, wie sie das genannte Buch darbietet, kann die Philosophie
der Zukunft vor einem ähnlichen Todesweg bewahren.

Belone Hegel zum philosophischen Verständnis des Lebens zu sehr die
Geisteswissenschaften, so kommen in dem der deutschen idealistischen Philosophie
parallel gehenden französischen Positivismus die Naturwissenschaften zu ihrem
Recht. Dessen Darstellung in einer neuen "Geschichte der französischen Philosophie
feit der Revolution" hat Max Schinz, Privatdozent an der Universität Zürich,
unternommen. Bis jetzt liegt nur der erste Band vor: "Die Anfänge des
französischen Positivismus. Erster Teil: Die Erkenntnislehre."
(Trübner, Straßburg 1914.) Er behandelt die Erkenntnislehren d'Alemberts, Tur-
gots und Condorcets historisch und kritisch. Wie Windelband will der Verfasser eine
Geschichte nicht der einzelnen Philosophen, sondern der jeweiligen Probleme geben.
In der Beurteilung der französischen und englischen Philosophie dagegen weicht
er von diesem Philosophiehistoriker wie von den herkömmlichen Anschauungen
ganz erheblich ab. Denn nichts geringeres ist sein Ziel als der Nachweis, daß
der französische Positivismus von d'Alembert bis Comte eine Geisteserscheinung
sei, die der kantischen Philosophie ebenbürtig geachtet werden dürfe. Aber
abgesehen von dieser etwas zu kühnen Behauptung und einer gewissen Ver-
kennung des Wesens der Philosophie Kants wird man dem Verfasser das Ver¬
dienst zugestehen müssen, die Geistesgeschichte der vorrevolutionären französischen
Philosophie durch Aufhellung der Zusammenhänge in ein klareres und zugleich
gerechteres Licht gesetzt zu haben, als sie sich sonst erfreuen darf. Mit den
abschätzigen Prädikaten "Popularphilosophen", "Enzyklopädisten" ist es nicht
getan. Hier haben wir die Anfänge der französischen positivistischen Philosophie.
Hier werden bereits Gedanken Kants vorweggenommen, und wenigstens von
Turgot glaubt der Verfasser wegen auffallender Übereinstimmungen mutmaßen
zu dürfen, daß unser größter Philosoph ihn gekannt habe.

In eingehenden Kapiteln wird der französische mit dem englischen
Positivismus verglichen. Sympathisch berührt mich die gerechte Würdigung des
auch heute noch zeitgemäßen Locke gegenüber dem gewiß genialen, aber auch
maßlos überschätzten Hume. Neues Licht fällt auch auf Berkeley. Seine An¬
sätze zu einer positiven Erkenntnistheorie wurden von Hume nicht beobachtet
und finden ihre Erfüllung erst in Kants "Analogien der Erfahrung". So will
Berkeley nicht nur von Hume, sondern auch von Kant aus rückwärts verstanden
werden. Ja Schinz' interessante Untersuchung weiß Keime seines Denkens zu
entdecken, die sich erst im Zusammenhang der Gedanken von Schelling und Hegel
voll würdigen und nach ihrer philosophischen Fruchtbarkeit werten lassen.

Es muß beklagt werden, daß ein so verdienstvolles Werk wie das vor¬
liegende wegen seines zufälligen Gegenstandes möglicherweise unter der Ungunst


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verstehen, heißt über ihn hinausgehen." Ein solches Hinausgehen dagegen über
seine „Nachfolger" führt an denselben Abgrund, in dem nach Hegels Tod die
deutsche Philosophie versank. Ein gründliches Studium dieser Zeit mit rein
historischer Blickrichtung, wie sie das genannte Buch darbietet, kann die Philosophie
der Zukunft vor einem ähnlichen Todesweg bewahren.

Belone Hegel zum philosophischen Verständnis des Lebens zu sehr die
Geisteswissenschaften, so kommen in dem der deutschen idealistischen Philosophie
parallel gehenden französischen Positivismus die Naturwissenschaften zu ihrem
Recht. Dessen Darstellung in einer neuen „Geschichte der französischen Philosophie
feit der Revolution" hat Max Schinz, Privatdozent an der Universität Zürich,
unternommen. Bis jetzt liegt nur der erste Band vor: „Die Anfänge des
französischen Positivismus. Erster Teil: Die Erkenntnislehre."
(Trübner, Straßburg 1914.) Er behandelt die Erkenntnislehren d'Alemberts, Tur-
gots und Condorcets historisch und kritisch. Wie Windelband will der Verfasser eine
Geschichte nicht der einzelnen Philosophen, sondern der jeweiligen Probleme geben.
In der Beurteilung der französischen und englischen Philosophie dagegen weicht
er von diesem Philosophiehistoriker wie von den herkömmlichen Anschauungen
ganz erheblich ab. Denn nichts geringeres ist sein Ziel als der Nachweis, daß
der französische Positivismus von d'Alembert bis Comte eine Geisteserscheinung
sei, die der kantischen Philosophie ebenbürtig geachtet werden dürfe. Aber
abgesehen von dieser etwas zu kühnen Behauptung und einer gewissen Ver-
kennung des Wesens der Philosophie Kants wird man dem Verfasser das Ver¬
dienst zugestehen müssen, die Geistesgeschichte der vorrevolutionären französischen
Philosophie durch Aufhellung der Zusammenhänge in ein klareres und zugleich
gerechteres Licht gesetzt zu haben, als sie sich sonst erfreuen darf. Mit den
abschätzigen Prädikaten „Popularphilosophen", „Enzyklopädisten" ist es nicht
getan. Hier haben wir die Anfänge der französischen positivistischen Philosophie.
Hier werden bereits Gedanken Kants vorweggenommen, und wenigstens von
Turgot glaubt der Verfasser wegen auffallender Übereinstimmungen mutmaßen
zu dürfen, daß unser größter Philosoph ihn gekannt habe.

In eingehenden Kapiteln wird der französische mit dem englischen
Positivismus verglichen. Sympathisch berührt mich die gerechte Würdigung des
auch heute noch zeitgemäßen Locke gegenüber dem gewiß genialen, aber auch
maßlos überschätzten Hume. Neues Licht fällt auch auf Berkeley. Seine An¬
sätze zu einer positiven Erkenntnistheorie wurden von Hume nicht beobachtet
und finden ihre Erfüllung erst in Kants „Analogien der Erfahrung". So will
Berkeley nicht nur von Hume, sondern auch von Kant aus rückwärts verstanden
werden. Ja Schinz' interessante Untersuchung weiß Keime seines Denkens zu
entdecken, die sich erst im Zusammenhang der Gedanken von Schelling und Hegel
voll würdigen und nach ihrer philosophischen Fruchtbarkeit werten lassen.

Es muß beklagt werden, daß ein so verdienstvolles Werk wie das vor¬
liegende wegen seines zufälligen Gegenstandes möglicherweise unter der Ungunst


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[0421] Philosophische Neuerscheinungen verstehen, heißt über ihn hinausgehen." Ein solches Hinausgehen dagegen über seine „Nachfolger" führt an denselben Abgrund, in dem nach Hegels Tod die deutsche Philosophie versank. Ein gründliches Studium dieser Zeit mit rein historischer Blickrichtung, wie sie das genannte Buch darbietet, kann die Philosophie der Zukunft vor einem ähnlichen Todesweg bewahren. Belone Hegel zum philosophischen Verständnis des Lebens zu sehr die Geisteswissenschaften, so kommen in dem der deutschen idealistischen Philosophie parallel gehenden französischen Positivismus die Naturwissenschaften zu ihrem Recht. Dessen Darstellung in einer neuen „Geschichte der französischen Philosophie feit der Revolution" hat Max Schinz, Privatdozent an der Universität Zürich, unternommen. Bis jetzt liegt nur der erste Band vor: „Die Anfänge des französischen Positivismus. Erster Teil: Die Erkenntnislehre." (Trübner, Straßburg 1914.) Er behandelt die Erkenntnislehren d'Alemberts, Tur- gots und Condorcets historisch und kritisch. Wie Windelband will der Verfasser eine Geschichte nicht der einzelnen Philosophen, sondern der jeweiligen Probleme geben. In der Beurteilung der französischen und englischen Philosophie dagegen weicht er von diesem Philosophiehistoriker wie von den herkömmlichen Anschauungen ganz erheblich ab. Denn nichts geringeres ist sein Ziel als der Nachweis, daß der französische Positivismus von d'Alembert bis Comte eine Geisteserscheinung sei, die der kantischen Philosophie ebenbürtig geachtet werden dürfe. Aber abgesehen von dieser etwas zu kühnen Behauptung und einer gewissen Ver- kennung des Wesens der Philosophie Kants wird man dem Verfasser das Ver¬ dienst zugestehen müssen, die Geistesgeschichte der vorrevolutionären französischen Philosophie durch Aufhellung der Zusammenhänge in ein klareres und zugleich gerechteres Licht gesetzt zu haben, als sie sich sonst erfreuen darf. Mit den abschätzigen Prädikaten „Popularphilosophen", „Enzyklopädisten" ist es nicht getan. Hier haben wir die Anfänge der französischen positivistischen Philosophie. Hier werden bereits Gedanken Kants vorweggenommen, und wenigstens von Turgot glaubt der Verfasser wegen auffallender Übereinstimmungen mutmaßen zu dürfen, daß unser größter Philosoph ihn gekannt habe. In eingehenden Kapiteln wird der französische mit dem englischen Positivismus verglichen. Sympathisch berührt mich die gerechte Würdigung des auch heute noch zeitgemäßen Locke gegenüber dem gewiß genialen, aber auch maßlos überschätzten Hume. Neues Licht fällt auch auf Berkeley. Seine An¬ sätze zu einer positiven Erkenntnistheorie wurden von Hume nicht beobachtet und finden ihre Erfüllung erst in Kants „Analogien der Erfahrung". So will Berkeley nicht nur von Hume, sondern auch von Kant aus rückwärts verstanden werden. Ja Schinz' interessante Untersuchung weiß Keime seines Denkens zu entdecken, die sich erst im Zusammenhang der Gedanken von Schelling und Hegel voll würdigen und nach ihrer philosophischen Fruchtbarkeit werten lassen. Es muß beklagt werden, daß ein so verdienstvolles Werk wie das vor¬ liegende wegen seines zufälligen Gegenstandes möglicherweise unter der Ungunst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/421>, abgerufen am 29.12.2024.