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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Philosophische Neuerscheinungen

tatsächlich bereits intellektuelle Bestandteile auf, die unlösbar mit der sinnlichen
Anschauung des "Gegenstandes" verschmolzen erscheinen, so daß die "Sinnlichkeit"
bereits nicht mehr rein "sinnlich" ist. Eine Umdeutung der Begriffe vollzieht
sich vor unseren Augen. Das Weltbild wird -- zum so und sovielten Male --
aus den Kopf gestellt: der fertige, vergeistigte Gegenstand ist unmittelbar gegeben,
die Empfindung dagegen eine gekünstelte Abstraktion. Ja, in der primitivsten
Sinnesempfindung ist ein logischer, geistiger Einschlag spürbar. So erhält der
Begriff des Erlebnisses durch Einbeziehung des logischen Momentes eine
unerhört neue Deutung. Entsprechend dem Vorgange auf dem Gebiet der
modernen Malerei, schlägt der konsequent durchgeführte Impressionismus in sein
Gegenteil, in den Expressionismus, um. Oder -- und darin vollendet sich die
Dialektik der neuesten Psychologie -- der logische Ausdruck des sinnlich "geschauten"
Gegenstandes ist zugleich dessen unmittelbarster Eindruck.

In diese von Husserl und Meinong eingeleitete Bewegung innerhalb der
Philosophie und Psychologie stellt sich das Buch von A. Brunswig: "Das
Grundproblem Kants. Eine kritische Untersuchung und Einführung
in die Kantphilosphie." (Teubner, 1914.) Leider hält der Untertitel nicht,
was er verspricht. Für die Einführung in das Kantstudium ist es nicht geeignet.
Denn nichts hat der an gehende Kantstudierende so nötig wie eine eindringende er¬
kenntnistheoretische Schulung, eine Überwindung des naiven Weltbildes und des
scholastischen Wahrheitsbegriffs. Gegen beides aber verhält der Verfasser sich
unkritisch. Nirgends ja scheinen sich die Extreme so stark zu berühren wie in
der Philosophie. Darum ist es hier doppelt geboten, die Grenzen der ver¬
schiedenen Systeme nicht ineinander fließen zu lassen. Während bei Husserls
epochemachenden "Logischen Untersuchungen" immerhin noch der Pulsschlag des
deutschen Idealismus von Kant bis zur Gegenwart deutlich zu spüren ist, der
den von Wundt gemachten Vorwurf des Scholästizismus ungerechtfertigt erscheinen
läßt, drohen viele seiner Anhänger ganz in den naiven Realismus der scholastischen
und der vorkantischen Metaphysik oder des gemeinen Lebens zurückzusinken,
während doch Husserls Position im Gegenteil eine Vorwärtsentwicklung über
Kant hinaus bedeuten will. Auch Brunswig beruft sich auf das instinktive oder
das bewußte Verfahren des naiven Praktikers in der Wissenschaft, sagen wir:
auf den gesunden Menschenverstand. Da tut es dringend not, daran zu
erinnern, daß Denken gelernt fein will und daß gerade nur eine Handvoll Denker
im Laufe eines Jahrhunderts es zur Meisterschaft darin bringen.

Wenn also auch nicht für den Laien, der sich erstmalig informieren will,
so ist das Buch doch für den Wissenschaftler voll nützlicher Anregungen. Das
"Urproblem" Kants: wie sind allgemeingültige, notwendige, apodiktisch gewisse
Urteile möglich? ist auch das des Verfassers. Vom Urteil wird das Problem
tiefer in das "Wissen" gelegt und das Ergebnis festgestellt: die unmittelbare
"Schauung" der arithmetischen, geometrischen, der Ton-, Farben- usw. Sach-
verhalte in ihrem spezifischen "Wesen" (nicht in ihrer zufälligen und ver-


Philosophische Neuerscheinungen

tatsächlich bereits intellektuelle Bestandteile auf, die unlösbar mit der sinnlichen
Anschauung des „Gegenstandes" verschmolzen erscheinen, so daß die „Sinnlichkeit"
bereits nicht mehr rein „sinnlich" ist. Eine Umdeutung der Begriffe vollzieht
sich vor unseren Augen. Das Weltbild wird — zum so und sovielten Male —
aus den Kopf gestellt: der fertige, vergeistigte Gegenstand ist unmittelbar gegeben,
die Empfindung dagegen eine gekünstelte Abstraktion. Ja, in der primitivsten
Sinnesempfindung ist ein logischer, geistiger Einschlag spürbar. So erhält der
Begriff des Erlebnisses durch Einbeziehung des logischen Momentes eine
unerhört neue Deutung. Entsprechend dem Vorgange auf dem Gebiet der
modernen Malerei, schlägt der konsequent durchgeführte Impressionismus in sein
Gegenteil, in den Expressionismus, um. Oder — und darin vollendet sich die
Dialektik der neuesten Psychologie — der logische Ausdruck des sinnlich „geschauten"
Gegenstandes ist zugleich dessen unmittelbarster Eindruck.

In diese von Husserl und Meinong eingeleitete Bewegung innerhalb der
Philosophie und Psychologie stellt sich das Buch von A. Brunswig: „Das
Grundproblem Kants. Eine kritische Untersuchung und Einführung
in die Kantphilosphie." (Teubner, 1914.) Leider hält der Untertitel nicht,
was er verspricht. Für die Einführung in das Kantstudium ist es nicht geeignet.
Denn nichts hat der an gehende Kantstudierende so nötig wie eine eindringende er¬
kenntnistheoretische Schulung, eine Überwindung des naiven Weltbildes und des
scholastischen Wahrheitsbegriffs. Gegen beides aber verhält der Verfasser sich
unkritisch. Nirgends ja scheinen sich die Extreme so stark zu berühren wie in
der Philosophie. Darum ist es hier doppelt geboten, die Grenzen der ver¬
schiedenen Systeme nicht ineinander fließen zu lassen. Während bei Husserls
epochemachenden „Logischen Untersuchungen" immerhin noch der Pulsschlag des
deutschen Idealismus von Kant bis zur Gegenwart deutlich zu spüren ist, der
den von Wundt gemachten Vorwurf des Scholästizismus ungerechtfertigt erscheinen
läßt, drohen viele seiner Anhänger ganz in den naiven Realismus der scholastischen
und der vorkantischen Metaphysik oder des gemeinen Lebens zurückzusinken,
während doch Husserls Position im Gegenteil eine Vorwärtsentwicklung über
Kant hinaus bedeuten will. Auch Brunswig beruft sich auf das instinktive oder
das bewußte Verfahren des naiven Praktikers in der Wissenschaft, sagen wir:
auf den gesunden Menschenverstand. Da tut es dringend not, daran zu
erinnern, daß Denken gelernt fein will und daß gerade nur eine Handvoll Denker
im Laufe eines Jahrhunderts es zur Meisterschaft darin bringen.

Wenn also auch nicht für den Laien, der sich erstmalig informieren will,
so ist das Buch doch für den Wissenschaftler voll nützlicher Anregungen. Das
„Urproblem" Kants: wie sind allgemeingültige, notwendige, apodiktisch gewisse
Urteile möglich? ist auch das des Verfassers. Vom Urteil wird das Problem
tiefer in das „Wissen" gelegt und das Ergebnis festgestellt: die unmittelbare
„Schauung" der arithmetischen, geometrischen, der Ton-, Farben- usw. Sach-
verhalte in ihrem spezifischen „Wesen" (nicht in ihrer zufälligen und ver-


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[0419] Philosophische Neuerscheinungen tatsächlich bereits intellektuelle Bestandteile auf, die unlösbar mit der sinnlichen Anschauung des „Gegenstandes" verschmolzen erscheinen, so daß die „Sinnlichkeit" bereits nicht mehr rein „sinnlich" ist. Eine Umdeutung der Begriffe vollzieht sich vor unseren Augen. Das Weltbild wird — zum so und sovielten Male — aus den Kopf gestellt: der fertige, vergeistigte Gegenstand ist unmittelbar gegeben, die Empfindung dagegen eine gekünstelte Abstraktion. Ja, in der primitivsten Sinnesempfindung ist ein logischer, geistiger Einschlag spürbar. So erhält der Begriff des Erlebnisses durch Einbeziehung des logischen Momentes eine unerhört neue Deutung. Entsprechend dem Vorgange auf dem Gebiet der modernen Malerei, schlägt der konsequent durchgeführte Impressionismus in sein Gegenteil, in den Expressionismus, um. Oder — und darin vollendet sich die Dialektik der neuesten Psychologie — der logische Ausdruck des sinnlich „geschauten" Gegenstandes ist zugleich dessen unmittelbarster Eindruck. In diese von Husserl und Meinong eingeleitete Bewegung innerhalb der Philosophie und Psychologie stellt sich das Buch von A. Brunswig: „Das Grundproblem Kants. Eine kritische Untersuchung und Einführung in die Kantphilosphie." (Teubner, 1914.) Leider hält der Untertitel nicht, was er verspricht. Für die Einführung in das Kantstudium ist es nicht geeignet. Denn nichts hat der an gehende Kantstudierende so nötig wie eine eindringende er¬ kenntnistheoretische Schulung, eine Überwindung des naiven Weltbildes und des scholastischen Wahrheitsbegriffs. Gegen beides aber verhält der Verfasser sich unkritisch. Nirgends ja scheinen sich die Extreme so stark zu berühren wie in der Philosophie. Darum ist es hier doppelt geboten, die Grenzen der ver¬ schiedenen Systeme nicht ineinander fließen zu lassen. Während bei Husserls epochemachenden „Logischen Untersuchungen" immerhin noch der Pulsschlag des deutschen Idealismus von Kant bis zur Gegenwart deutlich zu spüren ist, der den von Wundt gemachten Vorwurf des Scholästizismus ungerechtfertigt erscheinen läßt, drohen viele seiner Anhänger ganz in den naiven Realismus der scholastischen und der vorkantischen Metaphysik oder des gemeinen Lebens zurückzusinken, während doch Husserls Position im Gegenteil eine Vorwärtsentwicklung über Kant hinaus bedeuten will. Auch Brunswig beruft sich auf das instinktive oder das bewußte Verfahren des naiven Praktikers in der Wissenschaft, sagen wir: auf den gesunden Menschenverstand. Da tut es dringend not, daran zu erinnern, daß Denken gelernt fein will und daß gerade nur eine Handvoll Denker im Laufe eines Jahrhunderts es zur Meisterschaft darin bringen. Wenn also auch nicht für den Laien, der sich erstmalig informieren will, so ist das Buch doch für den Wissenschaftler voll nützlicher Anregungen. Das „Urproblem" Kants: wie sind allgemeingültige, notwendige, apodiktisch gewisse Urteile möglich? ist auch das des Verfassers. Vom Urteil wird das Problem tiefer in das „Wissen" gelegt und das Ergebnis festgestellt: die unmittelbare „Schauung" der arithmetischen, geometrischen, der Ton-, Farben- usw. Sach- verhalte in ihrem spezifischen „Wesen" (nicht in ihrer zufälligen und ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/419>, abgerufen am 22.07.2024.