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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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philosophische Neuerscheinungen

sonderer Teil für die Psychologie, Biologie, Soziologie, Geschichte, Metaphysik
an der Hand eines reichen Materials dargetan.

Die ungemein. instruktive und informierende Eigenschaft des Buches, die
es für jeden Gebildeten besitzenswert erscheinen läßt, hat freilich den Nachteil
im Gefolge, daß mit der Breite und Universalität des Stoffes die Vertiefung
nicht Schritt hält. Trotz wertvoller Ansätze ist die logische Herausarbeitung und
saubere Unterscheidung wenigstens der wichtigsten Bedeutungen des Zweckbegriffs
nur mäßig gelungen. Zumal seit Husserls monumentalen "Logischen Unter¬
suchungen" sind wir an wesentlich exaktere Klärungen philosophischer Begriffe
gewöhnt. Gegenüber den vulgären Begriffen von "Zweck", "Zufall", "Welt¬
plan" usw., die auch der akademisch Gebildete an das Problem heranbringt,
wäre wohl eine eingehende Klarlegung dieser verwickelten Begriffe gerade nach
ihrer rein logischen Seite hin am Platze. Das Sprechen von einer teleologischen
"Methode" muß irreführen, wo es sich um die Zielstrebigkeit als bloßen Gegen¬
stand der Wissenschaft handelt, wie bei den Zielstrebigkeiten der Lebewesen. Der
Gegenstand, nicht die Wissenschaft, ist hier ideologisch. Ein zwecksetzendes
Bewußtein als ein Glied innerhalb der Kausalkette schafft noch keine Teleologie
als Methode, die mit der Methode der kausalen Betrachtung auf gleicher Stufe
stünde. Die konstitutive (nicht bloß regulative) Teleologie oder Zweckmäßigkeit
hat überhaupt keine legitime methodische ("transzendentale") Bedeutung, sondern
ist ein Phänomen der Einzelpsyche, ein bloßes Erfahrungsobjekt der Wissenschaft.
Die ganze Fragestellung, nach dem "Zweck" des einzelnen wie des universalen
Geschehens ist ja unmittelbar dem Leben entnommen und so naiv und unkritisch
wie nur möglich. Die Vorstellung des "Strebens" ist zunächst nichts als ein
Erlebnis, Bewußtseinsinhalt der Einzelpsyche. Wodurch aber -- das ist die
dringliche Frage -- erhält diese sozusagen ungewaschene und ungekämmte Vor¬
stellung die Legitimation als methodischer, wissenschaftlicher Begriff? Auch die
im Zuge einer neuerwachten Romantik und demokratischer Tendenzen der Zeit
liegende Anwendung des Begriffes "Geist", wo es sich um allerelementarste
seelische Regungen handelt, ist ein popularphilosophischer Mißbrauch. Was kann
es Kümmerlicheres, Roheres geben, als das dumpfe Hindämmern tierischen
Bewußtseins? Im übrigen gibt das verdienstvolle Buch Information und Ra
und ist für den geisteswissenschaftlich Schaffenden unentbehrlich.

Das besondere Verhältnis der modernen Philosophie zum "Leben" äußert
sich bei Wundt und seinen Anhängern in der liebevollen Zuwendung zum Willen
und allen Strebungserscheinungen, es führt neuerdings in gerade entgegen¬
gesetzter Richtung zu einer Betonung der intellektuellen Elemente bei anderen
Philosophen. Die Psychologie unserer Tage sieht in den Denkfunktionen eine
Äußerung bereits des gewöhnlichen Vorstellungslebens von Mensch und Tier,
die keineswegs auf die höchsten Leistungen der menschlichen Intelligenz beschränkt
bleibt. Es gehört auch diese Ansicht zu dem demokratischen Zuge unserer Zeit.
Alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, ja bloßen Empfindungen weisen demnach


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sonderer Teil für die Psychologie, Biologie, Soziologie, Geschichte, Metaphysik
an der Hand eines reichen Materials dargetan.

Die ungemein. instruktive und informierende Eigenschaft des Buches, die
es für jeden Gebildeten besitzenswert erscheinen läßt, hat freilich den Nachteil
im Gefolge, daß mit der Breite und Universalität des Stoffes die Vertiefung
nicht Schritt hält. Trotz wertvoller Ansätze ist die logische Herausarbeitung und
saubere Unterscheidung wenigstens der wichtigsten Bedeutungen des Zweckbegriffs
nur mäßig gelungen. Zumal seit Husserls monumentalen „Logischen Unter¬
suchungen" sind wir an wesentlich exaktere Klärungen philosophischer Begriffe
gewöhnt. Gegenüber den vulgären Begriffen von „Zweck", „Zufall", „Welt¬
plan" usw., die auch der akademisch Gebildete an das Problem heranbringt,
wäre wohl eine eingehende Klarlegung dieser verwickelten Begriffe gerade nach
ihrer rein logischen Seite hin am Platze. Das Sprechen von einer teleologischen
„Methode" muß irreführen, wo es sich um die Zielstrebigkeit als bloßen Gegen¬
stand der Wissenschaft handelt, wie bei den Zielstrebigkeiten der Lebewesen. Der
Gegenstand, nicht die Wissenschaft, ist hier ideologisch. Ein zwecksetzendes
Bewußtein als ein Glied innerhalb der Kausalkette schafft noch keine Teleologie
als Methode, die mit der Methode der kausalen Betrachtung auf gleicher Stufe
stünde. Die konstitutive (nicht bloß regulative) Teleologie oder Zweckmäßigkeit
hat überhaupt keine legitime methodische („transzendentale") Bedeutung, sondern
ist ein Phänomen der Einzelpsyche, ein bloßes Erfahrungsobjekt der Wissenschaft.
Die ganze Fragestellung, nach dem „Zweck" des einzelnen wie des universalen
Geschehens ist ja unmittelbar dem Leben entnommen und so naiv und unkritisch
wie nur möglich. Die Vorstellung des „Strebens" ist zunächst nichts als ein
Erlebnis, Bewußtseinsinhalt der Einzelpsyche. Wodurch aber — das ist die
dringliche Frage — erhält diese sozusagen ungewaschene und ungekämmte Vor¬
stellung die Legitimation als methodischer, wissenschaftlicher Begriff? Auch die
im Zuge einer neuerwachten Romantik und demokratischer Tendenzen der Zeit
liegende Anwendung des Begriffes „Geist", wo es sich um allerelementarste
seelische Regungen handelt, ist ein popularphilosophischer Mißbrauch. Was kann
es Kümmerlicheres, Roheres geben, als das dumpfe Hindämmern tierischen
Bewußtseins? Im übrigen gibt das verdienstvolle Buch Information und Ra
und ist für den geisteswissenschaftlich Schaffenden unentbehrlich.

Das besondere Verhältnis der modernen Philosophie zum „Leben" äußert
sich bei Wundt und seinen Anhängern in der liebevollen Zuwendung zum Willen
und allen Strebungserscheinungen, es führt neuerdings in gerade entgegen¬
gesetzter Richtung zu einer Betonung der intellektuellen Elemente bei anderen
Philosophen. Die Psychologie unserer Tage sieht in den Denkfunktionen eine
Äußerung bereits des gewöhnlichen Vorstellungslebens von Mensch und Tier,
die keineswegs auf die höchsten Leistungen der menschlichen Intelligenz beschränkt
bleibt. Es gehört auch diese Ansicht zu dem demokratischen Zuge unserer Zeit.
Alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, ja bloßen Empfindungen weisen demnach


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[0418] philosophische Neuerscheinungen sonderer Teil für die Psychologie, Biologie, Soziologie, Geschichte, Metaphysik an der Hand eines reichen Materials dargetan. Die ungemein. instruktive und informierende Eigenschaft des Buches, die es für jeden Gebildeten besitzenswert erscheinen läßt, hat freilich den Nachteil im Gefolge, daß mit der Breite und Universalität des Stoffes die Vertiefung nicht Schritt hält. Trotz wertvoller Ansätze ist die logische Herausarbeitung und saubere Unterscheidung wenigstens der wichtigsten Bedeutungen des Zweckbegriffs nur mäßig gelungen. Zumal seit Husserls monumentalen „Logischen Unter¬ suchungen" sind wir an wesentlich exaktere Klärungen philosophischer Begriffe gewöhnt. Gegenüber den vulgären Begriffen von „Zweck", „Zufall", „Welt¬ plan" usw., die auch der akademisch Gebildete an das Problem heranbringt, wäre wohl eine eingehende Klarlegung dieser verwickelten Begriffe gerade nach ihrer rein logischen Seite hin am Platze. Das Sprechen von einer teleologischen „Methode" muß irreführen, wo es sich um die Zielstrebigkeit als bloßen Gegen¬ stand der Wissenschaft handelt, wie bei den Zielstrebigkeiten der Lebewesen. Der Gegenstand, nicht die Wissenschaft, ist hier ideologisch. Ein zwecksetzendes Bewußtein als ein Glied innerhalb der Kausalkette schafft noch keine Teleologie als Methode, die mit der Methode der kausalen Betrachtung auf gleicher Stufe stünde. Die konstitutive (nicht bloß regulative) Teleologie oder Zweckmäßigkeit hat überhaupt keine legitime methodische („transzendentale") Bedeutung, sondern ist ein Phänomen der Einzelpsyche, ein bloßes Erfahrungsobjekt der Wissenschaft. Die ganze Fragestellung, nach dem „Zweck" des einzelnen wie des universalen Geschehens ist ja unmittelbar dem Leben entnommen und so naiv und unkritisch wie nur möglich. Die Vorstellung des „Strebens" ist zunächst nichts als ein Erlebnis, Bewußtseinsinhalt der Einzelpsyche. Wodurch aber — das ist die dringliche Frage — erhält diese sozusagen ungewaschene und ungekämmte Vor¬ stellung die Legitimation als methodischer, wissenschaftlicher Begriff? Auch die im Zuge einer neuerwachten Romantik und demokratischer Tendenzen der Zeit liegende Anwendung des Begriffes „Geist", wo es sich um allerelementarste seelische Regungen handelt, ist ein popularphilosophischer Mißbrauch. Was kann es Kümmerlicheres, Roheres geben, als das dumpfe Hindämmern tierischen Bewußtseins? Im übrigen gibt das verdienstvolle Buch Information und Ra und ist für den geisteswissenschaftlich Schaffenden unentbehrlich. Das besondere Verhältnis der modernen Philosophie zum „Leben" äußert sich bei Wundt und seinen Anhängern in der liebevollen Zuwendung zum Willen und allen Strebungserscheinungen, es führt neuerdings in gerade entgegen¬ gesetzter Richtung zu einer Betonung der intellektuellen Elemente bei anderen Philosophen. Die Psychologie unserer Tage sieht in den Denkfunktionen eine Äußerung bereits des gewöhnlichen Vorstellungslebens von Mensch und Tier, die keineswegs auf die höchsten Leistungen der menschlichen Intelligenz beschränkt bleibt. Es gehört auch diese Ansicht zu dem demokratischen Zuge unserer Zeit. Alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, ja bloßen Empfindungen weisen demnach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/418>, abgerufen am 22.07.2024.