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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Bulgarien nach fünfzig Jahren
Lin lveihnachtsdialog nach einem wirklichen Lrlebnis erzählt
Lisbeth Friedrichs von

er vierundzwanzigste Dezember des Jahres 1903 hatte die
Gardaseeriviera mit dem strahlendsten Sonnenschein und mit
fast sommerlicher Wärme beschenkt. Vorn an den Seeufern des
Kurortes für Erholungsbedürftige gab es kein schattiges Plätzchen,
und niemand kam in Gefahr, seinem Nächsten den Platz an der
Sonne zu meiden. Auf dem weiten Markt, der sich oans dem blauen See hin
öffnete, hatte sich rings um die uralte Nömersäule ein Musikchor aufgestellt und
spielte mit verschwenderischen Wohlklang deutsche Weihnachtslieder. Deutsche
Weihnachtslieder auf offenem Markte unter Palmen und Agaven, während ein
Gewoge von hellen Sonnenschirmen über blütengeschmückten Fmuenhüten sich
auf und ab bewegte, und im leichten Sommerrock der Engländer, der Franzose,
der Russe, der Balkanbewohner und Amerikaner die schwache Lunge in der
balsamischen Luft stärkte oder das angegriffene Nervensystem von der Lichtflut
umschmeicheln ließ. "Deutsche Weihnachtslieder!" sagte ein junges Mädchen
halb für sich, halb für ihre Begleiter und schaute mit einem Anflug von Sehn¬
sucht im Auge nach Norden, über die blaue Wasserfläche nach Norden. Der
Mann an ihrer linken Seite lächelte verständnisvoll für sich und erwiderte
nach kurzem Nachdenken:

"Aber Sie haben nicht genug an den deutschen Weihnachtsliedern, Fräu¬
lein Gretchen, Sie wollen auch ein graues Himmelszelt und das Licht von
unten, von der weißbeschneiten Straße, ists nicht so?"

"Sagen wir lieber das Licht von innen. Herr Doktor, das um diese Zeit
so beseligend in unsere dunklen Wintertage hineinstrahlt . . . ." "Dazu kann
auch hier Rat werden, Grete, wirsts schon machen. Haben wir doch drei
deutsche Frauen in unserem alten Palazzo. und wo nur eine von euch ist,
dahin findet das Christkind seinen Weg!" Der alte Herr, der herzutretend
diese Worte sprach, legte die Hand des jungen Mädchens auf seinen Arm, sie
liebkosend streichelnd. "Aber", fuhr er fort, "noch ein Gedanke kam mir beim
Anhören der heimatlichen Weisen. Warum eben deutsche Weihnachtslieder,
warum nicht italienische, oder englische, oder französische oder -- oder




Bulgarien nach fünfzig Jahren
Lin lveihnachtsdialog nach einem wirklichen Lrlebnis erzählt
Lisbeth Friedrichs von

er vierundzwanzigste Dezember des Jahres 1903 hatte die
Gardaseeriviera mit dem strahlendsten Sonnenschein und mit
fast sommerlicher Wärme beschenkt. Vorn an den Seeufern des
Kurortes für Erholungsbedürftige gab es kein schattiges Plätzchen,
und niemand kam in Gefahr, seinem Nächsten den Platz an der
Sonne zu meiden. Auf dem weiten Markt, der sich oans dem blauen See hin
öffnete, hatte sich rings um die uralte Nömersäule ein Musikchor aufgestellt und
spielte mit verschwenderischen Wohlklang deutsche Weihnachtslieder. Deutsche
Weihnachtslieder auf offenem Markte unter Palmen und Agaven, während ein
Gewoge von hellen Sonnenschirmen über blütengeschmückten Fmuenhüten sich
auf und ab bewegte, und im leichten Sommerrock der Engländer, der Franzose,
der Russe, der Balkanbewohner und Amerikaner die schwache Lunge in der
balsamischen Luft stärkte oder das angegriffene Nervensystem von der Lichtflut
umschmeicheln ließ. „Deutsche Weihnachtslieder!" sagte ein junges Mädchen
halb für sich, halb für ihre Begleiter und schaute mit einem Anflug von Sehn¬
sucht im Auge nach Norden, über die blaue Wasserfläche nach Norden. Der
Mann an ihrer linken Seite lächelte verständnisvoll für sich und erwiderte
nach kurzem Nachdenken:

„Aber Sie haben nicht genug an den deutschen Weihnachtsliedern, Fräu¬
lein Gretchen, Sie wollen auch ein graues Himmelszelt und das Licht von
unten, von der weißbeschneiten Straße, ists nicht so?"

„Sagen wir lieber das Licht von innen. Herr Doktor, das um diese Zeit
so beseligend in unsere dunklen Wintertage hineinstrahlt . . . ." „Dazu kann
auch hier Rat werden, Grete, wirsts schon machen. Haben wir doch drei
deutsche Frauen in unserem alten Palazzo. und wo nur eine von euch ist,
dahin findet das Christkind seinen Weg!" Der alte Herr, der herzutretend
diese Worte sprach, legte die Hand des jungen Mädchens auf seinen Arm, sie
liebkosend streichelnd. „Aber", fuhr er fort, „noch ein Gedanke kam mir beim
Anhören der heimatlichen Weisen. Warum eben deutsche Weihnachtslieder,
warum nicht italienische, oder englische, oder französische oder — oder


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[0381] [Abbildung] Bulgarien nach fünfzig Jahren Lin lveihnachtsdialog nach einem wirklichen Lrlebnis erzählt Lisbeth Friedrichs von er vierundzwanzigste Dezember des Jahres 1903 hatte die Gardaseeriviera mit dem strahlendsten Sonnenschein und mit fast sommerlicher Wärme beschenkt. Vorn an den Seeufern des Kurortes für Erholungsbedürftige gab es kein schattiges Plätzchen, und niemand kam in Gefahr, seinem Nächsten den Platz an der Sonne zu meiden. Auf dem weiten Markt, der sich oans dem blauen See hin öffnete, hatte sich rings um die uralte Nömersäule ein Musikchor aufgestellt und spielte mit verschwenderischen Wohlklang deutsche Weihnachtslieder. Deutsche Weihnachtslieder auf offenem Markte unter Palmen und Agaven, während ein Gewoge von hellen Sonnenschirmen über blütengeschmückten Fmuenhüten sich auf und ab bewegte, und im leichten Sommerrock der Engländer, der Franzose, der Russe, der Balkanbewohner und Amerikaner die schwache Lunge in der balsamischen Luft stärkte oder das angegriffene Nervensystem von der Lichtflut umschmeicheln ließ. „Deutsche Weihnachtslieder!" sagte ein junges Mädchen halb für sich, halb für ihre Begleiter und schaute mit einem Anflug von Sehn¬ sucht im Auge nach Norden, über die blaue Wasserfläche nach Norden. Der Mann an ihrer linken Seite lächelte verständnisvoll für sich und erwiderte nach kurzem Nachdenken: „Aber Sie haben nicht genug an den deutschen Weihnachtsliedern, Fräu¬ lein Gretchen, Sie wollen auch ein graues Himmelszelt und das Licht von unten, von der weißbeschneiten Straße, ists nicht so?" „Sagen wir lieber das Licht von innen. Herr Doktor, das um diese Zeit so beseligend in unsere dunklen Wintertage hineinstrahlt . . . ." „Dazu kann auch hier Rat werden, Grete, wirsts schon machen. Haben wir doch drei deutsche Frauen in unserem alten Palazzo. und wo nur eine von euch ist, dahin findet das Christkind seinen Weg!" Der alte Herr, der herzutretend diese Worte sprach, legte die Hand des jungen Mädchens auf seinen Arm, sie liebkosend streichelnd. „Aber", fuhr er fort, „noch ein Gedanke kam mir beim Anhören der heimatlichen Weisen. Warum eben deutsche Weihnachtslieder, warum nicht italienische, oder englische, oder französische oder — oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/381>, abgerufen am 22.07.2024.