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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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'naht nur zur Verbreitung der Wissenschaften in der Gesellschaft, sondern auch
Zur Pflege der Wissenschaft in ihrer eigenen Mitte. Das Ergebnis war.
daß die Wissenschaften in die Gesellschaft auf anderm Wege eindrangen, als
durch die Schule. Zum ersten Male, im sechzehnten Jahrhundert, waren daS
Wissenschaften, die von der Kirche gebilligt und aus einwandfreier byzantinischer
Quelle geschöpft waren. Mit solchen Wissenschaften, die im sechsten bis zehnten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufgekommen waren, konnte sich aber die
Gesellschaft nicht zufrieden geben, und noch in demselben sechzehnten Jahrhundert
begannen daher Bruchstücke der mittelalterlichen Wissenschaft des elften bis drei¬
zehnten Jahrhunderts nach Rußland zu dringen. Nach einem vergebltchen und ohn-
wächtigen Widerstand fügten sich die Vertreter der Kirche selbst ein wenig dem
Einfluß dieser Wissenschaft; die gelehrtesten von ihnen machten sich daran. Sorge
SU tragen, daß auch in Nußland die Schule nach mittelalterlichen Muster ein-
gerichtet werde. Wir kennen das Ergebnis dieser Bemühungen: den Kampf der
Moskaner Majorität dagegen, daß in die Schule ..die freien Künste" einbezogen
würden, und auch ihren Kampf gegen die Lehrer, obgleich diese durch die
doppelte Zensur des griechischen Patriarchen und der Moskaner Schulbehörde
gegangen waren Indem sie nur kritisierte und ihrerseits nichts Positives gab.
erwartete die herrschende Partei die Zeit, da die Schule dem Staate notwendig
werden würde. Als der Staat zur Einrichtung feiner Schule schritt, begegnete
ihm kein Konkurrent in Gestalt der Kirche; im Gegenteil, erst auf sein Drängen
führte die kirchliche Verwaltung die ersten geistlichen Schulen ein -- und in
der ersten Zeit war die staatliche Gewalt bereit, die weltlichen Schulen der
geistlichen Behörde zu übergeben. Die Kirche betrachtete aber ganz ebenso
wie die Gesellschaft die Schule als staatliche Zwangsanstalt. Unter dreien
Bedingungen ward die russische Schule gleich vom Beginn ihres Bestehens an
w doppelter Hinsicht eine Regierungsanstalt: ihrem Ursprung und MerBe.
Stimmung nach. Die russische Schule bereitete entweder für eine andere Schule
oder für den Staatsdienst vor. Die Adligen wurden bis zu ihrer Befreiung
vom obligatorischen Staatsdienst (in der zweiten Hälfte des achtzenten Jahr-
Hunderts), die Geistlichen und die Bauern bis zur Emanzipation (1861) mu
Gewalt zum Schulbesuch herangezogen. Für ihre eigenen Zwecke zogen es
beide Stände vor. die Dienste von Privatlehrern in Anspruch zu nehmen und
ihre Kinder in eine Privatschule zu schicken. Die Regierung trat nun w den
Kampf mit dieser, unterwarf sie ihrer Reglementation und zwang endlich die
Gesellschaft um Dienstvorteile willen die staatliche Schule der privaten vor-
""ziehen. Auf diese Weise ward die gesellschaftliche Bildung völlig in der
Hand der Regierung vereinigt. Die Ergebnisse des Schulunterrichts entsprachen
indes nicht völlig den Absichten der Staatsgewalt. Auf jeden Fall brauchte
der Staat nicht mit dem Klerikalismus zu kämpfen. Er fand Mi Gegeiitell
durchaus mit Grund, daß der erzieherische Einfluß der Kirche einen allzuschwachen
Anteil hat an unserer gesellschaftlichen Erziehung. Zum großen Staunen der


'naht nur zur Verbreitung der Wissenschaften in der Gesellschaft, sondern auch
Zur Pflege der Wissenschaft in ihrer eigenen Mitte. Das Ergebnis war.
daß die Wissenschaften in die Gesellschaft auf anderm Wege eindrangen, als
durch die Schule. Zum ersten Male, im sechzehnten Jahrhundert, waren daS
Wissenschaften, die von der Kirche gebilligt und aus einwandfreier byzantinischer
Quelle geschöpft waren. Mit solchen Wissenschaften, die im sechsten bis zehnten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufgekommen waren, konnte sich aber die
Gesellschaft nicht zufrieden geben, und noch in demselben sechzehnten Jahrhundert
begannen daher Bruchstücke der mittelalterlichen Wissenschaft des elften bis drei¬
zehnten Jahrhunderts nach Rußland zu dringen. Nach einem vergebltchen und ohn-
wächtigen Widerstand fügten sich die Vertreter der Kirche selbst ein wenig dem
Einfluß dieser Wissenschaft; die gelehrtesten von ihnen machten sich daran. Sorge
SU tragen, daß auch in Nußland die Schule nach mittelalterlichen Muster ein-
gerichtet werde. Wir kennen das Ergebnis dieser Bemühungen: den Kampf der
Moskaner Majorität dagegen, daß in die Schule ..die freien Künste" einbezogen
würden, und auch ihren Kampf gegen die Lehrer, obgleich diese durch die
doppelte Zensur des griechischen Patriarchen und der Moskaner Schulbehörde
gegangen waren Indem sie nur kritisierte und ihrerseits nichts Positives gab.
erwartete die herrschende Partei die Zeit, da die Schule dem Staate notwendig
werden würde. Als der Staat zur Einrichtung feiner Schule schritt, begegnete
ihm kein Konkurrent in Gestalt der Kirche; im Gegenteil, erst auf sein Drängen
führte die kirchliche Verwaltung die ersten geistlichen Schulen ein -- und in
der ersten Zeit war die staatliche Gewalt bereit, die weltlichen Schulen der
geistlichen Behörde zu übergeben. Die Kirche betrachtete aber ganz ebenso
wie die Gesellschaft die Schule als staatliche Zwangsanstalt. Unter dreien
Bedingungen ward die russische Schule gleich vom Beginn ihres Bestehens an
w doppelter Hinsicht eine Regierungsanstalt: ihrem Ursprung und MerBe.
Stimmung nach. Die russische Schule bereitete entweder für eine andere Schule
oder für den Staatsdienst vor. Die Adligen wurden bis zu ihrer Befreiung
vom obligatorischen Staatsdienst (in der zweiten Hälfte des achtzenten Jahr-
Hunderts), die Geistlichen und die Bauern bis zur Emanzipation (1861) mu
Gewalt zum Schulbesuch herangezogen. Für ihre eigenen Zwecke zogen es
beide Stände vor. die Dienste von Privatlehrern in Anspruch zu nehmen und
ihre Kinder in eine Privatschule zu schicken. Die Regierung trat nun w den
Kampf mit dieser, unterwarf sie ihrer Reglementation und zwang endlich die
Gesellschaft um Dienstvorteile willen die staatliche Schule der privaten vor-
»»ziehen. Auf diese Weise ward die gesellschaftliche Bildung völlig in der
Hand der Regierung vereinigt. Die Ergebnisse des Schulunterrichts entsprachen
indes nicht völlig den Absichten der Staatsgewalt. Auf jeden Fall brauchte
der Staat nicht mit dem Klerikalismus zu kämpfen. Er fand Mi Gegeiitell
durchaus mit Grund, daß der erzieherische Einfluß der Kirche einen allzuschwachen
Anteil hat an unserer gesellschaftlichen Erziehung. Zum großen Staunen der


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[0379] 'naht nur zur Verbreitung der Wissenschaften in der Gesellschaft, sondern auch Zur Pflege der Wissenschaft in ihrer eigenen Mitte. Das Ergebnis war. daß die Wissenschaften in die Gesellschaft auf anderm Wege eindrangen, als durch die Schule. Zum ersten Male, im sechzehnten Jahrhundert, waren daS Wissenschaften, die von der Kirche gebilligt und aus einwandfreier byzantinischer Quelle geschöpft waren. Mit solchen Wissenschaften, die im sechsten bis zehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufgekommen waren, konnte sich aber die Gesellschaft nicht zufrieden geben, und noch in demselben sechzehnten Jahrhundert begannen daher Bruchstücke der mittelalterlichen Wissenschaft des elften bis drei¬ zehnten Jahrhunderts nach Rußland zu dringen. Nach einem vergebltchen und ohn- wächtigen Widerstand fügten sich die Vertreter der Kirche selbst ein wenig dem Einfluß dieser Wissenschaft; die gelehrtesten von ihnen machten sich daran. Sorge SU tragen, daß auch in Nußland die Schule nach mittelalterlichen Muster ein- gerichtet werde. Wir kennen das Ergebnis dieser Bemühungen: den Kampf der Moskaner Majorität dagegen, daß in die Schule ..die freien Künste" einbezogen würden, und auch ihren Kampf gegen die Lehrer, obgleich diese durch die doppelte Zensur des griechischen Patriarchen und der Moskaner Schulbehörde gegangen waren Indem sie nur kritisierte und ihrerseits nichts Positives gab. erwartete die herrschende Partei die Zeit, da die Schule dem Staate notwendig werden würde. Als der Staat zur Einrichtung feiner Schule schritt, begegnete ihm kein Konkurrent in Gestalt der Kirche; im Gegenteil, erst auf sein Drängen führte die kirchliche Verwaltung die ersten geistlichen Schulen ein -- und in der ersten Zeit war die staatliche Gewalt bereit, die weltlichen Schulen der geistlichen Behörde zu übergeben. Die Kirche betrachtete aber ganz ebenso wie die Gesellschaft die Schule als staatliche Zwangsanstalt. Unter dreien Bedingungen ward die russische Schule gleich vom Beginn ihres Bestehens an w doppelter Hinsicht eine Regierungsanstalt: ihrem Ursprung und MerBe. Stimmung nach. Die russische Schule bereitete entweder für eine andere Schule oder für den Staatsdienst vor. Die Adligen wurden bis zu ihrer Befreiung vom obligatorischen Staatsdienst (in der zweiten Hälfte des achtzenten Jahr- Hunderts), die Geistlichen und die Bauern bis zur Emanzipation (1861) mu Gewalt zum Schulbesuch herangezogen. Für ihre eigenen Zwecke zogen es beide Stände vor. die Dienste von Privatlehrern in Anspruch zu nehmen und ihre Kinder in eine Privatschule zu schicken. Die Regierung trat nun w den Kampf mit dieser, unterwarf sie ihrer Reglementation und zwang endlich die Gesellschaft um Dienstvorteile willen die staatliche Schule der privaten vor- »»ziehen. Auf diese Weise ward die gesellschaftliche Bildung völlig in der Hand der Regierung vereinigt. Die Ergebnisse des Schulunterrichts entsprachen indes nicht völlig den Absichten der Staatsgewalt. Auf jeden Fall brauchte der Staat nicht mit dem Klerikalismus zu kämpfen. Er fand Mi Gegeiitell durchaus mit Grund, daß der erzieherische Einfluß der Kirche einen allzuschwachen Anteil hat an unserer gesellschaftlichen Erziehung. Zum großen Staunen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/379>, abgerufen am 22.07.2024.