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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Der Einfluß der Rirche auf Runst und Schule in Rußland

durch die Kirche; die selbständige Entwickelung der nationalen Schöpfung wie
auch des nationalen Glaubens wurde schon im Keime unterdrückt. Auf diese
Weise wirkte die Kirche nicht nur nicht aufmunternd auf die schöpferische Tätig¬
keit auf religiösem Gebiete, sie verhielt sich vielmehr im Gegenteil argwöhnisch
zu deren ersten Früchten, gleich als ob es sich hier um etwas handle, was
die Reinheit ihrer Lehre bedrohe. Die weitere Entwicklung der schöpferi¬
schen Tätigkeit auf religiöser Grundlage hörte daraufhin auf. und vollzog
sich nur noch auf dem Wege des Schmuggels -- hauptsächlich unter den
oppositionellen, wenig intelligenten Strömungen des religiösen Volkgedankens.
Die christliche Dichtung verwandelte sich in den Reim der Sektierer und blieb
dabei; in der Architektur und in der Heiligenbildmalerei wurden der Phantasie
des Künstlers die allerengsten Schranken gesetzt, und im besten Falle mutzte sie
sich auf einen Kompromiß beschränken zwischen den neuen Strömungen und
den Überlieferungen des Altertums -- und zwar des griechischen, nicht aber
des russischen. Die Kunst verlor ihr Publikum, wie die Kirche -- ihre Herde;
sie fuhr fort nur für die streng-bedingten Bedürfnisse des Komforts, wie jene für
die streng-bedingten Bedürfnisse der Schule zu arbeiten. Die Besonderheiten
des russischen Lebens und Gedankens fanden weder in diesem noch in jenem
Fall weitere Möglichkeit, sich zu offenbaren. Es ist demnach nur natürlich, daß,
als nach einem langen Zeitraum eine selbständige russische Kunst aufs
neue erstand, sie sich (mit Ausnahme der Architektur) auf keinerlei geschichtliche
Überlieferung stützen konnte; entschlossen schritt sie den neuen Forderungen
der russischen Intelligenz entgegen, und indem sie ihren Entwickelungsgang
von neuem begann, setzte sie das Ausland in Staunen durch die barbarische
Kraft und Frische ihres Ausdrucks.

Endlich steht von der Geschichte des russischen Glaubens in allerengster
Abhängigkeit -- wenn auch in einer rein negativen -- die Geschichte der
russischen Schule. Als sich die Kirche des Westens an die christliche Erziehung
der Gesellschaft machte, hatte sie zu allererst hierfür die Schule benützt, als das
allerstärkste Mittel zur gesellschaftlichen Bildung. Viele Jahrhunderte hindurch
befand sich die westeuropäische Schule ausschließlich in den Händen der Geist¬
lichkeit, und als endlich der Staat in die Zahl seiner Aufgaben auch die Volks¬
bildung einschloß, fand er diesen Wirkungskreis schon besetzt. Obgleich er nun
alle seine Kräfte auf den Kampf mit der klerikalen Schule verwandte, hat er
bis jetzt das Ziel noch nicht völlig erreicht, das er sich damals gesetzt hatte. Die
Abhängigkeit der Schule vom Staate hatte zur Folge, daß der Staat die
Unabhängigkeit der Schule schätzen lernte. Nachdem diese Beziehung einmal
aufgekommen war, überlebte sie die Periode der Herrschaft der Kirche über
die Schule: die Achtung vor der Selbständigkeit der Kirche verwandelte sich in
Achtung vor der Selbständigkeit der Wissenschaft.

Bei uns erwies sich bekanntlich die Kirche in der Periode ihrer Vor¬
herrschaft im geistigen Leben des Landes außerstande, die Schule zu organisieren.


Der Einfluß der Rirche auf Runst und Schule in Rußland

durch die Kirche; die selbständige Entwickelung der nationalen Schöpfung wie
auch des nationalen Glaubens wurde schon im Keime unterdrückt. Auf diese
Weise wirkte die Kirche nicht nur nicht aufmunternd auf die schöpferische Tätig¬
keit auf religiösem Gebiete, sie verhielt sich vielmehr im Gegenteil argwöhnisch
zu deren ersten Früchten, gleich als ob es sich hier um etwas handle, was
die Reinheit ihrer Lehre bedrohe. Die weitere Entwicklung der schöpferi¬
schen Tätigkeit auf religiöser Grundlage hörte daraufhin auf. und vollzog
sich nur noch auf dem Wege des Schmuggels — hauptsächlich unter den
oppositionellen, wenig intelligenten Strömungen des religiösen Volkgedankens.
Die christliche Dichtung verwandelte sich in den Reim der Sektierer und blieb
dabei; in der Architektur und in der Heiligenbildmalerei wurden der Phantasie
des Künstlers die allerengsten Schranken gesetzt, und im besten Falle mutzte sie
sich auf einen Kompromiß beschränken zwischen den neuen Strömungen und
den Überlieferungen des Altertums — und zwar des griechischen, nicht aber
des russischen. Die Kunst verlor ihr Publikum, wie die Kirche — ihre Herde;
sie fuhr fort nur für die streng-bedingten Bedürfnisse des Komforts, wie jene für
die streng-bedingten Bedürfnisse der Schule zu arbeiten. Die Besonderheiten
des russischen Lebens und Gedankens fanden weder in diesem noch in jenem
Fall weitere Möglichkeit, sich zu offenbaren. Es ist demnach nur natürlich, daß,
als nach einem langen Zeitraum eine selbständige russische Kunst aufs
neue erstand, sie sich (mit Ausnahme der Architektur) auf keinerlei geschichtliche
Überlieferung stützen konnte; entschlossen schritt sie den neuen Forderungen
der russischen Intelligenz entgegen, und indem sie ihren Entwickelungsgang
von neuem begann, setzte sie das Ausland in Staunen durch die barbarische
Kraft und Frische ihres Ausdrucks.

Endlich steht von der Geschichte des russischen Glaubens in allerengster
Abhängigkeit — wenn auch in einer rein negativen — die Geschichte der
russischen Schule. Als sich die Kirche des Westens an die christliche Erziehung
der Gesellschaft machte, hatte sie zu allererst hierfür die Schule benützt, als das
allerstärkste Mittel zur gesellschaftlichen Bildung. Viele Jahrhunderte hindurch
befand sich die westeuropäische Schule ausschließlich in den Händen der Geist¬
lichkeit, und als endlich der Staat in die Zahl seiner Aufgaben auch die Volks¬
bildung einschloß, fand er diesen Wirkungskreis schon besetzt. Obgleich er nun
alle seine Kräfte auf den Kampf mit der klerikalen Schule verwandte, hat er
bis jetzt das Ziel noch nicht völlig erreicht, das er sich damals gesetzt hatte. Die
Abhängigkeit der Schule vom Staate hatte zur Folge, daß der Staat die
Unabhängigkeit der Schule schätzen lernte. Nachdem diese Beziehung einmal
aufgekommen war, überlebte sie die Periode der Herrschaft der Kirche über
die Schule: die Achtung vor der Selbständigkeit der Kirche verwandelte sich in
Achtung vor der Selbständigkeit der Wissenschaft.

Bei uns erwies sich bekanntlich die Kirche in der Periode ihrer Vor¬
herrschaft im geistigen Leben des Landes außerstande, die Schule zu organisieren.


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[0378] Der Einfluß der Rirche auf Runst und Schule in Rußland durch die Kirche; die selbständige Entwickelung der nationalen Schöpfung wie auch des nationalen Glaubens wurde schon im Keime unterdrückt. Auf diese Weise wirkte die Kirche nicht nur nicht aufmunternd auf die schöpferische Tätig¬ keit auf religiösem Gebiete, sie verhielt sich vielmehr im Gegenteil argwöhnisch zu deren ersten Früchten, gleich als ob es sich hier um etwas handle, was die Reinheit ihrer Lehre bedrohe. Die weitere Entwicklung der schöpferi¬ schen Tätigkeit auf religiöser Grundlage hörte daraufhin auf. und vollzog sich nur noch auf dem Wege des Schmuggels — hauptsächlich unter den oppositionellen, wenig intelligenten Strömungen des religiösen Volkgedankens. Die christliche Dichtung verwandelte sich in den Reim der Sektierer und blieb dabei; in der Architektur und in der Heiligenbildmalerei wurden der Phantasie des Künstlers die allerengsten Schranken gesetzt, und im besten Falle mutzte sie sich auf einen Kompromiß beschränken zwischen den neuen Strömungen und den Überlieferungen des Altertums — und zwar des griechischen, nicht aber des russischen. Die Kunst verlor ihr Publikum, wie die Kirche — ihre Herde; sie fuhr fort nur für die streng-bedingten Bedürfnisse des Komforts, wie jene für die streng-bedingten Bedürfnisse der Schule zu arbeiten. Die Besonderheiten des russischen Lebens und Gedankens fanden weder in diesem noch in jenem Fall weitere Möglichkeit, sich zu offenbaren. Es ist demnach nur natürlich, daß, als nach einem langen Zeitraum eine selbständige russische Kunst aufs neue erstand, sie sich (mit Ausnahme der Architektur) auf keinerlei geschichtliche Überlieferung stützen konnte; entschlossen schritt sie den neuen Forderungen der russischen Intelligenz entgegen, und indem sie ihren Entwickelungsgang von neuem begann, setzte sie das Ausland in Staunen durch die barbarische Kraft und Frische ihres Ausdrucks. Endlich steht von der Geschichte des russischen Glaubens in allerengster Abhängigkeit — wenn auch in einer rein negativen — die Geschichte der russischen Schule. Als sich die Kirche des Westens an die christliche Erziehung der Gesellschaft machte, hatte sie zu allererst hierfür die Schule benützt, als das allerstärkste Mittel zur gesellschaftlichen Bildung. Viele Jahrhunderte hindurch befand sich die westeuropäische Schule ausschließlich in den Händen der Geist¬ lichkeit, und als endlich der Staat in die Zahl seiner Aufgaben auch die Volks¬ bildung einschloß, fand er diesen Wirkungskreis schon besetzt. Obgleich er nun alle seine Kräfte auf den Kampf mit der klerikalen Schule verwandte, hat er bis jetzt das Ziel noch nicht völlig erreicht, das er sich damals gesetzt hatte. Die Abhängigkeit der Schule vom Staate hatte zur Folge, daß der Staat die Unabhängigkeit der Schule schätzen lernte. Nachdem diese Beziehung einmal aufgekommen war, überlebte sie die Periode der Herrschaft der Kirche über die Schule: die Achtung vor der Selbständigkeit der Kirche verwandelte sich in Achtung vor der Selbständigkeit der Wissenschaft. Bei uns erwies sich bekanntlich die Kirche in der Periode ihrer Vor¬ herrschaft im geistigen Leben des Landes außerstande, die Schule zu organisieren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/378>, abgerufen am 24.08.2024.