Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
ver Einfluß der Uirche auf Kunst und Schule in Rußland

gangenheit gebrochen hatte, beraubte sie sich der Kraft in der Gegenwart.
Auge in Auge mit der mächtigen Staatsgewalt, nur schwach gestützt von
selten der Gemeinde, mußte sie sich unterordnen und sich dem Rahmen der
übrigen Staatseinrichtungen einfügen. Dies war für sie auch bequemer, da
hierdurch ihr ausschließlich auf Erhaltung ihrer Lehre gerichteter Charakter
endgültig betont und sie der Verpflichtung enthoben wurde, in Rußlands
geistigem Leben die Führung zu übernehmen. Das nahm ebenso selbständig
seinen Verlauf, wie es im 15. und 16. Jahrhundert begonnen hatte. Von
Stufe zu Stufe durchschritt der Glaube des Volkes in den folgenden zwei
Jahrhunderten eine ganze Reihe von Entwicklungsphasen. Die Obrigkeit
interessierte sich wenig für diesen Vorgang und wußte auch wenig von ihm;
die Kirche hingegen, an ihrer eigenen Herrschaft nicht mehr interessiert, verhielt
steh dem Volksglauben gegenüber nur wie ein Organ der behördlichen Aufficht.
Dem entsprach auch durchaus der niedrige geistige und sittliche Stand der
Hom. die in Beamten der geistigen Behörde umgewandelt worden waren,
und der stagnierende Zustand der Glaubenslehre, die in die Mauern der
geistlichen Schule eingeschlossen, sich damit begnügte, die polemischen Argumente
der westeuropäischen Theologie wiederzukäuen.

Durch das Schicksal des russischen Glaubens ward auch das Schicksal der
schöpferischen Tätigkeit in Rußland bestimmt. In Westeuropa hatte die Kirche
das Gefühl des Volkes mächtig erregt und seine Phantasie gezwungen, in der
neuen Richtung tätig zu sein. Die christliche Dichtung hatte rasch die heidnische
verdrängt und ihre eigenen Meisterwerke geschaffen; die christliche Architektur
hatte sich kühn an die Lösung neuer Aufgaben gemacht; die christliche Malerer
und Skulptur hatten in ihre Erzeugnisse einen Reichtum und eine Kraft des
Gefühls gelegt, die der antiken Kunst völlig unbekannt war; endlich hatte sich
auch die christliche Musik daran gemacht, neue Wege zum Ausdruck der religiösen
Stimmung zu finden. Die Änderungen in den Glaubmsinhalten riefen auch
eine Änderung hervor in den Anschauungen von den Aufgaben der Kunst;
aber auch mit veränderten Grundanschauungen fuhr die Kunst lange fort,
den Zwecken der alten Religion zu dienen, indem sie nach wie vor den
neuen Menschen zwang, in ihr Befriedigung seiner seelischen Stimmungen zu
suchen. Als sich endlich die Kunst von der Vormundschaft der Kirche befreite,
lag für sie keine Notwendigkeit mehr vor. sich zu ändern: in Wahrheit
war sie längst schon weltlich geworden.

Bei uns waren bekanntlich gleichfalls die ersten bedeutenden Erfolge des
Glaubens im sechzehnten Jahrhundert von schöpferischer Phantasiearbeit gefolgt.
Die christliche Legende begann zuerst mit den Erzeugnissen der alten Volks-
dichtung zu wetteifern; die Architektur gab das einfache Nachahmen auf.
und versuchte in ihrer Art rein nationale Formen auszuarbeiten; in der
Ikonographie offenbarten sich die ersten Anzeichen eines Strebens nach
"Lebendigkeit". Indes verfiel dies alles bald einer strengen Verdammung


24*
ver Einfluß der Uirche auf Kunst und Schule in Rußland

gangenheit gebrochen hatte, beraubte sie sich der Kraft in der Gegenwart.
Auge in Auge mit der mächtigen Staatsgewalt, nur schwach gestützt von
selten der Gemeinde, mußte sie sich unterordnen und sich dem Rahmen der
übrigen Staatseinrichtungen einfügen. Dies war für sie auch bequemer, da
hierdurch ihr ausschließlich auf Erhaltung ihrer Lehre gerichteter Charakter
endgültig betont und sie der Verpflichtung enthoben wurde, in Rußlands
geistigem Leben die Führung zu übernehmen. Das nahm ebenso selbständig
seinen Verlauf, wie es im 15. und 16. Jahrhundert begonnen hatte. Von
Stufe zu Stufe durchschritt der Glaube des Volkes in den folgenden zwei
Jahrhunderten eine ganze Reihe von Entwicklungsphasen. Die Obrigkeit
interessierte sich wenig für diesen Vorgang und wußte auch wenig von ihm;
die Kirche hingegen, an ihrer eigenen Herrschaft nicht mehr interessiert, verhielt
steh dem Volksglauben gegenüber nur wie ein Organ der behördlichen Aufficht.
Dem entsprach auch durchaus der niedrige geistige und sittliche Stand der
Hom. die in Beamten der geistigen Behörde umgewandelt worden waren,
und der stagnierende Zustand der Glaubenslehre, die in die Mauern der
geistlichen Schule eingeschlossen, sich damit begnügte, die polemischen Argumente
der westeuropäischen Theologie wiederzukäuen.

Durch das Schicksal des russischen Glaubens ward auch das Schicksal der
schöpferischen Tätigkeit in Rußland bestimmt. In Westeuropa hatte die Kirche
das Gefühl des Volkes mächtig erregt und seine Phantasie gezwungen, in der
neuen Richtung tätig zu sein. Die christliche Dichtung hatte rasch die heidnische
verdrängt und ihre eigenen Meisterwerke geschaffen; die christliche Architektur
hatte sich kühn an die Lösung neuer Aufgaben gemacht; die christliche Malerer
und Skulptur hatten in ihre Erzeugnisse einen Reichtum und eine Kraft des
Gefühls gelegt, die der antiken Kunst völlig unbekannt war; endlich hatte sich
auch die christliche Musik daran gemacht, neue Wege zum Ausdruck der religiösen
Stimmung zu finden. Die Änderungen in den Glaubmsinhalten riefen auch
eine Änderung hervor in den Anschauungen von den Aufgaben der Kunst;
aber auch mit veränderten Grundanschauungen fuhr die Kunst lange fort,
den Zwecken der alten Religion zu dienen, indem sie nach wie vor den
neuen Menschen zwang, in ihr Befriedigung seiner seelischen Stimmungen zu
suchen. Als sich endlich die Kunst von der Vormundschaft der Kirche befreite,
lag für sie keine Notwendigkeit mehr vor. sich zu ändern: in Wahrheit
war sie längst schon weltlich geworden.

Bei uns waren bekanntlich gleichfalls die ersten bedeutenden Erfolge des
Glaubens im sechzehnten Jahrhundert von schöpferischer Phantasiearbeit gefolgt.
Die christliche Legende begann zuerst mit den Erzeugnissen der alten Volks-
dichtung zu wetteifern; die Architektur gab das einfache Nachahmen auf.
und versuchte in ihrer Art rein nationale Formen auszuarbeiten; in der
Ikonographie offenbarten sich die ersten Anzeichen eines Strebens nach
"Lebendigkeit". Indes verfiel dies alles bald einer strengen Verdammung


24*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0377" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324790"/>
          <fw type="header" place="top"> ver Einfluß der Uirche auf Kunst und Schule in Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1350" prev="#ID_1349"> gangenheit gebrochen hatte, beraubte sie sich der Kraft in der Gegenwart.<lb/>
Auge in Auge mit der mächtigen Staatsgewalt, nur schwach gestützt von<lb/>
selten der Gemeinde, mußte sie sich unterordnen und sich dem Rahmen der<lb/>
übrigen Staatseinrichtungen einfügen. Dies war für sie auch bequemer, da<lb/>
hierdurch ihr ausschließlich auf Erhaltung ihrer Lehre gerichteter Charakter<lb/>
endgültig betont und sie der Verpflichtung enthoben wurde, in Rußlands<lb/>
geistigem Leben die Führung zu übernehmen. Das nahm ebenso selbständig<lb/>
seinen Verlauf, wie es im 15. und 16. Jahrhundert begonnen hatte. Von<lb/>
Stufe zu Stufe durchschritt der Glaube des Volkes in den folgenden zwei<lb/>
Jahrhunderten eine ganze Reihe von Entwicklungsphasen. Die Obrigkeit<lb/>
interessierte sich wenig für diesen Vorgang und wußte auch wenig von ihm;<lb/>
die Kirche hingegen, an ihrer eigenen Herrschaft nicht mehr interessiert, verhielt<lb/>
steh dem Volksglauben gegenüber nur wie ein Organ der behördlichen Aufficht.<lb/>
Dem entsprach auch durchaus der niedrige geistige und sittliche Stand der<lb/>
Hom. die in Beamten der geistigen Behörde umgewandelt worden waren,<lb/>
und der stagnierende Zustand der Glaubenslehre, die in die Mauern der<lb/>
geistlichen Schule eingeschlossen, sich damit begnügte, die polemischen Argumente<lb/>
der westeuropäischen Theologie wiederzukäuen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1351"> Durch das Schicksal des russischen Glaubens ward auch das Schicksal der<lb/>
schöpferischen Tätigkeit in Rußland bestimmt. In Westeuropa hatte die Kirche<lb/>
das Gefühl des Volkes mächtig erregt und seine Phantasie gezwungen, in der<lb/>
neuen Richtung tätig zu sein. Die christliche Dichtung hatte rasch die heidnische<lb/>
verdrängt und ihre eigenen Meisterwerke geschaffen; die christliche Architektur<lb/>
hatte sich kühn an die Lösung neuer Aufgaben gemacht; die christliche Malerer<lb/>
und Skulptur hatten in ihre Erzeugnisse einen Reichtum und eine Kraft des<lb/>
Gefühls gelegt, die der antiken Kunst völlig unbekannt war; endlich hatte sich<lb/>
auch die christliche Musik daran gemacht, neue Wege zum Ausdruck der religiösen<lb/>
Stimmung zu finden. Die Änderungen in den Glaubmsinhalten riefen auch<lb/>
eine Änderung hervor in den Anschauungen von den Aufgaben der Kunst;<lb/>
aber auch mit veränderten Grundanschauungen fuhr die Kunst lange fort,<lb/>
den Zwecken der alten Religion zu dienen, indem sie nach wie vor den<lb/>
neuen Menschen zwang, in ihr Befriedigung seiner seelischen Stimmungen zu<lb/>
suchen. Als sich endlich die Kunst von der Vormundschaft der Kirche befreite,<lb/>
lag für sie keine Notwendigkeit mehr vor. sich zu ändern: in Wahrheit<lb/>
war sie längst schon weltlich geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1352" next="#ID_1353"> Bei uns waren bekanntlich gleichfalls die ersten bedeutenden Erfolge des<lb/>
Glaubens im sechzehnten Jahrhundert von schöpferischer Phantasiearbeit gefolgt.<lb/>
Die christliche Legende begann zuerst mit den Erzeugnissen der alten Volks-<lb/>
dichtung zu wetteifern; die Architektur gab das einfache Nachahmen auf.<lb/>
und versuchte in ihrer Art rein nationale Formen auszuarbeiten; in der<lb/>
Ikonographie offenbarten sich die ersten Anzeichen eines Strebens nach<lb/>
"Lebendigkeit".  Indes verfiel dies alles bald einer strengen Verdammung</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 24*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0377] ver Einfluß der Uirche auf Kunst und Schule in Rußland gangenheit gebrochen hatte, beraubte sie sich der Kraft in der Gegenwart. Auge in Auge mit der mächtigen Staatsgewalt, nur schwach gestützt von selten der Gemeinde, mußte sie sich unterordnen und sich dem Rahmen der übrigen Staatseinrichtungen einfügen. Dies war für sie auch bequemer, da hierdurch ihr ausschließlich auf Erhaltung ihrer Lehre gerichteter Charakter endgültig betont und sie der Verpflichtung enthoben wurde, in Rußlands geistigem Leben die Führung zu übernehmen. Das nahm ebenso selbständig seinen Verlauf, wie es im 15. und 16. Jahrhundert begonnen hatte. Von Stufe zu Stufe durchschritt der Glaube des Volkes in den folgenden zwei Jahrhunderten eine ganze Reihe von Entwicklungsphasen. Die Obrigkeit interessierte sich wenig für diesen Vorgang und wußte auch wenig von ihm; die Kirche hingegen, an ihrer eigenen Herrschaft nicht mehr interessiert, verhielt steh dem Volksglauben gegenüber nur wie ein Organ der behördlichen Aufficht. Dem entsprach auch durchaus der niedrige geistige und sittliche Stand der Hom. die in Beamten der geistigen Behörde umgewandelt worden waren, und der stagnierende Zustand der Glaubenslehre, die in die Mauern der geistlichen Schule eingeschlossen, sich damit begnügte, die polemischen Argumente der westeuropäischen Theologie wiederzukäuen. Durch das Schicksal des russischen Glaubens ward auch das Schicksal der schöpferischen Tätigkeit in Rußland bestimmt. In Westeuropa hatte die Kirche das Gefühl des Volkes mächtig erregt und seine Phantasie gezwungen, in der neuen Richtung tätig zu sein. Die christliche Dichtung hatte rasch die heidnische verdrängt und ihre eigenen Meisterwerke geschaffen; die christliche Architektur hatte sich kühn an die Lösung neuer Aufgaben gemacht; die christliche Malerer und Skulptur hatten in ihre Erzeugnisse einen Reichtum und eine Kraft des Gefühls gelegt, die der antiken Kunst völlig unbekannt war; endlich hatte sich auch die christliche Musik daran gemacht, neue Wege zum Ausdruck der religiösen Stimmung zu finden. Die Änderungen in den Glaubmsinhalten riefen auch eine Änderung hervor in den Anschauungen von den Aufgaben der Kunst; aber auch mit veränderten Grundanschauungen fuhr die Kunst lange fort, den Zwecken der alten Religion zu dienen, indem sie nach wie vor den neuen Menschen zwang, in ihr Befriedigung seiner seelischen Stimmungen zu suchen. Als sich endlich die Kunst von der Vormundschaft der Kirche befreite, lag für sie keine Notwendigkeit mehr vor. sich zu ändern: in Wahrheit war sie längst schon weltlich geworden. Bei uns waren bekanntlich gleichfalls die ersten bedeutenden Erfolge des Glaubens im sechzehnten Jahrhundert von schöpferischer Phantasiearbeit gefolgt. Die christliche Legende begann zuerst mit den Erzeugnissen der alten Volks- dichtung zu wetteifern; die Architektur gab das einfache Nachahmen auf. und versuchte in ihrer Art rein nationale Formen auszuarbeiten; in der Ikonographie offenbarten sich die ersten Anzeichen eines Strebens nach "Lebendigkeit". Indes verfiel dies alles bald einer strengen Verdammung 24*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/377
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/377>, abgerufen am 24.08.2024.