Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die russischen Finanzen

"Diese Millarde bilde im Vergleich zum übrigen Budget eine solche Größe,
wie sie in keinem anderen zivilisierten Staate existiere. Eine zweite Tatsache
sei die, daß der Russe für Schnaps mehr ausgebe, als sonst irgend jemand in
der Welt, wenigstens im Vergleich mit seinem ganzen Einkommen. Im Aus¬
lande bezahle die Bevölkerung den Alkohol von ihrem Überfluß, bei uns
trinken sie ihrer Armut wegen".

Gegenüber dem Schnapsmonopol und den indirekten Steuern, die das
tägliche Leben und die unentbehrlichen Gebrauchsgegenstände der ganzen Be¬
völkerung mit hohen Abgaben belegten, spielten die Erträgnisse aus den Staats¬
besitztümern und den direkten Steuern nur eine geringe Rolle. Namentlich
die Staatseisenbahnen, die im Einnahmebudget mit einer gewaltigen Summe
aufgeführt sind, brachten bis in die letzte Zeit vor dem Kriege nichts ein,
wurden vielmehr von den Betriebsausgaben und der Verzinsung der Eisen¬
bahnschuld vollständig verschlungen.

Diese wunden Punkte des russischen Staatshaushaltes mußten sich in
einem großen europäischen Kriege wie dem jetzigen bei der für Rußland so
unglücklichen Konjunktur, die die fast vollkommene Abschneidung des Landes
vom Weltmeer mit sich brachte, außerordentlich ungünstig bemerkbar machen.

Vom finanziellen und wirtschaftlichen Standpunkt -- und das ist schlie߬
lich doch bei einem Staate wie Rußland immerhin ein entscheidender Faktor --
hätte es für Rußland nur eine gesunde Politik gegeben: gute politische Be¬
ziehungen zu denjenigen Nachbarn aufrechtzuerhalten, die es in der Hand
hatten, im Kriegsfalle so gut wie alle wirtschaftlichen Kommunikationen des
russischen Reiches vermöge ihrer geographischen Lage zu zerstören, Aus diesem
Grunde war auch Witte, der beste Kenner der russischen Finanzen, stets für
eine Annäherung Rußlands an Deutschland eingetreten.

Denn Witte hatte erkannt, daß Rußlands Wirtschaft noch auf lange
Jahre hinaus ein Koloß auf tönernen Füßen bleiben mußte.

Die obengenannte Tatsache der ständigen passiven Zahlungsbilanz Ru߬
lands konnte nämlich nur durch eine permanente Politik der Kapitalheran¬
ziehung ausgeglichen werden. Dieser Kapitalzustrom trat in Erscheinung durch
beständige Aufnahme von Auslandsanleihen, Beteiligung fremden Kapitals an
russischen Unternehmungen, Einwanderung industrieller und gewerbetreibender
Ausländer, die durch ihr Kapital und ihre Arbeitskraft die schlummernden
Kapitalkräfte des Landes mehrten. Daraufhin ging die ganze Politik der
russischen Finanzminister von Wyschnegradski bis Kokomtzow, und das war
die einzig mögliche Finanzpolitik für das Land. Denn ohne dkse Politik
blieb die russische Goldwährung stets das, was sie war, nämlich ein blendender
Schein, der jeden Tag verschwinden konnte, sobald einmal der Goldzufluß aus
dem Auslande aus irgend einem Grunde versagte.

Dieser Zeitpunkt trat mit dem Beginn des gegenwärtigen Krieges ein.
Die Wirkung, die die plötzliche Abschließung des russischen Marktes vom Aus-


Die russischen Finanzen

„Diese Millarde bilde im Vergleich zum übrigen Budget eine solche Größe,
wie sie in keinem anderen zivilisierten Staate existiere. Eine zweite Tatsache
sei die, daß der Russe für Schnaps mehr ausgebe, als sonst irgend jemand in
der Welt, wenigstens im Vergleich mit seinem ganzen Einkommen. Im Aus¬
lande bezahle die Bevölkerung den Alkohol von ihrem Überfluß, bei uns
trinken sie ihrer Armut wegen".

Gegenüber dem Schnapsmonopol und den indirekten Steuern, die das
tägliche Leben und die unentbehrlichen Gebrauchsgegenstände der ganzen Be¬
völkerung mit hohen Abgaben belegten, spielten die Erträgnisse aus den Staats¬
besitztümern und den direkten Steuern nur eine geringe Rolle. Namentlich
die Staatseisenbahnen, die im Einnahmebudget mit einer gewaltigen Summe
aufgeführt sind, brachten bis in die letzte Zeit vor dem Kriege nichts ein,
wurden vielmehr von den Betriebsausgaben und der Verzinsung der Eisen¬
bahnschuld vollständig verschlungen.

Diese wunden Punkte des russischen Staatshaushaltes mußten sich in
einem großen europäischen Kriege wie dem jetzigen bei der für Rußland so
unglücklichen Konjunktur, die die fast vollkommene Abschneidung des Landes
vom Weltmeer mit sich brachte, außerordentlich ungünstig bemerkbar machen.

Vom finanziellen und wirtschaftlichen Standpunkt — und das ist schlie߬
lich doch bei einem Staate wie Rußland immerhin ein entscheidender Faktor —
hätte es für Rußland nur eine gesunde Politik gegeben: gute politische Be¬
ziehungen zu denjenigen Nachbarn aufrechtzuerhalten, die es in der Hand
hatten, im Kriegsfalle so gut wie alle wirtschaftlichen Kommunikationen des
russischen Reiches vermöge ihrer geographischen Lage zu zerstören, Aus diesem
Grunde war auch Witte, der beste Kenner der russischen Finanzen, stets für
eine Annäherung Rußlands an Deutschland eingetreten.

Denn Witte hatte erkannt, daß Rußlands Wirtschaft noch auf lange
Jahre hinaus ein Koloß auf tönernen Füßen bleiben mußte.

Die obengenannte Tatsache der ständigen passiven Zahlungsbilanz Ru߬
lands konnte nämlich nur durch eine permanente Politik der Kapitalheran¬
ziehung ausgeglichen werden. Dieser Kapitalzustrom trat in Erscheinung durch
beständige Aufnahme von Auslandsanleihen, Beteiligung fremden Kapitals an
russischen Unternehmungen, Einwanderung industrieller und gewerbetreibender
Ausländer, die durch ihr Kapital und ihre Arbeitskraft die schlummernden
Kapitalkräfte des Landes mehrten. Daraufhin ging die ganze Politik der
russischen Finanzminister von Wyschnegradski bis Kokomtzow, und das war
die einzig mögliche Finanzpolitik für das Land. Denn ohne dkse Politik
blieb die russische Goldwährung stets das, was sie war, nämlich ein blendender
Schein, der jeden Tag verschwinden konnte, sobald einmal der Goldzufluß aus
dem Auslande aus irgend einem Grunde versagte.

Dieser Zeitpunkt trat mit dem Beginn des gegenwärtigen Krieges ein.
Die Wirkung, die die plötzliche Abschließung des russischen Marktes vom Aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0330" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324743"/>
          <fw type="header" place="top"> Die russischen Finanzen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1184"> &#x201E;Diese Millarde bilde im Vergleich zum übrigen Budget eine solche Größe,<lb/>
wie sie in keinem anderen zivilisierten Staate existiere. Eine zweite Tatsache<lb/>
sei die, daß der Russe für Schnaps mehr ausgebe, als sonst irgend jemand in<lb/>
der Welt, wenigstens im Vergleich mit seinem ganzen Einkommen. Im Aus¬<lb/>
lande bezahle die Bevölkerung den Alkohol von ihrem Überfluß, bei uns<lb/>
trinken sie ihrer Armut wegen".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1185"> Gegenüber dem Schnapsmonopol und den indirekten Steuern, die das<lb/>
tägliche Leben und die unentbehrlichen Gebrauchsgegenstände der ganzen Be¬<lb/>
völkerung mit hohen Abgaben belegten, spielten die Erträgnisse aus den Staats¬<lb/>
besitztümern und den direkten Steuern nur eine geringe Rolle. Namentlich<lb/>
die Staatseisenbahnen, die im Einnahmebudget mit einer gewaltigen Summe<lb/>
aufgeführt sind, brachten bis in die letzte Zeit vor dem Kriege nichts ein,<lb/>
wurden vielmehr von den Betriebsausgaben und der Verzinsung der Eisen¬<lb/>
bahnschuld vollständig verschlungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1186"> Diese wunden Punkte des russischen Staatshaushaltes mußten sich in<lb/>
einem großen europäischen Kriege wie dem jetzigen bei der für Rußland so<lb/>
unglücklichen Konjunktur, die die fast vollkommene Abschneidung des Landes<lb/>
vom Weltmeer mit sich brachte, außerordentlich ungünstig bemerkbar machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1187"> Vom finanziellen und wirtschaftlichen Standpunkt &#x2014; und das ist schlie߬<lb/>
lich doch bei einem Staate wie Rußland immerhin ein entscheidender Faktor &#x2014;<lb/>
hätte es für Rußland nur eine gesunde Politik gegeben: gute politische Be¬<lb/>
ziehungen zu denjenigen Nachbarn aufrechtzuerhalten, die es in der Hand<lb/>
hatten, im Kriegsfalle so gut wie alle wirtschaftlichen Kommunikationen des<lb/>
russischen Reiches vermöge ihrer geographischen Lage zu zerstören, Aus diesem<lb/>
Grunde war auch Witte, der beste Kenner der russischen Finanzen, stets für<lb/>
eine Annäherung Rußlands an Deutschland eingetreten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1188"> Denn Witte hatte erkannt, daß Rußlands Wirtschaft noch auf lange<lb/>
Jahre hinaus ein Koloß auf tönernen Füßen bleiben mußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1189"> Die obengenannte Tatsache der ständigen passiven Zahlungsbilanz Ru߬<lb/>
lands konnte nämlich nur durch eine permanente Politik der Kapitalheran¬<lb/>
ziehung ausgeglichen werden. Dieser Kapitalzustrom trat in Erscheinung durch<lb/>
beständige Aufnahme von Auslandsanleihen, Beteiligung fremden Kapitals an<lb/>
russischen Unternehmungen, Einwanderung industrieller und gewerbetreibender<lb/>
Ausländer, die durch ihr Kapital und ihre Arbeitskraft die schlummernden<lb/>
Kapitalkräfte des Landes mehrten. Daraufhin ging die ganze Politik der<lb/>
russischen Finanzminister von Wyschnegradski bis Kokomtzow, und das war<lb/>
die einzig mögliche Finanzpolitik für das Land. Denn ohne dkse Politik<lb/>
blieb die russische Goldwährung stets das, was sie war, nämlich ein blendender<lb/>
Schein, der jeden Tag verschwinden konnte, sobald einmal der Goldzufluß aus<lb/>
dem Auslande aus irgend einem Grunde versagte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1190" next="#ID_1191"> Dieser Zeitpunkt trat mit dem Beginn des gegenwärtigen Krieges ein.<lb/>
Die Wirkung, die die plötzliche Abschließung des russischen Marktes vom Aus-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0330] Die russischen Finanzen „Diese Millarde bilde im Vergleich zum übrigen Budget eine solche Größe, wie sie in keinem anderen zivilisierten Staate existiere. Eine zweite Tatsache sei die, daß der Russe für Schnaps mehr ausgebe, als sonst irgend jemand in der Welt, wenigstens im Vergleich mit seinem ganzen Einkommen. Im Aus¬ lande bezahle die Bevölkerung den Alkohol von ihrem Überfluß, bei uns trinken sie ihrer Armut wegen". Gegenüber dem Schnapsmonopol und den indirekten Steuern, die das tägliche Leben und die unentbehrlichen Gebrauchsgegenstände der ganzen Be¬ völkerung mit hohen Abgaben belegten, spielten die Erträgnisse aus den Staats¬ besitztümern und den direkten Steuern nur eine geringe Rolle. Namentlich die Staatseisenbahnen, die im Einnahmebudget mit einer gewaltigen Summe aufgeführt sind, brachten bis in die letzte Zeit vor dem Kriege nichts ein, wurden vielmehr von den Betriebsausgaben und der Verzinsung der Eisen¬ bahnschuld vollständig verschlungen. Diese wunden Punkte des russischen Staatshaushaltes mußten sich in einem großen europäischen Kriege wie dem jetzigen bei der für Rußland so unglücklichen Konjunktur, die die fast vollkommene Abschneidung des Landes vom Weltmeer mit sich brachte, außerordentlich ungünstig bemerkbar machen. Vom finanziellen und wirtschaftlichen Standpunkt — und das ist schlie߬ lich doch bei einem Staate wie Rußland immerhin ein entscheidender Faktor — hätte es für Rußland nur eine gesunde Politik gegeben: gute politische Be¬ ziehungen zu denjenigen Nachbarn aufrechtzuerhalten, die es in der Hand hatten, im Kriegsfalle so gut wie alle wirtschaftlichen Kommunikationen des russischen Reiches vermöge ihrer geographischen Lage zu zerstören, Aus diesem Grunde war auch Witte, der beste Kenner der russischen Finanzen, stets für eine Annäherung Rußlands an Deutschland eingetreten. Denn Witte hatte erkannt, daß Rußlands Wirtschaft noch auf lange Jahre hinaus ein Koloß auf tönernen Füßen bleiben mußte. Die obengenannte Tatsache der ständigen passiven Zahlungsbilanz Ru߬ lands konnte nämlich nur durch eine permanente Politik der Kapitalheran¬ ziehung ausgeglichen werden. Dieser Kapitalzustrom trat in Erscheinung durch beständige Aufnahme von Auslandsanleihen, Beteiligung fremden Kapitals an russischen Unternehmungen, Einwanderung industrieller und gewerbetreibender Ausländer, die durch ihr Kapital und ihre Arbeitskraft die schlummernden Kapitalkräfte des Landes mehrten. Daraufhin ging die ganze Politik der russischen Finanzminister von Wyschnegradski bis Kokomtzow, und das war die einzig mögliche Finanzpolitik für das Land. Denn ohne dkse Politik blieb die russische Goldwährung stets das, was sie war, nämlich ein blendender Schein, der jeden Tag verschwinden konnte, sobald einmal der Goldzufluß aus dem Auslande aus irgend einem Grunde versagte. Dieser Zeitpunkt trat mit dem Beginn des gegenwärtigen Krieges ein. Die Wirkung, die die plötzliche Abschließung des russischen Marktes vom Aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/330
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/330>, abgerufen am 29.12.2024.