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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Barbaresken gebrochen. Auch die anderen nordafrikanischen Gemeinwesen mußten
den Seeraub aufgeben. Tunis und Tripolis kamen in stärkere Abhängigkeit
von der Türkei. Das entlegene Marokko schien zunächst halb vergessen, wenn
auch die europäischen Mächte mit ihm in diplomatischen Verkehr traten.

Als seit den sechziger Jahren des 19, Jahrhunderts die hinterasiatischen Staaten
durch Abschluß von Verträgen und Gesandtschastsverkehr in die Völkerrechts-
gemeinschaft hineingezogen wurden, konnte auch Persien diesem Schicksale nicht
entgehen. Das entlegenere Afghanistan bildete nur für die Grenzmächte England
und Rußland einen Gegenstand des diplomatischen Wettbewerbes.

So war die islamitische Welt in weitesten Umfange vom europäischen
Völkerrechte umspannt. Dieses hatte längst aufgehört, ein europäisches der
christlichen Völker zu sein und war zum Weltrechte geworden.

Den Mittelpunkt der islamitischen Welt bildete aber immerhin die Türkei,
dessen Sultan als Kauf eine geistliche Herrschaft über die Gläubigen weit über
die Grenzen des türkischen Reiches übte. Ein weiterer Grund für die Mächte
mit zahlreichen muhamedanischen Untertanen, wie England und Frankreich, ein
gutes Verhältnis zur Türkei zu pflegen. Waren doch der englischen Krone
allein in Indien unendlich viel mehr Muhamedaner Untertan als dem Sultan selbst.

So erhielten sich denn auch die alten politischen Beziehungen der europäischen
Mächte zur Türkei fort.

Den schärfsten Ausdruck fand dies nach dem russisch-türkischen Kriege von
1877/78. Das von Nußland durch den Frieden von San Stefano als russische
Etappe auf dem Wege nach Konstantinopel geschaffene Groß'Bulgarien erschien
England und Österreich als unerträgliche Vorherrschaft Rußlands auf dem
Balkan. Hätten sie die spätere Entwicklung Bulgariens vorher ahnen können,
wäre ihre Politik eine andere gewesen. So erwiesen sie sich noch einmal als
die natürlichen Beschützer der Türkei. Rußland mußte auf dem Berliner Kon¬
gresse von 1878 zurückweichen und sich die Verkleinerung Bulgariens gefallen lassen.

Noch immer hatte Deutschland dieselbe Stellung zu den Wirren des Ostens
wie einst Preußen. Es war ohne jedes Interesse. Von Bismarck rührt das
geflügelte Wort von den Knochen des pommerschen Grenadiers her, die ihm
der Balkan nicht wert sei. Eben deshalb konnte Bismarck auf dem Berliner Kongresse
als der unbeteiligte ehrliche Makler auftreten. Und die Entrüstung Rußlands
über die Ergebnisse des Kongresses ging nur daraus zurück, daß Bismarck eben
vermittelt und nicht alle russischen Forderungen unterstützt hatte.

Erst in der Zeit nach Bismarck vollzog sich der Wandel der Dinge.

Zunächst geriet Frankreich in das Schlepptau der russischen Politik und
mußte ihr blindlings folgen. Indem Frankreich der Verbündete des Erbfeindes
der Türkei wurde, zerriß die noch bis über den Krimkrieg hinaus bewährte.
Jahrhunderte alte Freundschaft zwischen Frankreich und der Türkei von selbst.
Das von Deutschland nicht mehr anerkannte französische Protektorat über die
Katholiken des Orients ging zu Grunde.


Barbaresken gebrochen. Auch die anderen nordafrikanischen Gemeinwesen mußten
den Seeraub aufgeben. Tunis und Tripolis kamen in stärkere Abhängigkeit
von der Türkei. Das entlegene Marokko schien zunächst halb vergessen, wenn
auch die europäischen Mächte mit ihm in diplomatischen Verkehr traten.

Als seit den sechziger Jahren des 19, Jahrhunderts die hinterasiatischen Staaten
durch Abschluß von Verträgen und Gesandtschastsverkehr in die Völkerrechts-
gemeinschaft hineingezogen wurden, konnte auch Persien diesem Schicksale nicht
entgehen. Das entlegenere Afghanistan bildete nur für die Grenzmächte England
und Rußland einen Gegenstand des diplomatischen Wettbewerbes.

So war die islamitische Welt in weitesten Umfange vom europäischen
Völkerrechte umspannt. Dieses hatte längst aufgehört, ein europäisches der
christlichen Völker zu sein und war zum Weltrechte geworden.

Den Mittelpunkt der islamitischen Welt bildete aber immerhin die Türkei,
dessen Sultan als Kauf eine geistliche Herrschaft über die Gläubigen weit über
die Grenzen des türkischen Reiches übte. Ein weiterer Grund für die Mächte
mit zahlreichen muhamedanischen Untertanen, wie England und Frankreich, ein
gutes Verhältnis zur Türkei zu pflegen. Waren doch der englischen Krone
allein in Indien unendlich viel mehr Muhamedaner Untertan als dem Sultan selbst.

So erhielten sich denn auch die alten politischen Beziehungen der europäischen
Mächte zur Türkei fort.

Den schärfsten Ausdruck fand dies nach dem russisch-türkischen Kriege von
1877/78. Das von Nußland durch den Frieden von San Stefano als russische
Etappe auf dem Wege nach Konstantinopel geschaffene Groß'Bulgarien erschien
England und Österreich als unerträgliche Vorherrschaft Rußlands auf dem
Balkan. Hätten sie die spätere Entwicklung Bulgariens vorher ahnen können,
wäre ihre Politik eine andere gewesen. So erwiesen sie sich noch einmal als
die natürlichen Beschützer der Türkei. Rußland mußte auf dem Berliner Kon¬
gresse von 1878 zurückweichen und sich die Verkleinerung Bulgariens gefallen lassen.

Noch immer hatte Deutschland dieselbe Stellung zu den Wirren des Ostens
wie einst Preußen. Es war ohne jedes Interesse. Von Bismarck rührt das
geflügelte Wort von den Knochen des pommerschen Grenadiers her, die ihm
der Balkan nicht wert sei. Eben deshalb konnte Bismarck auf dem Berliner Kongresse
als der unbeteiligte ehrliche Makler auftreten. Und die Entrüstung Rußlands
über die Ergebnisse des Kongresses ging nur daraus zurück, daß Bismarck eben
vermittelt und nicht alle russischen Forderungen unterstützt hatte.

Erst in der Zeit nach Bismarck vollzog sich der Wandel der Dinge.

Zunächst geriet Frankreich in das Schlepptau der russischen Politik und
mußte ihr blindlings folgen. Indem Frankreich der Verbündete des Erbfeindes
der Türkei wurde, zerriß die noch bis über den Krimkrieg hinaus bewährte.
Jahrhunderte alte Freundschaft zwischen Frankreich und der Türkei von selbst.
Das von Deutschland nicht mehr anerkannte französische Protektorat über die
Katholiken des Orients ging zu Grunde.


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[0273] Barbaresken gebrochen. Auch die anderen nordafrikanischen Gemeinwesen mußten den Seeraub aufgeben. Tunis und Tripolis kamen in stärkere Abhängigkeit von der Türkei. Das entlegene Marokko schien zunächst halb vergessen, wenn auch die europäischen Mächte mit ihm in diplomatischen Verkehr traten. Als seit den sechziger Jahren des 19, Jahrhunderts die hinterasiatischen Staaten durch Abschluß von Verträgen und Gesandtschastsverkehr in die Völkerrechts- gemeinschaft hineingezogen wurden, konnte auch Persien diesem Schicksale nicht entgehen. Das entlegenere Afghanistan bildete nur für die Grenzmächte England und Rußland einen Gegenstand des diplomatischen Wettbewerbes. So war die islamitische Welt in weitesten Umfange vom europäischen Völkerrechte umspannt. Dieses hatte längst aufgehört, ein europäisches der christlichen Völker zu sein und war zum Weltrechte geworden. Den Mittelpunkt der islamitischen Welt bildete aber immerhin die Türkei, dessen Sultan als Kauf eine geistliche Herrschaft über die Gläubigen weit über die Grenzen des türkischen Reiches übte. Ein weiterer Grund für die Mächte mit zahlreichen muhamedanischen Untertanen, wie England und Frankreich, ein gutes Verhältnis zur Türkei zu pflegen. Waren doch der englischen Krone allein in Indien unendlich viel mehr Muhamedaner Untertan als dem Sultan selbst. So erhielten sich denn auch die alten politischen Beziehungen der europäischen Mächte zur Türkei fort. Den schärfsten Ausdruck fand dies nach dem russisch-türkischen Kriege von 1877/78. Das von Nußland durch den Frieden von San Stefano als russische Etappe auf dem Wege nach Konstantinopel geschaffene Groß'Bulgarien erschien England und Österreich als unerträgliche Vorherrschaft Rußlands auf dem Balkan. Hätten sie die spätere Entwicklung Bulgariens vorher ahnen können, wäre ihre Politik eine andere gewesen. So erwiesen sie sich noch einmal als die natürlichen Beschützer der Türkei. Rußland mußte auf dem Berliner Kon¬ gresse von 1878 zurückweichen und sich die Verkleinerung Bulgariens gefallen lassen. Noch immer hatte Deutschland dieselbe Stellung zu den Wirren des Ostens wie einst Preußen. Es war ohne jedes Interesse. Von Bismarck rührt das geflügelte Wort von den Knochen des pommerschen Grenadiers her, die ihm der Balkan nicht wert sei. Eben deshalb konnte Bismarck auf dem Berliner Kongresse als der unbeteiligte ehrliche Makler auftreten. Und die Entrüstung Rußlands über die Ergebnisse des Kongresses ging nur daraus zurück, daß Bismarck eben vermittelt und nicht alle russischen Forderungen unterstützt hatte. Erst in der Zeit nach Bismarck vollzog sich der Wandel der Dinge. Zunächst geriet Frankreich in das Schlepptau der russischen Politik und mußte ihr blindlings folgen. Indem Frankreich der Verbündete des Erbfeindes der Türkei wurde, zerriß die noch bis über den Krimkrieg hinaus bewährte. Jahrhunderte alte Freundschaft zwischen Frankreich und der Türkei von selbst. Das von Deutschland nicht mehr anerkannte französische Protektorat über die Katholiken des Orients ging zu Grunde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/273>, abgerufen am 28.09.2024.