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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die innere Lage in Rußland

"Ihr tötet durch eure Abkehr von den Wünschen der Gesellschaft den
Enthusiasmus, den unser Volk und unsere Armee nötig hat, wenn anders sie
den Sieg erringen soll", so ertönt es in den Kadettenblättern. -- "Wir Russen
brauchen Anregung, Aufmunterung, Enthusiasmus, sonst geht unsere Stimmung
in den winterlichen Laufgräben zum Teufel. Die Lage des Landes ist ernst,
und dieses seelische Moment ist zu wichtig, um es unberücksichtigt zu lassen."

Hoffen die Miljukow und die Roditschew durch Überreden und heimliches
Gemurmel über Mißstimmung in der Armee einen Chwostow und einen
Goremvkin umzustimmen? Sie überschätzen ihren Einfluß -- und sie sehen
ihren Denkfehler immer noch nicht ein.

Ein Struve hat es neulich noch offen bekannt, daß die Ideale seiner
Partei immer dahin gingen, die Annäherung Rußlands an die westeuropäischen
demokratischen Reiche England und Frankreich unter allen Umständen herbei¬
zuführen -- um auf diese Weise die Annäherung Rußlands an die demokratischen
Ideen zu erreichen. "Das konstitutionelle Empfinden in Nußland in der Epoche
der staatlichen Umbildung, die ihren Ausdruck im Manifest vom 17. Oktober
fand, erklärte sich entschieden und off": als Feind jeglicher Annäherung Ru߬
lands mit Deutschland und forderte umgekehrt bewußt ein Übereinkommen mit
England als Kardinalaufgabe der russischen Politik."

Also die linksstehenden Scheuklappenpolitiker in Rußland haben, wie Struve
damit offen bekennt, ein Jahrzehnt hindurch für den Krieg zwischen Deutschland
und Rußland gekämpft. Sie wollten durch diesen Krieg ihre Ideale verwirk¬
lichen, die sie zu Unrecht durch Deutschland bedroht glaubten, d-'Sö.in offizielle
Politik sich im Grunde genommen nie um die inneren russischen Verhältnisse
gekümmert hatte.

Solche Denkfehler werden hart bestraft. Die Nemesis der Geschichte will
es. daß gerade in diesem Kriege die liberalen Politiker wie Herr Peter Struve
weiter von der Verwirklichung ihrer Ideale entfernt sind, als sie es je waren.
Ja, es ist vielleicht nicht zu kühn zu behaupten, daß die Gedankenarmut dieser
Art Politiker es eines Tages mit sich bringen wird, daß dieselben Herren
Struve, die einst unter deutscher Gastfreundschaft und von deutschem Boden
aus in der Oswoboschdenje für alte freiheitliche Ideale eintraten, dem nächsten
Diktator in Nußland zujauchzen werden, wenn er die Volksinstinkte befriedigt,
und die von diesen Politikern selbst mit Vorbedacht und infolge ihres mangel¬
haften Denkens herbeigeführten Ideale des Hasses gegen Deutschland und die
Deutschen in Rußland aufs neue in praktischen Taten zusammenfaßt und zu
beleben versteht.

Es ist der Bankrott der Parteien, den wir jetzt in Rußland sehen und
es ist zugleich der Bankrott derjenigen Denkart, die uns ein Mitrofcmoff
vor dem Beginn des Krieges so anschaulich schilderte, und die uns während
des ganzen Krieges in der russischen "Gesellschaft" fo deutlich entgegengetreten ist.




Die innere Lage in Rußland

„Ihr tötet durch eure Abkehr von den Wünschen der Gesellschaft den
Enthusiasmus, den unser Volk und unsere Armee nötig hat, wenn anders sie
den Sieg erringen soll", so ertönt es in den Kadettenblättern. — „Wir Russen
brauchen Anregung, Aufmunterung, Enthusiasmus, sonst geht unsere Stimmung
in den winterlichen Laufgräben zum Teufel. Die Lage des Landes ist ernst,
und dieses seelische Moment ist zu wichtig, um es unberücksichtigt zu lassen."

Hoffen die Miljukow und die Roditschew durch Überreden und heimliches
Gemurmel über Mißstimmung in der Armee einen Chwostow und einen
Goremvkin umzustimmen? Sie überschätzen ihren Einfluß — und sie sehen
ihren Denkfehler immer noch nicht ein.

Ein Struve hat es neulich noch offen bekannt, daß die Ideale seiner
Partei immer dahin gingen, die Annäherung Rußlands an die westeuropäischen
demokratischen Reiche England und Frankreich unter allen Umständen herbei¬
zuführen — um auf diese Weise die Annäherung Rußlands an die demokratischen
Ideen zu erreichen. „Das konstitutionelle Empfinden in Nußland in der Epoche
der staatlichen Umbildung, die ihren Ausdruck im Manifest vom 17. Oktober
fand, erklärte sich entschieden und off«: als Feind jeglicher Annäherung Ru߬
lands mit Deutschland und forderte umgekehrt bewußt ein Übereinkommen mit
England als Kardinalaufgabe der russischen Politik."

Also die linksstehenden Scheuklappenpolitiker in Rußland haben, wie Struve
damit offen bekennt, ein Jahrzehnt hindurch für den Krieg zwischen Deutschland
und Rußland gekämpft. Sie wollten durch diesen Krieg ihre Ideale verwirk¬
lichen, die sie zu Unrecht durch Deutschland bedroht glaubten, d-'Sö.in offizielle
Politik sich im Grunde genommen nie um die inneren russischen Verhältnisse
gekümmert hatte.

Solche Denkfehler werden hart bestraft. Die Nemesis der Geschichte will
es. daß gerade in diesem Kriege die liberalen Politiker wie Herr Peter Struve
weiter von der Verwirklichung ihrer Ideale entfernt sind, als sie es je waren.
Ja, es ist vielleicht nicht zu kühn zu behaupten, daß die Gedankenarmut dieser
Art Politiker es eines Tages mit sich bringen wird, daß dieselben Herren
Struve, die einst unter deutscher Gastfreundschaft und von deutschem Boden
aus in der Oswoboschdenje für alte freiheitliche Ideale eintraten, dem nächsten
Diktator in Nußland zujauchzen werden, wenn er die Volksinstinkte befriedigt,
und die von diesen Politikern selbst mit Vorbedacht und infolge ihres mangel¬
haften Denkens herbeigeführten Ideale des Hasses gegen Deutschland und die
Deutschen in Rußland aufs neue in praktischen Taten zusammenfaßt und zu
beleben versteht.

Es ist der Bankrott der Parteien, den wir jetzt in Rußland sehen und
es ist zugleich der Bankrott derjenigen Denkart, die uns ein Mitrofcmoff
vor dem Beginn des Krieges so anschaulich schilderte, und die uns während
des ganzen Krieges in der russischen „Gesellschaft" fo deutlich entgegengetreten ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/244>, abgerufen am 22.07.2024.