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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Vie innere Lage in Rußland

zum Ausdruck gekommen. Jeder bedauerte ihn, jeder erkannte klar, daß dieser
Abgang "den Übergang vom Konservatismus zur offenen Reaktion" bedeutete,
kein einziger aber sagte: "Das lassen wir uns nicht länger gefallen." Man
konstatiert wehmütig, daß die Reaktion siegt und hofft auf irgendein Wunder,
daß dem Willen des Volkes gemäß den "unbedingt sicheren" Umschwung her¬
beiführen wird.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die letzten Reichsrats¬
wahlen des Adels, mögen sie mit oder ohne Vertrauensbruch zustande gekommen
sein, jedenfalls die Stellung der Negierung gestärkt haben. Vor den Wahlen
hatte man das Gefühl, daß infolge des bekannten Strukowschen Briefes, der
die Negierung zur Auflösung der Duma aufgefordert hatte, eine ziemlich starke
Opposition in gewissen Adelskreisen eingesetzt hatte und daß diese Kreise bei den
Wahlen womöglich die Oberhand gewinnen könnten. In der Tat standen sich
dann auch zu Beginn der Wahlen die Kräfte der Blockanhänger und der
äußersten Rechten ziemlich gleich gegenüber. Die sogenannte Neidhardtpartei
scheint aber den Ausschlag gegeben und es bewirkt zu haben, daß fast nur
äußerste Rechte gewählt worden sind. So kann sich die Regierung nach wie
vor im Neichsrat auf eine Majorität stützen, die sie ganz zur Verfügung hat,
und jede Maßregel der Duma, die ihr nicht paßt, umwerfen. Das Land hat also
keineswegs im ganzen so reagiert, wie dieKadetten es gehofft und geglaubt hatten.

Was nützt dem gegenüber alles ohnmächtige Zähneknirschen der links¬
stehenden Politiker, was nützen versteckte Drohungen, wie sie der bekannte
Maxim Kowalewski noch neulich in den Birschewyja Wjedomosti veröffentlicht
hat? So schlimm wie jetzt, sagt Kowalewski, habe die Gesetzlosigkeit in Nußland
noch nie geherrscht. Rousseau habe einmal das Gesetz als den Willen des
Volkes definiert, wogegen ein kluger Engländer eine andere, mehr der Realist
angepaßte Definition vorgeschlagen habe: "Das Gesetz sei der Befehl des
Stärkeren an den weniger Starken." Diese Begriffsbestimmung passe ganz
auf die russischen Zustände, denn mit ihr lasse sich auch das gegenwärtige
System rechtfertigen. Kowalewski ruft demgegenüber die Definition eines be¬
kannten Sozialisten in Erinnerung, der die englische Begriffsbestimmung dahin
ergänzt: "Das Gesetz ist zwar ein Befehl des Stärkeren für den Schwachen.
Dieser Befehl ist aber nur solange für den Schwachen bestimmend, als er schwach
ist-" Die Nutzanwendung liegt' auf der Hand. Es ist dasselbe, wie mit dem
einzigen Droschkenkutscher, den man nachts bei Regen auf der Straße trifft
und der einem den doppelten Fahrpreis abnimmt. Man beruhigt sich, weil man
dem Stärkeren weicht. Wie aber, wenn man selbst stärker ist als der Kutscher?

Mit dieser Perspektive endet das Gleichnis -- aber wohl auch die Ge¬
schichte, denn der Kutscher wird wahrscheinlich immer der Stärkere bleiben; der
vom vielen Diskutieren müde russische Politiker wird zu indolent und willens¬
schwach sein, um bis zur nächsten Ecke zu gehen, und dort einen anderen
Kutscher zu suchen.


Vie innere Lage in Rußland

zum Ausdruck gekommen. Jeder bedauerte ihn, jeder erkannte klar, daß dieser
Abgang „den Übergang vom Konservatismus zur offenen Reaktion" bedeutete,
kein einziger aber sagte: „Das lassen wir uns nicht länger gefallen." Man
konstatiert wehmütig, daß die Reaktion siegt und hofft auf irgendein Wunder,
daß dem Willen des Volkes gemäß den „unbedingt sicheren" Umschwung her¬
beiführen wird.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die letzten Reichsrats¬
wahlen des Adels, mögen sie mit oder ohne Vertrauensbruch zustande gekommen
sein, jedenfalls die Stellung der Negierung gestärkt haben. Vor den Wahlen
hatte man das Gefühl, daß infolge des bekannten Strukowschen Briefes, der
die Negierung zur Auflösung der Duma aufgefordert hatte, eine ziemlich starke
Opposition in gewissen Adelskreisen eingesetzt hatte und daß diese Kreise bei den
Wahlen womöglich die Oberhand gewinnen könnten. In der Tat standen sich
dann auch zu Beginn der Wahlen die Kräfte der Blockanhänger und der
äußersten Rechten ziemlich gleich gegenüber. Die sogenannte Neidhardtpartei
scheint aber den Ausschlag gegeben und es bewirkt zu haben, daß fast nur
äußerste Rechte gewählt worden sind. So kann sich die Regierung nach wie
vor im Neichsrat auf eine Majorität stützen, die sie ganz zur Verfügung hat,
und jede Maßregel der Duma, die ihr nicht paßt, umwerfen. Das Land hat also
keineswegs im ganzen so reagiert, wie dieKadetten es gehofft und geglaubt hatten.

Was nützt dem gegenüber alles ohnmächtige Zähneknirschen der links¬
stehenden Politiker, was nützen versteckte Drohungen, wie sie der bekannte
Maxim Kowalewski noch neulich in den Birschewyja Wjedomosti veröffentlicht
hat? So schlimm wie jetzt, sagt Kowalewski, habe die Gesetzlosigkeit in Nußland
noch nie geherrscht. Rousseau habe einmal das Gesetz als den Willen des
Volkes definiert, wogegen ein kluger Engländer eine andere, mehr der Realist
angepaßte Definition vorgeschlagen habe: „Das Gesetz sei der Befehl des
Stärkeren an den weniger Starken." Diese Begriffsbestimmung passe ganz
auf die russischen Zustände, denn mit ihr lasse sich auch das gegenwärtige
System rechtfertigen. Kowalewski ruft demgegenüber die Definition eines be¬
kannten Sozialisten in Erinnerung, der die englische Begriffsbestimmung dahin
ergänzt: „Das Gesetz ist zwar ein Befehl des Stärkeren für den Schwachen.
Dieser Befehl ist aber nur solange für den Schwachen bestimmend, als er schwach
ist-" Die Nutzanwendung liegt' auf der Hand. Es ist dasselbe, wie mit dem
einzigen Droschkenkutscher, den man nachts bei Regen auf der Straße trifft
und der einem den doppelten Fahrpreis abnimmt. Man beruhigt sich, weil man
dem Stärkeren weicht. Wie aber, wenn man selbst stärker ist als der Kutscher?

Mit dieser Perspektive endet das Gleichnis — aber wohl auch die Ge¬
schichte, denn der Kutscher wird wahrscheinlich immer der Stärkere bleiben; der
vom vielen Diskutieren müde russische Politiker wird zu indolent und willens¬
schwach sein, um bis zur nächsten Ecke zu gehen, und dort einen anderen
Kutscher zu suchen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/243>, abgerufen am 22.07.2024.