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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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gierung. In diesem sind wir in den Prinzipien des Kampfes selbst be¬
hindert, denn wir können nicht zu Schritten unsere Zuflucht nehmen, die eine
Desorganisation befördern." Mandelstamm, der die Ideen der radikalen Ele¬
mente zum Ausdruck brachte, rief ihm demgegenüber zu: "Geduld ist ja ganz
schön, aber die Majorität muß mit der Minorität rechnenI" d. h. wir haben
es satt, die Blockpolitik, die doch zu nichts führt, weiter mitzumachen. Miljukow,
der noch einmal mit Erfolg die Gegensätze der Partei zusammengekleistert hat,
vermochte doch nicht, seinen Anhängern ein positives Kampfesziel und eine neue
Methode des Kampfes zu zeigen: "Chwostows Taktik ist demagogisch, das Volk
ist für das Blockprogramm, hinter unserer Partei steht das Land, wir gehen
langsam vor und wir werden unter Beibehaltung unserer gegenwärtigen Me¬
thoden die Ideale der ersten Duma ins Leben rufen;" so etwa ist sein Ge¬
dankengang, -- wie er aber das machen will, verrät er seinen Zuhörern nicht.
"Mit Europas Freiheit wird auch daß russische Volk frei sein," daß ist die
Phrase, die über die innere Hilfslosigkeit der Partei hinwegtäuschen will, und
die den linken Flügel, der eine revolutionäre Taktik wünscht, zur Ruhe bringen
soll. Wie lange dieses Mittel den Auseinanderfall der Partei aufhalten, wie
lange die Lügenhaftigkeit dieser Phrase einer ernsthafterer Kritik standhalten
wird, ist eine osiene Frage. --

Die Progressisten und die Arbeiterparteien führen eine energischere Sprache.
"Baldigster Zusammentritt der Neichsduma angesichts des Ernstes des Augen¬
blicks" ist die Losung, die sie bei ihrer Beratung ausgegeben haben. Das alte
Requisit des verantwortlichen Ministeriums wird von ihnen von neuem hervor¬
geholt. Der Ausruf der Akselrod und Genossen, die im Gegensatz zu Plcchanow
den unerbittlichen Kampf mit Zarismus und Bürokratie fordern, geht parallel
mit dem Beschluß der allerdings schwachen Mehrheit der Arbeiterdelegierten,
eine Wahl von Arbeitervertretcrn in die kriegswirtschaftlichen Komitees nicht
vorzunehmen. Ein Umschwung scheint sich also hier anzukündigen. --

Trotzdem dürfen diese Strömungen in ihrer Wirkung nicht überschätzt
weiden. Denn was bedeuten alle Resolutionen der Progressisten und Arbeiter,
wenn die großen politischen Parteien in ihrer Untätigkeit verharren und wenn
das "Land" (Semlja) von Hoffnungslosigkeit und Ideenarmut angekränkelt,
allmählich zu Stimmungen der Stolypin scheu Zeiten bewußt zurückgeführt wird.
Auf der einen Seite Pogromluft und Provokation, wie sie in dem Briefe des
Astrachaner Schwarzen Hundert-Politikers Tichanowitsch'Sawitzky zum Ausdruck
kommt, auf der anderen Seite wachsende Indolenz und Verwirrung der Geister.
"Die Ruhe kann zur Indifferenz werden, und darüber brauchen wir uns nicht
zu freuen," so heißt es in der Rjetsch vom 1. November. Es gibt schon jetzt
Politiker auf dem platten Lande, die sich vom Block abkehren, den politischen
Kampf aufgeben und nur noch an das -- "Land und seinen Sieg glauben",
d. h. den Diktator herbeisehnen, der diesen Sieg organisiert.

Die Stimmung der Öffentlichkeit ist so recht bei dem Abgang Kriwoscheins


gierung. In diesem sind wir in den Prinzipien des Kampfes selbst be¬
hindert, denn wir können nicht zu Schritten unsere Zuflucht nehmen, die eine
Desorganisation befördern." Mandelstamm, der die Ideen der radikalen Ele¬
mente zum Ausdruck brachte, rief ihm demgegenüber zu: „Geduld ist ja ganz
schön, aber die Majorität muß mit der Minorität rechnenI" d. h. wir haben
es satt, die Blockpolitik, die doch zu nichts führt, weiter mitzumachen. Miljukow,
der noch einmal mit Erfolg die Gegensätze der Partei zusammengekleistert hat,
vermochte doch nicht, seinen Anhängern ein positives Kampfesziel und eine neue
Methode des Kampfes zu zeigen: „Chwostows Taktik ist demagogisch, das Volk
ist für das Blockprogramm, hinter unserer Partei steht das Land, wir gehen
langsam vor und wir werden unter Beibehaltung unserer gegenwärtigen Me¬
thoden die Ideale der ersten Duma ins Leben rufen;" so etwa ist sein Ge¬
dankengang, — wie er aber das machen will, verrät er seinen Zuhörern nicht.
„Mit Europas Freiheit wird auch daß russische Volk frei sein," daß ist die
Phrase, die über die innere Hilfslosigkeit der Partei hinwegtäuschen will, und
die den linken Flügel, der eine revolutionäre Taktik wünscht, zur Ruhe bringen
soll. Wie lange dieses Mittel den Auseinanderfall der Partei aufhalten, wie
lange die Lügenhaftigkeit dieser Phrase einer ernsthafterer Kritik standhalten
wird, ist eine osiene Frage. —

Die Progressisten und die Arbeiterparteien führen eine energischere Sprache.
„Baldigster Zusammentritt der Neichsduma angesichts des Ernstes des Augen¬
blicks" ist die Losung, die sie bei ihrer Beratung ausgegeben haben. Das alte
Requisit des verantwortlichen Ministeriums wird von ihnen von neuem hervor¬
geholt. Der Ausruf der Akselrod und Genossen, die im Gegensatz zu Plcchanow
den unerbittlichen Kampf mit Zarismus und Bürokratie fordern, geht parallel
mit dem Beschluß der allerdings schwachen Mehrheit der Arbeiterdelegierten,
eine Wahl von Arbeitervertretcrn in die kriegswirtschaftlichen Komitees nicht
vorzunehmen. Ein Umschwung scheint sich also hier anzukündigen. —

Trotzdem dürfen diese Strömungen in ihrer Wirkung nicht überschätzt
weiden. Denn was bedeuten alle Resolutionen der Progressisten und Arbeiter,
wenn die großen politischen Parteien in ihrer Untätigkeit verharren und wenn
das „Land" (Semlja) von Hoffnungslosigkeit und Ideenarmut angekränkelt,
allmählich zu Stimmungen der Stolypin scheu Zeiten bewußt zurückgeführt wird.
Auf der einen Seite Pogromluft und Provokation, wie sie in dem Briefe des
Astrachaner Schwarzen Hundert-Politikers Tichanowitsch'Sawitzky zum Ausdruck
kommt, auf der anderen Seite wachsende Indolenz und Verwirrung der Geister.
„Die Ruhe kann zur Indifferenz werden, und darüber brauchen wir uns nicht
zu freuen," so heißt es in der Rjetsch vom 1. November. Es gibt schon jetzt
Politiker auf dem platten Lande, die sich vom Block abkehren, den politischen
Kampf aufgeben und nur noch an das — „Land und seinen Sieg glauben",
d. h. den Diktator herbeisehnen, der diesen Sieg organisiert.

Die Stimmung der Öffentlichkeit ist so recht bei dem Abgang Kriwoscheins


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/242>, abgerufen am 24.08.2024.