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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Um keinen Preis wollte Karl ein Franzose, ein Prinz von Geblüt sein.
Der Urenkel Philipp des Kühnen, der sich als unentbehrlichen Pfeiler des
Königsthrones angesehen hatte, erklärte, daß ihm sechs französische Könige
lieber wären als einer. Wieder und wieder führte er seine Heere gegen den
Lehnsherrn. Ludwig der Elfte mußte die beschämendsten Demütigungen hin¬
nehmen, die je ein Lilienfürst erfahren hat. Als er gezwungen wurde, im
Gefolge Karls dem Strafgericht über seine Bundesgenossen, die Bürger von
Lüttich, beizuwohnen, da verblaßte sogar der Auftritt in der Kathedrale zu
Arras, da der Kanzler im Namen des Königs für die Ermordung Johanns
ohne Furcht kniefällig um Verzeihung bat. Nur mit Aufbietung aller Kräfte
und Anwendung aller Künste und Mittel, dank den Fehlern, die der unbedachte
Gegner selbst beging, vermochte Ludwig der Elfte den Thron der Valois aus
den Kriegsstürmen zu retten, die über Frankreich dahinbrausten.

Siegreich gegen Ludwig den Elster, im Besitz der Sommestädte, der
"Schlüssel Frankreichs", wandte Karl sein begehrliches Auge gegen Deutschland
hin, für ihn das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Geldverlegen¬
heiten Sigmunds von Habsburg verschafften ihm die österreichischen Vorlande.
Der Sundgau und die Grafschaft Pfirt kamen unter burgundische Verwaltung.
Der Plan, den schon Philipp der Kühne, dann Johann ohne Furcht betrieben
hatte, die ersehnte Verbindung zwischen den burgundischen und den nieder¬
ländischen Gebieten herzustellen, erschien um ein Beträchtliches gefördert.

Streitigkeiten in der geldrischen Herzogsfamilie bildeten einen willkommenen
Anlaß, sich des Herzogtums zu bemächtigen, dessen zwischen Maas und Mosel
vorgeschobene Spitze sowohl Brabant als Holland bedrohte. Damit drang der
burgundische Staat auch an den Niederrhein vor.

Weder die Einäscherung der deutschen Bischofsstadt Lüttich, noch die Er¬
oberung des deutschen Herzogtums Geldern raubten Kaiser Friedrich seine Ruhe:
kein kriegerisches Vorgehen, sondern Verhandlungen, Verhandlungen. Denn
die Hand der Prinzessin Maria, des einzigen Kindes des Herzog-Grafen,
winkte als köstlicher Preis. Karl ging mit seinen Forderungen immer weiter.
Es handelte sich für ihn nicht mehr darum, als König über seine mannig¬
fachen Gebiete zu herrschen, er wollte römischer König, Vikar des Kaisers
werden. Um die Königskrone zu erhalten, traf er mit dem Habsburger in
Trier zusammen. Doch als ungekrönter König verließ er wieder die Stadt.
Auch der Krieg, den er gegen das Reich führte, endete mit einem Mißerfolg:
in elfmonatiger heldenmütiger Verteidigung widerstand Neuß allen An¬
griffen.

Mit Entsetzen schaute das deutsche Volk auf den dämonischen Fürsten.

War ein neuer Alexander der Große erschienen, dessen Eroberungslust
keine Grenzen kannte? War der Antichrist gekommen?

Karl wandte sich jetzt gegen Lothringen. Diese wichtige Einfallspforte nach
Frankreich mußte genommen werden. Dann sollte die Provence an die Reihe


Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Um keinen Preis wollte Karl ein Franzose, ein Prinz von Geblüt sein.
Der Urenkel Philipp des Kühnen, der sich als unentbehrlichen Pfeiler des
Königsthrones angesehen hatte, erklärte, daß ihm sechs französische Könige
lieber wären als einer. Wieder und wieder führte er seine Heere gegen den
Lehnsherrn. Ludwig der Elfte mußte die beschämendsten Demütigungen hin¬
nehmen, die je ein Lilienfürst erfahren hat. Als er gezwungen wurde, im
Gefolge Karls dem Strafgericht über seine Bundesgenossen, die Bürger von
Lüttich, beizuwohnen, da verblaßte sogar der Auftritt in der Kathedrale zu
Arras, da der Kanzler im Namen des Königs für die Ermordung Johanns
ohne Furcht kniefällig um Verzeihung bat. Nur mit Aufbietung aller Kräfte
und Anwendung aller Künste und Mittel, dank den Fehlern, die der unbedachte
Gegner selbst beging, vermochte Ludwig der Elfte den Thron der Valois aus
den Kriegsstürmen zu retten, die über Frankreich dahinbrausten.

Siegreich gegen Ludwig den Elster, im Besitz der Sommestädte, der
„Schlüssel Frankreichs", wandte Karl sein begehrliches Auge gegen Deutschland
hin, für ihn das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Geldverlegen¬
heiten Sigmunds von Habsburg verschafften ihm die österreichischen Vorlande.
Der Sundgau und die Grafschaft Pfirt kamen unter burgundische Verwaltung.
Der Plan, den schon Philipp der Kühne, dann Johann ohne Furcht betrieben
hatte, die ersehnte Verbindung zwischen den burgundischen und den nieder¬
ländischen Gebieten herzustellen, erschien um ein Beträchtliches gefördert.

Streitigkeiten in der geldrischen Herzogsfamilie bildeten einen willkommenen
Anlaß, sich des Herzogtums zu bemächtigen, dessen zwischen Maas und Mosel
vorgeschobene Spitze sowohl Brabant als Holland bedrohte. Damit drang der
burgundische Staat auch an den Niederrhein vor.

Weder die Einäscherung der deutschen Bischofsstadt Lüttich, noch die Er¬
oberung des deutschen Herzogtums Geldern raubten Kaiser Friedrich seine Ruhe:
kein kriegerisches Vorgehen, sondern Verhandlungen, Verhandlungen. Denn
die Hand der Prinzessin Maria, des einzigen Kindes des Herzog-Grafen,
winkte als köstlicher Preis. Karl ging mit seinen Forderungen immer weiter.
Es handelte sich für ihn nicht mehr darum, als König über seine mannig¬
fachen Gebiete zu herrschen, er wollte römischer König, Vikar des Kaisers
werden. Um die Königskrone zu erhalten, traf er mit dem Habsburger in
Trier zusammen. Doch als ungekrönter König verließ er wieder die Stadt.
Auch der Krieg, den er gegen das Reich führte, endete mit einem Mißerfolg:
in elfmonatiger heldenmütiger Verteidigung widerstand Neuß allen An¬
griffen.

Mit Entsetzen schaute das deutsche Volk auf den dämonischen Fürsten.

War ein neuer Alexander der Große erschienen, dessen Eroberungslust
keine Grenzen kannte? War der Antichrist gekommen?

Karl wandte sich jetzt gegen Lothringen. Diese wichtige Einfallspforte nach
Frankreich mußte genommen werden. Dann sollte die Provence an die Reihe


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[0210] Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor Um keinen Preis wollte Karl ein Franzose, ein Prinz von Geblüt sein. Der Urenkel Philipp des Kühnen, der sich als unentbehrlichen Pfeiler des Königsthrones angesehen hatte, erklärte, daß ihm sechs französische Könige lieber wären als einer. Wieder und wieder führte er seine Heere gegen den Lehnsherrn. Ludwig der Elfte mußte die beschämendsten Demütigungen hin¬ nehmen, die je ein Lilienfürst erfahren hat. Als er gezwungen wurde, im Gefolge Karls dem Strafgericht über seine Bundesgenossen, die Bürger von Lüttich, beizuwohnen, da verblaßte sogar der Auftritt in der Kathedrale zu Arras, da der Kanzler im Namen des Königs für die Ermordung Johanns ohne Furcht kniefällig um Verzeihung bat. Nur mit Aufbietung aller Kräfte und Anwendung aller Künste und Mittel, dank den Fehlern, die der unbedachte Gegner selbst beging, vermochte Ludwig der Elfte den Thron der Valois aus den Kriegsstürmen zu retten, die über Frankreich dahinbrausten. Siegreich gegen Ludwig den Elster, im Besitz der Sommestädte, der „Schlüssel Frankreichs", wandte Karl sein begehrliches Auge gegen Deutschland hin, für ihn das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Geldverlegen¬ heiten Sigmunds von Habsburg verschafften ihm die österreichischen Vorlande. Der Sundgau und die Grafschaft Pfirt kamen unter burgundische Verwaltung. Der Plan, den schon Philipp der Kühne, dann Johann ohne Furcht betrieben hatte, die ersehnte Verbindung zwischen den burgundischen und den nieder¬ ländischen Gebieten herzustellen, erschien um ein Beträchtliches gefördert. Streitigkeiten in der geldrischen Herzogsfamilie bildeten einen willkommenen Anlaß, sich des Herzogtums zu bemächtigen, dessen zwischen Maas und Mosel vorgeschobene Spitze sowohl Brabant als Holland bedrohte. Damit drang der burgundische Staat auch an den Niederrhein vor. Weder die Einäscherung der deutschen Bischofsstadt Lüttich, noch die Er¬ oberung des deutschen Herzogtums Geldern raubten Kaiser Friedrich seine Ruhe: kein kriegerisches Vorgehen, sondern Verhandlungen, Verhandlungen. Denn die Hand der Prinzessin Maria, des einzigen Kindes des Herzog-Grafen, winkte als köstlicher Preis. Karl ging mit seinen Forderungen immer weiter. Es handelte sich für ihn nicht mehr darum, als König über seine mannig¬ fachen Gebiete zu herrschen, er wollte römischer König, Vikar des Kaisers werden. Um die Königskrone zu erhalten, traf er mit dem Habsburger in Trier zusammen. Doch als ungekrönter König verließ er wieder die Stadt. Auch der Krieg, den er gegen das Reich führte, endete mit einem Mißerfolg: in elfmonatiger heldenmütiger Verteidigung widerstand Neuß allen An¬ griffen. Mit Entsetzen schaute das deutsche Volk auf den dämonischen Fürsten. War ein neuer Alexander der Große erschienen, dessen Eroberungslust keine Grenzen kannte? War der Antichrist gekommen? Karl wandte sich jetzt gegen Lothringen. Diese wichtige Einfallspforte nach Frankreich mußte genommen werden. Dann sollte die Provence an die Reihe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/210>, abgerufen am 24.08.2024.