Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor

das flache Land, das sie nicht aufkommen lassen wollten, bald untereinander,
eine große Stadt gegen die andere, die großen gegen die kleinen Städte.' Inner¬
halb der Stadt standen sich Patrizier und Zünfte voller Grimm gegenüber;
innerhalb der Zünfte lagen sich die Tucharbeiter und die anderen Handwerker
fortwährend in den Haaren, innerhalb der Tucharbeiter wieder Weber und
Walker. Harte und wilde Gesellen, deren Hand flugs zum Messer greift;,
stets zu Aufruhr geneigt. Das wüste Prügeln und Raufen, das zum täglichen
Essen und Trinken gehörte, veranlaßte heimische Gelehrte des sechszehnten
Jahrhunderts, den Namen Belgien von "Balgen" abzuleiten.

Der neue Herr lernte seine Untertanen von ihrer schlechten Seite kennen.
Als Herzog Philipp im Jahre 1384, fünfzehn Jahre nach seiner Vermählung
mit der Gräfin Margarethe, zur Negierung berufen wurde, tobte in Flandern
seit Jahren ein gräßlicher Bürgerkrieg. Es schien, als ob das Schicksal den
französischen Prinzen gleich auf die Probe stellen wollte, ob er auch den
schwierigsten Aufgaben gewachsen sei. Philipp bestand die Probe. Mit Fug
und Recht kann man ihn als den Gründer des burgundischen Staates preisen.

Mit den Waffen in der Hand mußte sich Philipp den Gehorsam in
Flandern erzwingen. Sobald es aber ging, steckte er das Schwert in die
Scheide und wandte sich der Friedensarbeit zu. Die Grafschaft war furchtbar
verwüstet; weit und breit waren die Potter durch den Durchstich der Dämme
vom Meer überflutet; Wölfe hausten auf den Feldern. Da hieß es bald¬
möglichst Ordnung und Ruhe wieder herstellen, den Parteihader dämpfen.
Philipps in Burgund erprobte Beamtenschaft bewährte sich auch hier vortrefflich.
Auf jede Weise wurden Landwirtschaft, Handel und Industrie gefördert. Neue
Verordnungen für die Tucharbeiter wurden erlassen, neue Privilegien suchten
den gemeinen Kaufmann, namentlich den Hansen, wieder in das Land zu
ziehen.

Von besonderer Wichtigkeit waren die Veränderungen auf dem Gebiete
der Veifassung. Philipp rief die "Ratskammer" in das Leben, die für die
Nechtssprechung sowie für die allgemeine und Finanz - Verwaltung sorgte.
Sie war nach den aus Frankreich entnommenen Prinzipien der Kollegialität
und des Berufsbeamtentums, der Ständigkeit und der Arbeitsteilung gebildet
und erstreckte ihre Zuständigkeit nicht nur über die Grafschaft Flandern,
sondern auch über Welschflandern und Artois, Mecheln und Antwerpen. Damit
waren die Anfänge einer vorzüglichen, auf die Zentralisation hinzielenden Ver¬
waltung getroffen.

Bei der Durchführung aller dieser Maßregeln trachtete Philipp mit den
drei anspruchsvollen Kommunen Gent, Brügge und Upern in Frieden auszu¬
kommen. Er kam ihnen entgegen, wenn die Lage es erforderte. Gleichzeitig
spielte er aber gegen ihre absolutistischen Herrschaftsgelüste den Freiheitsdrang
der kleinen Städte und der Bauern, die Wünsche des beiseite geschobenen Avels
aus. Es war nur in seinem Sinn, wenn neben "alle cirie leäe van


N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor

das flache Land, das sie nicht aufkommen lassen wollten, bald untereinander,
eine große Stadt gegen die andere, die großen gegen die kleinen Städte.' Inner¬
halb der Stadt standen sich Patrizier und Zünfte voller Grimm gegenüber;
innerhalb der Zünfte lagen sich die Tucharbeiter und die anderen Handwerker
fortwährend in den Haaren, innerhalb der Tucharbeiter wieder Weber und
Walker. Harte und wilde Gesellen, deren Hand flugs zum Messer greift;,
stets zu Aufruhr geneigt. Das wüste Prügeln und Raufen, das zum täglichen
Essen und Trinken gehörte, veranlaßte heimische Gelehrte des sechszehnten
Jahrhunderts, den Namen Belgien von „Balgen" abzuleiten.

Der neue Herr lernte seine Untertanen von ihrer schlechten Seite kennen.
Als Herzog Philipp im Jahre 1384, fünfzehn Jahre nach seiner Vermählung
mit der Gräfin Margarethe, zur Negierung berufen wurde, tobte in Flandern
seit Jahren ein gräßlicher Bürgerkrieg. Es schien, als ob das Schicksal den
französischen Prinzen gleich auf die Probe stellen wollte, ob er auch den
schwierigsten Aufgaben gewachsen sei. Philipp bestand die Probe. Mit Fug
und Recht kann man ihn als den Gründer des burgundischen Staates preisen.

Mit den Waffen in der Hand mußte sich Philipp den Gehorsam in
Flandern erzwingen. Sobald es aber ging, steckte er das Schwert in die
Scheide und wandte sich der Friedensarbeit zu. Die Grafschaft war furchtbar
verwüstet; weit und breit waren die Potter durch den Durchstich der Dämme
vom Meer überflutet; Wölfe hausten auf den Feldern. Da hieß es bald¬
möglichst Ordnung und Ruhe wieder herstellen, den Parteihader dämpfen.
Philipps in Burgund erprobte Beamtenschaft bewährte sich auch hier vortrefflich.
Auf jede Weise wurden Landwirtschaft, Handel und Industrie gefördert. Neue
Verordnungen für die Tucharbeiter wurden erlassen, neue Privilegien suchten
den gemeinen Kaufmann, namentlich den Hansen, wieder in das Land zu
ziehen.

Von besonderer Wichtigkeit waren die Veränderungen auf dem Gebiete
der Veifassung. Philipp rief die „Ratskammer" in das Leben, die für die
Nechtssprechung sowie für die allgemeine und Finanz - Verwaltung sorgte.
Sie war nach den aus Frankreich entnommenen Prinzipien der Kollegialität
und des Berufsbeamtentums, der Ständigkeit und der Arbeitsteilung gebildet
und erstreckte ihre Zuständigkeit nicht nur über die Grafschaft Flandern,
sondern auch über Welschflandern und Artois, Mecheln und Antwerpen. Damit
waren die Anfänge einer vorzüglichen, auf die Zentralisation hinzielenden Ver¬
waltung getroffen.

Bei der Durchführung aller dieser Maßregeln trachtete Philipp mit den
drei anspruchsvollen Kommunen Gent, Brügge und Upern in Frieden auszu¬
kommen. Er kam ihnen entgegen, wenn die Lage es erforderte. Gleichzeitig
spielte er aber gegen ihre absolutistischen Herrschaftsgelüste den Freiheitsdrang
der kleinen Städte und der Bauern, die Wünsche des beiseite geschobenen Avels
aus. Es war nur in seinem Sinn, wenn neben „alle cirie leäe van


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324559"/>
          <fw type="header" place="top"> N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_492" prev="#ID_491"> das flache Land, das sie nicht aufkommen lassen wollten, bald untereinander,<lb/>
eine große Stadt gegen die andere, die großen gegen die kleinen Städte.' Inner¬<lb/>
halb der Stadt standen sich Patrizier und Zünfte voller Grimm gegenüber;<lb/>
innerhalb der Zünfte lagen sich die Tucharbeiter und die anderen Handwerker<lb/>
fortwährend in den Haaren, innerhalb der Tucharbeiter wieder Weber und<lb/>
Walker. Harte und wilde Gesellen, deren Hand flugs zum Messer greift;,<lb/>
stets zu Aufruhr geneigt. Das wüste Prügeln und Raufen, das zum täglichen<lb/>
Essen und Trinken gehörte, veranlaßte heimische Gelehrte des sechszehnten<lb/>
Jahrhunderts, den Namen Belgien von &#x201E;Balgen" abzuleiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_493"> Der neue Herr lernte seine Untertanen von ihrer schlechten Seite kennen.<lb/>
Als Herzog Philipp im Jahre 1384, fünfzehn Jahre nach seiner Vermählung<lb/>
mit der Gräfin Margarethe, zur Negierung berufen wurde, tobte in Flandern<lb/>
seit Jahren ein gräßlicher Bürgerkrieg. Es schien, als ob das Schicksal den<lb/>
französischen Prinzen gleich auf die Probe stellen wollte, ob er auch den<lb/>
schwierigsten Aufgaben gewachsen sei. Philipp bestand die Probe. Mit Fug<lb/>
und Recht kann man ihn als den Gründer des burgundischen Staates preisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_494"> Mit den Waffen in der Hand mußte sich Philipp den Gehorsam in<lb/>
Flandern erzwingen. Sobald es aber ging, steckte er das Schwert in die<lb/>
Scheide und wandte sich der Friedensarbeit zu. Die Grafschaft war furchtbar<lb/>
verwüstet; weit und breit waren die Potter durch den Durchstich der Dämme<lb/>
vom Meer überflutet; Wölfe hausten auf den Feldern. Da hieß es bald¬<lb/>
möglichst Ordnung und Ruhe wieder herstellen, den Parteihader dämpfen.<lb/>
Philipps in Burgund erprobte Beamtenschaft bewährte sich auch hier vortrefflich.<lb/>
Auf jede Weise wurden Landwirtschaft, Handel und Industrie gefördert. Neue<lb/>
Verordnungen für die Tucharbeiter wurden erlassen, neue Privilegien suchten<lb/>
den gemeinen Kaufmann, namentlich den Hansen, wieder in das Land zu<lb/>
ziehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_495"> Von besonderer Wichtigkeit waren die Veränderungen auf dem Gebiete<lb/>
der Veifassung. Philipp rief die &#x201E;Ratskammer" in das Leben, die für die<lb/>
Nechtssprechung sowie für die allgemeine und Finanz - Verwaltung sorgte.<lb/>
Sie war nach den aus Frankreich entnommenen Prinzipien der Kollegialität<lb/>
und des Berufsbeamtentums, der Ständigkeit und der Arbeitsteilung gebildet<lb/>
und erstreckte ihre Zuständigkeit nicht nur über die Grafschaft Flandern,<lb/>
sondern auch über Welschflandern und Artois, Mecheln und Antwerpen. Damit<lb/>
waren die Anfänge einer vorzüglichen, auf die Zentralisation hinzielenden Ver¬<lb/>
waltung getroffen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_496" next="#ID_497"> Bei der Durchführung aller dieser Maßregeln trachtete Philipp mit den<lb/>
drei anspruchsvollen Kommunen Gent, Brügge und Upern in Frieden auszu¬<lb/>
kommen. Er kam ihnen entgegen, wenn die Lage es erforderte. Gleichzeitig<lb/>
spielte er aber gegen ihre absolutistischen Herrschaftsgelüste den Freiheitsdrang<lb/>
der kleinen Städte und der Bauern, die Wünsche des beiseite geschobenen Avels<lb/>
aus.  Es war nur in seinem Sinn, wenn neben &#x201E;alle cirie leäe van</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0150] N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor das flache Land, das sie nicht aufkommen lassen wollten, bald untereinander, eine große Stadt gegen die andere, die großen gegen die kleinen Städte.' Inner¬ halb der Stadt standen sich Patrizier und Zünfte voller Grimm gegenüber; innerhalb der Zünfte lagen sich die Tucharbeiter und die anderen Handwerker fortwährend in den Haaren, innerhalb der Tucharbeiter wieder Weber und Walker. Harte und wilde Gesellen, deren Hand flugs zum Messer greift;, stets zu Aufruhr geneigt. Das wüste Prügeln und Raufen, das zum täglichen Essen und Trinken gehörte, veranlaßte heimische Gelehrte des sechszehnten Jahrhunderts, den Namen Belgien von „Balgen" abzuleiten. Der neue Herr lernte seine Untertanen von ihrer schlechten Seite kennen. Als Herzog Philipp im Jahre 1384, fünfzehn Jahre nach seiner Vermählung mit der Gräfin Margarethe, zur Negierung berufen wurde, tobte in Flandern seit Jahren ein gräßlicher Bürgerkrieg. Es schien, als ob das Schicksal den französischen Prinzen gleich auf die Probe stellen wollte, ob er auch den schwierigsten Aufgaben gewachsen sei. Philipp bestand die Probe. Mit Fug und Recht kann man ihn als den Gründer des burgundischen Staates preisen. Mit den Waffen in der Hand mußte sich Philipp den Gehorsam in Flandern erzwingen. Sobald es aber ging, steckte er das Schwert in die Scheide und wandte sich der Friedensarbeit zu. Die Grafschaft war furchtbar verwüstet; weit und breit waren die Potter durch den Durchstich der Dämme vom Meer überflutet; Wölfe hausten auf den Feldern. Da hieß es bald¬ möglichst Ordnung und Ruhe wieder herstellen, den Parteihader dämpfen. Philipps in Burgund erprobte Beamtenschaft bewährte sich auch hier vortrefflich. Auf jede Weise wurden Landwirtschaft, Handel und Industrie gefördert. Neue Verordnungen für die Tucharbeiter wurden erlassen, neue Privilegien suchten den gemeinen Kaufmann, namentlich den Hansen, wieder in das Land zu ziehen. Von besonderer Wichtigkeit waren die Veränderungen auf dem Gebiete der Veifassung. Philipp rief die „Ratskammer" in das Leben, die für die Nechtssprechung sowie für die allgemeine und Finanz - Verwaltung sorgte. Sie war nach den aus Frankreich entnommenen Prinzipien der Kollegialität und des Berufsbeamtentums, der Ständigkeit und der Arbeitsteilung gebildet und erstreckte ihre Zuständigkeit nicht nur über die Grafschaft Flandern, sondern auch über Welschflandern und Artois, Mecheln und Antwerpen. Damit waren die Anfänge einer vorzüglichen, auf die Zentralisation hinzielenden Ver¬ waltung getroffen. Bei der Durchführung aller dieser Maßregeln trachtete Philipp mit den drei anspruchsvollen Kommunen Gent, Brügge und Upern in Frieden auszu¬ kommen. Er kam ihnen entgegen, wenn die Lage es erforderte. Gleichzeitig spielte er aber gegen ihre absolutistischen Herrschaftsgelüste den Freiheitsdrang der kleinen Städte und der Bauern, die Wünsche des beiseite geschobenen Avels aus. Es war nur in seinem Sinn, wenn neben „alle cirie leäe van

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/150
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/150>, abgerufen am 22.07.2024.