Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
tvie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Gent war damals politisch die maßgebende Stadt in Flandern,
Brügge der Markt und der Umschlageplatz für die gesamte Handelswelt. In
den zahlreichen lxquemen Liegeplätzen des Zom, der noch nicht versandet war,
gingen die Karacken der Genuesen und die Galeeren der Venetianer und Floren¬
tiner, die Koggen aus Hamburg, Lübeck und Danzig, die Busen der Herings¬
fänger vor Anker. In kluger Beschränkung verzichteten die Bürger früh auf
eigene Schiffahrt und nahmen auch an dem Großhandel nur geringen Anteil,
um sich als Zwischenhändler, namentlich als Makler, dann auch als Wechsler
und Wirte, als Schauer und Träger ihren Gästen zu widmen. Die Fremden,
die aus allen Himmelsgegenden stammten, besaßen ihre eigenen stattlichen
Häuser und "Logen", die ganze Straßenreiheu einnahmen. Im Karmeliter-
kloster hielt das Kondor der Hanse seine Sitzungen ab und wahrte mit Nach¬
druck die Interessen des deutschen Kaufmanns. Alles Wünschbare ward in
Brügge feilgeboten: Spezereien und Luxuswaren des Orients neben den Wald-
erzeugnissen der nordischen Reiche, englische Wolle und Kohle neben den Edel¬
metallen Böhmens und Ungarns, russische Felle. Segeltuch aus Navarra "eben
Goldbrokat aus der Tartarei und köstlicher Seide; Zucker ans Marokko neben
Früchten, die in Granada und Andalusien gereift waren; feurige Weine aus
Cypern und Burgund lagerten neben den milden Gewächsen des Rheingaus
und des Poitou.

Keines der geräumigen fremden Fahrzeuge kehrte in die Heimat zurück,
ohne von den berühmten flandrischen Tücher mitzunehmen, die allenthalben
ihrer unübertroffenen Güte wegen reißend Absatz fanden. Bei recht ungünstigen
Beihältnissen zählte man einmal in Gent noch über 2000 Wichestühle, die in
Tätigkeit waren. Bis 92000 Blcisiegel brauchte man jährlich in Upern zur
behördlichen Kontrolle der Stoffe. Mit verschwenderischer Pracht, wie sie der
gotische Stil nur entfalten kann, erbauten die Uperner auf dem Grooten Markt
ihre Tuchhalle. Die drohenden Zinnen über dem reichen Schmuckwerk führen
eine deutliche Sprache.

Farbenreich und vielgestaltig entwickelte sich das Bürgertum in solchen
breiten und wohlhabenden Verhältnissen. Seine guten Eigenschaften werden
von den Zeitgenossen hoch erhoben, getadelt aber auch sein unerträglicher Stolz,
die nie versiegende Streitsucht. Als das Wahrzeichen städtischer Freiheit prangte
der trotzige Belfried; nur allzuhäufig heulten seine Glocken in Aufruhr und
Kampf, wenn der Bürger gegen den Landesherrn und den Adel sich erhob.
Bei jeder Gelegenheit betrübten sich die Städte, die gräfliche Gewalt zu
brechen. Und gelang es ihnen auch nicht, gleichwie ihren deutschen Schwestern,
den freien Reichsstädte,,. Staaten im Staate zu werden, so erfreuten sie sich
doch einer Unabhängigkeit, wie sie Frankreich nicht kannte. Unheilvoll für
Flandern war nur, daß dem Freiheitsgelüste der Bewohner ihr Egoismus
entsprach. Nie herrschte völliger Friede, durch fortwährenden Hader zerfleischte
das Land sich selbst. Bald kämpften die Städte gegen den Grafen, bald gegen


tvie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Gent war damals politisch die maßgebende Stadt in Flandern,
Brügge der Markt und der Umschlageplatz für die gesamte Handelswelt. In
den zahlreichen lxquemen Liegeplätzen des Zom, der noch nicht versandet war,
gingen die Karacken der Genuesen und die Galeeren der Venetianer und Floren¬
tiner, die Koggen aus Hamburg, Lübeck und Danzig, die Busen der Herings¬
fänger vor Anker. In kluger Beschränkung verzichteten die Bürger früh auf
eigene Schiffahrt und nahmen auch an dem Großhandel nur geringen Anteil,
um sich als Zwischenhändler, namentlich als Makler, dann auch als Wechsler
und Wirte, als Schauer und Träger ihren Gästen zu widmen. Die Fremden,
die aus allen Himmelsgegenden stammten, besaßen ihre eigenen stattlichen
Häuser und „Logen", die ganze Straßenreiheu einnahmen. Im Karmeliter-
kloster hielt das Kondor der Hanse seine Sitzungen ab und wahrte mit Nach¬
druck die Interessen des deutschen Kaufmanns. Alles Wünschbare ward in
Brügge feilgeboten: Spezereien und Luxuswaren des Orients neben den Wald-
erzeugnissen der nordischen Reiche, englische Wolle und Kohle neben den Edel¬
metallen Böhmens und Ungarns, russische Felle. Segeltuch aus Navarra „eben
Goldbrokat aus der Tartarei und köstlicher Seide; Zucker ans Marokko neben
Früchten, die in Granada und Andalusien gereift waren; feurige Weine aus
Cypern und Burgund lagerten neben den milden Gewächsen des Rheingaus
und des Poitou.

Keines der geräumigen fremden Fahrzeuge kehrte in die Heimat zurück,
ohne von den berühmten flandrischen Tücher mitzunehmen, die allenthalben
ihrer unübertroffenen Güte wegen reißend Absatz fanden. Bei recht ungünstigen
Beihältnissen zählte man einmal in Gent noch über 2000 Wichestühle, die in
Tätigkeit waren. Bis 92000 Blcisiegel brauchte man jährlich in Upern zur
behördlichen Kontrolle der Stoffe. Mit verschwenderischer Pracht, wie sie der
gotische Stil nur entfalten kann, erbauten die Uperner auf dem Grooten Markt
ihre Tuchhalle. Die drohenden Zinnen über dem reichen Schmuckwerk führen
eine deutliche Sprache.

Farbenreich und vielgestaltig entwickelte sich das Bürgertum in solchen
breiten und wohlhabenden Verhältnissen. Seine guten Eigenschaften werden
von den Zeitgenossen hoch erhoben, getadelt aber auch sein unerträglicher Stolz,
die nie versiegende Streitsucht. Als das Wahrzeichen städtischer Freiheit prangte
der trotzige Belfried; nur allzuhäufig heulten seine Glocken in Aufruhr und
Kampf, wenn der Bürger gegen den Landesherrn und den Adel sich erhob.
Bei jeder Gelegenheit betrübten sich die Städte, die gräfliche Gewalt zu
brechen. Und gelang es ihnen auch nicht, gleichwie ihren deutschen Schwestern,
den freien Reichsstädte,,. Staaten im Staate zu werden, so erfreuten sie sich
doch einer Unabhängigkeit, wie sie Frankreich nicht kannte. Unheilvoll für
Flandern war nur, daß dem Freiheitsgelüste der Bewohner ihr Egoismus
entsprach. Nie herrschte völliger Friede, durch fortwährenden Hader zerfleischte
das Land sich selbst. Bald kämpften die Städte gegen den Grafen, bald gegen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324558"/>
          <fw type="header" place="top"> tvie das Deutsche Reich die Niederlande verlor</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_489"> Gent war damals politisch die maßgebende Stadt in Flandern,<lb/>
Brügge der Markt und der Umschlageplatz für die gesamte Handelswelt. In<lb/>
den zahlreichen lxquemen Liegeplätzen des Zom, der noch nicht versandet war,<lb/>
gingen die Karacken der Genuesen und die Galeeren der Venetianer und Floren¬<lb/>
tiner, die Koggen aus Hamburg, Lübeck und Danzig, die Busen der Herings¬<lb/>
fänger vor Anker. In kluger Beschränkung verzichteten die Bürger früh auf<lb/>
eigene Schiffahrt und nahmen auch an dem Großhandel nur geringen Anteil,<lb/>
um sich als Zwischenhändler, namentlich als Makler, dann auch als Wechsler<lb/>
und Wirte, als Schauer und Träger ihren Gästen zu widmen. Die Fremden,<lb/>
die aus allen Himmelsgegenden stammten, besaßen ihre eigenen stattlichen<lb/>
Häuser und &#x201E;Logen", die ganze Straßenreiheu einnahmen. Im Karmeliter-<lb/>
kloster hielt das Kondor der Hanse seine Sitzungen ab und wahrte mit Nach¬<lb/>
druck die Interessen des deutschen Kaufmanns. Alles Wünschbare ward in<lb/>
Brügge feilgeboten: Spezereien und Luxuswaren des Orients neben den Wald-<lb/>
erzeugnissen der nordischen Reiche, englische Wolle und Kohle neben den Edel¬<lb/>
metallen Böhmens und Ungarns, russische Felle. Segeltuch aus Navarra &#x201E;eben<lb/>
Goldbrokat aus der Tartarei und köstlicher Seide; Zucker ans Marokko neben<lb/>
Früchten, die in Granada und Andalusien gereift waren; feurige Weine aus<lb/>
Cypern und Burgund lagerten neben den milden Gewächsen des Rheingaus<lb/>
und des Poitou.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_490"> Keines der geräumigen fremden Fahrzeuge kehrte in die Heimat zurück,<lb/>
ohne von den berühmten flandrischen Tücher mitzunehmen, die allenthalben<lb/>
ihrer unübertroffenen Güte wegen reißend Absatz fanden. Bei recht ungünstigen<lb/>
Beihältnissen zählte man einmal in Gent noch über 2000 Wichestühle, die in<lb/>
Tätigkeit waren. Bis 92000 Blcisiegel brauchte man jährlich in Upern zur<lb/>
behördlichen Kontrolle der Stoffe. Mit verschwenderischer Pracht, wie sie der<lb/>
gotische Stil nur entfalten kann, erbauten die Uperner auf dem Grooten Markt<lb/>
ihre Tuchhalle. Die drohenden Zinnen über dem reichen Schmuckwerk führen<lb/>
eine deutliche Sprache.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_491" next="#ID_492"> Farbenreich und vielgestaltig entwickelte sich das Bürgertum in solchen<lb/>
breiten und wohlhabenden Verhältnissen. Seine guten Eigenschaften werden<lb/>
von den Zeitgenossen hoch erhoben, getadelt aber auch sein unerträglicher Stolz,<lb/>
die nie versiegende Streitsucht. Als das Wahrzeichen städtischer Freiheit prangte<lb/>
der trotzige Belfried; nur allzuhäufig heulten seine Glocken in Aufruhr und<lb/>
Kampf, wenn der Bürger gegen den Landesherrn und den Adel sich erhob.<lb/>
Bei jeder Gelegenheit betrübten sich die Städte, die gräfliche Gewalt zu<lb/>
brechen. Und gelang es ihnen auch nicht, gleichwie ihren deutschen Schwestern,<lb/>
den freien Reichsstädte,,. Staaten im Staate zu werden, so erfreuten sie sich<lb/>
doch einer Unabhängigkeit, wie sie Frankreich nicht kannte. Unheilvoll für<lb/>
Flandern war nur, daß dem Freiheitsgelüste der Bewohner ihr Egoismus<lb/>
entsprach. Nie herrschte völliger Friede, durch fortwährenden Hader zerfleischte<lb/>
das Land sich selbst. Bald kämpften die Städte gegen den Grafen, bald gegen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0149] tvie das Deutsche Reich die Niederlande verlor Gent war damals politisch die maßgebende Stadt in Flandern, Brügge der Markt und der Umschlageplatz für die gesamte Handelswelt. In den zahlreichen lxquemen Liegeplätzen des Zom, der noch nicht versandet war, gingen die Karacken der Genuesen und die Galeeren der Venetianer und Floren¬ tiner, die Koggen aus Hamburg, Lübeck und Danzig, die Busen der Herings¬ fänger vor Anker. In kluger Beschränkung verzichteten die Bürger früh auf eigene Schiffahrt und nahmen auch an dem Großhandel nur geringen Anteil, um sich als Zwischenhändler, namentlich als Makler, dann auch als Wechsler und Wirte, als Schauer und Träger ihren Gästen zu widmen. Die Fremden, die aus allen Himmelsgegenden stammten, besaßen ihre eigenen stattlichen Häuser und „Logen", die ganze Straßenreiheu einnahmen. Im Karmeliter- kloster hielt das Kondor der Hanse seine Sitzungen ab und wahrte mit Nach¬ druck die Interessen des deutschen Kaufmanns. Alles Wünschbare ward in Brügge feilgeboten: Spezereien und Luxuswaren des Orients neben den Wald- erzeugnissen der nordischen Reiche, englische Wolle und Kohle neben den Edel¬ metallen Böhmens und Ungarns, russische Felle. Segeltuch aus Navarra „eben Goldbrokat aus der Tartarei und köstlicher Seide; Zucker ans Marokko neben Früchten, die in Granada und Andalusien gereift waren; feurige Weine aus Cypern und Burgund lagerten neben den milden Gewächsen des Rheingaus und des Poitou. Keines der geräumigen fremden Fahrzeuge kehrte in die Heimat zurück, ohne von den berühmten flandrischen Tücher mitzunehmen, die allenthalben ihrer unübertroffenen Güte wegen reißend Absatz fanden. Bei recht ungünstigen Beihältnissen zählte man einmal in Gent noch über 2000 Wichestühle, die in Tätigkeit waren. Bis 92000 Blcisiegel brauchte man jährlich in Upern zur behördlichen Kontrolle der Stoffe. Mit verschwenderischer Pracht, wie sie der gotische Stil nur entfalten kann, erbauten die Uperner auf dem Grooten Markt ihre Tuchhalle. Die drohenden Zinnen über dem reichen Schmuckwerk führen eine deutliche Sprache. Farbenreich und vielgestaltig entwickelte sich das Bürgertum in solchen breiten und wohlhabenden Verhältnissen. Seine guten Eigenschaften werden von den Zeitgenossen hoch erhoben, getadelt aber auch sein unerträglicher Stolz, die nie versiegende Streitsucht. Als das Wahrzeichen städtischer Freiheit prangte der trotzige Belfried; nur allzuhäufig heulten seine Glocken in Aufruhr und Kampf, wenn der Bürger gegen den Landesherrn und den Adel sich erhob. Bei jeder Gelegenheit betrübten sich die Städte, die gräfliche Gewalt zu brechen. Und gelang es ihnen auch nicht, gleichwie ihren deutschen Schwestern, den freien Reichsstädte,,. Staaten im Staate zu werden, so erfreuten sie sich doch einer Unabhängigkeit, wie sie Frankreich nicht kannte. Unheilvoll für Flandern war nur, daß dem Freiheitsgelüste der Bewohner ihr Egoismus entsprach. Nie herrschte völliger Friede, durch fortwährenden Hader zerfleischte das Land sich selbst. Bald kämpften die Städte gegen den Grafen, bald gegen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/149
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/149>, abgerufen am 22.07.2024.