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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Bildung auf antikem Anschauungsmaterial fußt und dies einfach voraussetzt.
Anstatt daß nun der Unterstufe eine breitere Kenntnis nicht nur der antiken,
sondern auch der nationalen Sagenwelt vermittelt würde, wonach die Jugend
in diesem Alter geradezu dürstet, soll auch der geringe Nest mythologischer
Bildung noch weiter einschrumpfen.

Und dies führt die Betrachtung nun noch um einen Schritt weiter. Die
Neuerungen, die der Erlaß einführt, entsprechen nicht dem historischen Bildungs¬
ideal, in dem ich mich jedenfalls mit einem großen Teil der geistig bewegten
Jugend in erfreulichem Einklang weiß. Aber wie er aufs allerschwerste in dem
enttäuscht, was er bringt, so enttäuscht er auch in dem, was er nicht bringt
nationalen Motiven scheint er entsprungen. Aber er befreit den deutschen
Unterricht nicht aus der unerträglichen Enge, in der er sich mit seiner unzuläng¬
lichen Stundenzahl befindet. Er befördert in keiner Weise eine Annäherung
von Literaturgeschichte und politischer Geschichte und damit eine Verbreiterung
der geschichtlichen Unterweisung in der Richtung auf eine Geistesgeschichte hin,
die keineswegs das Phänomen des Staates zu verkümmern brauchte, wohl über
einer großzügigen Vereinheitlichung des historischen Bewußtseins dienen könnte,
in welchem heute noch so vielfach die einzelnen Fäden in steriler Isolierung
nebeneinander herlaufen. Hierdurch erst würde es sich ermöglichen lassen, auch
ohne sonderliche Überlastung des Lehrplanes mit neuen Fächern wenigstens die
Elemente der Kunst- und Musikgeschichte ebenfalls der gymnasialen historischen
Bildung zuzuführen. Es könnten uns doch endlich für das Paradoxe des
Zustandes die Augen aufgehen, daß. das Volk der großen Musiker gerade in
der Geschichte dieses Kunstgebietes im allgemeinen Bewußtsein einen bodenlosen
Abgrund von Unwissenheit aufweist. Wenn diese Vereinheitlichungsbestrebungen
den Nebenerfolg hätten, das Mittelalter auch im Literaturunterricht nach Unter¬
prima zu verlegen, so würde das hinsichtlich des Verständnisses etwa Walthers
sicher manches für sich haben. Vielleicht böte sich dann die Gelegenheit, parallel
mit der politischen Geschichte der Antike anch eine zusammenhängende Darstellung
ihrer Literaturgeschichte in Obersekunda an den frei gewordenen Platz zu setzen.
Es könnte damit zugleich dem Verständnis unserer eigenen Dichtung und ihrer
Entwicklung seit Lessing aufs wirksamste vorgearbeitet werden.

Aber ich will nicht zu den tausend neunmalgescheiten Besserungsvorschlägen,
die das Publikum dem hohen Schulregiment vorzulegen nicht müde wird, hier
den tausendundersten fügen. Meine Aufgabe ist heute leider von einer viel
negativeren Art. Freilich bin ich überhaupt nicht der modernen Ansicht, daß
durch Reformen des Systems und des Stundenplanes von oben her sich alles
rauhe glätten läßt, sondern erwarte in ganz altfränkischer Weise alles Heil
von der gottbegnadeter Person des Lehrenden. Den guten Lehrer kann kein
Kultusministerium aus dem Boden stampfen, und auch in der Retorte überhitzter
Staatsexamensansprüche wird er nicht erzeugt. Diesem Lehrer aber wird seine
^Ausgabe, dem Schüler eine gleichmäßige und geschlossene historische Bildung zu


Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Bildung auf antikem Anschauungsmaterial fußt und dies einfach voraussetzt.
Anstatt daß nun der Unterstufe eine breitere Kenntnis nicht nur der antiken,
sondern auch der nationalen Sagenwelt vermittelt würde, wonach die Jugend
in diesem Alter geradezu dürstet, soll auch der geringe Nest mythologischer
Bildung noch weiter einschrumpfen.

Und dies führt die Betrachtung nun noch um einen Schritt weiter. Die
Neuerungen, die der Erlaß einführt, entsprechen nicht dem historischen Bildungs¬
ideal, in dem ich mich jedenfalls mit einem großen Teil der geistig bewegten
Jugend in erfreulichem Einklang weiß. Aber wie er aufs allerschwerste in dem
enttäuscht, was er bringt, so enttäuscht er auch in dem, was er nicht bringt
nationalen Motiven scheint er entsprungen. Aber er befreit den deutschen
Unterricht nicht aus der unerträglichen Enge, in der er sich mit seiner unzuläng¬
lichen Stundenzahl befindet. Er befördert in keiner Weise eine Annäherung
von Literaturgeschichte und politischer Geschichte und damit eine Verbreiterung
der geschichtlichen Unterweisung in der Richtung auf eine Geistesgeschichte hin,
die keineswegs das Phänomen des Staates zu verkümmern brauchte, wohl über
einer großzügigen Vereinheitlichung des historischen Bewußtseins dienen könnte,
in welchem heute noch so vielfach die einzelnen Fäden in steriler Isolierung
nebeneinander herlaufen. Hierdurch erst würde es sich ermöglichen lassen, auch
ohne sonderliche Überlastung des Lehrplanes mit neuen Fächern wenigstens die
Elemente der Kunst- und Musikgeschichte ebenfalls der gymnasialen historischen
Bildung zuzuführen. Es könnten uns doch endlich für das Paradoxe des
Zustandes die Augen aufgehen, daß. das Volk der großen Musiker gerade in
der Geschichte dieses Kunstgebietes im allgemeinen Bewußtsein einen bodenlosen
Abgrund von Unwissenheit aufweist. Wenn diese Vereinheitlichungsbestrebungen
den Nebenerfolg hätten, das Mittelalter auch im Literaturunterricht nach Unter¬
prima zu verlegen, so würde das hinsichtlich des Verständnisses etwa Walthers
sicher manches für sich haben. Vielleicht böte sich dann die Gelegenheit, parallel
mit der politischen Geschichte der Antike anch eine zusammenhängende Darstellung
ihrer Literaturgeschichte in Obersekunda an den frei gewordenen Platz zu setzen.
Es könnte damit zugleich dem Verständnis unserer eigenen Dichtung und ihrer
Entwicklung seit Lessing aufs wirksamste vorgearbeitet werden.

Aber ich will nicht zu den tausend neunmalgescheiten Besserungsvorschlägen,
die das Publikum dem hohen Schulregiment vorzulegen nicht müde wird, hier
den tausendundersten fügen. Meine Aufgabe ist heute leider von einer viel
negativeren Art. Freilich bin ich überhaupt nicht der modernen Ansicht, daß
durch Reformen des Systems und des Stundenplanes von oben her sich alles
rauhe glätten läßt, sondern erwarte in ganz altfränkischer Weise alles Heil
von der gottbegnadeter Person des Lehrenden. Den guten Lehrer kann kein
Kultusministerium aus dem Boden stampfen, und auch in der Retorte überhitzter
Staatsexamensansprüche wird er nicht erzeugt. Diesem Lehrer aber wird seine
^Ausgabe, dem Schüler eine gleichmäßige und geschlossene historische Bildung zu


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[0122] Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes Bildung auf antikem Anschauungsmaterial fußt und dies einfach voraussetzt. Anstatt daß nun der Unterstufe eine breitere Kenntnis nicht nur der antiken, sondern auch der nationalen Sagenwelt vermittelt würde, wonach die Jugend in diesem Alter geradezu dürstet, soll auch der geringe Nest mythologischer Bildung noch weiter einschrumpfen. Und dies führt die Betrachtung nun noch um einen Schritt weiter. Die Neuerungen, die der Erlaß einführt, entsprechen nicht dem historischen Bildungs¬ ideal, in dem ich mich jedenfalls mit einem großen Teil der geistig bewegten Jugend in erfreulichem Einklang weiß. Aber wie er aufs allerschwerste in dem enttäuscht, was er bringt, so enttäuscht er auch in dem, was er nicht bringt nationalen Motiven scheint er entsprungen. Aber er befreit den deutschen Unterricht nicht aus der unerträglichen Enge, in der er sich mit seiner unzuläng¬ lichen Stundenzahl befindet. Er befördert in keiner Weise eine Annäherung von Literaturgeschichte und politischer Geschichte und damit eine Verbreiterung der geschichtlichen Unterweisung in der Richtung auf eine Geistesgeschichte hin, die keineswegs das Phänomen des Staates zu verkümmern brauchte, wohl über einer großzügigen Vereinheitlichung des historischen Bewußtseins dienen könnte, in welchem heute noch so vielfach die einzelnen Fäden in steriler Isolierung nebeneinander herlaufen. Hierdurch erst würde es sich ermöglichen lassen, auch ohne sonderliche Überlastung des Lehrplanes mit neuen Fächern wenigstens die Elemente der Kunst- und Musikgeschichte ebenfalls der gymnasialen historischen Bildung zuzuführen. Es könnten uns doch endlich für das Paradoxe des Zustandes die Augen aufgehen, daß. das Volk der großen Musiker gerade in der Geschichte dieses Kunstgebietes im allgemeinen Bewußtsein einen bodenlosen Abgrund von Unwissenheit aufweist. Wenn diese Vereinheitlichungsbestrebungen den Nebenerfolg hätten, das Mittelalter auch im Literaturunterricht nach Unter¬ prima zu verlegen, so würde das hinsichtlich des Verständnisses etwa Walthers sicher manches für sich haben. Vielleicht böte sich dann die Gelegenheit, parallel mit der politischen Geschichte der Antike anch eine zusammenhängende Darstellung ihrer Literaturgeschichte in Obersekunda an den frei gewordenen Platz zu setzen. Es könnte damit zugleich dem Verständnis unserer eigenen Dichtung und ihrer Entwicklung seit Lessing aufs wirksamste vorgearbeitet werden. Aber ich will nicht zu den tausend neunmalgescheiten Besserungsvorschlägen, die das Publikum dem hohen Schulregiment vorzulegen nicht müde wird, hier den tausendundersten fügen. Meine Aufgabe ist heute leider von einer viel negativeren Art. Freilich bin ich überhaupt nicht der modernen Ansicht, daß durch Reformen des Systems und des Stundenplanes von oben her sich alles rauhe glätten läßt, sondern erwarte in ganz altfränkischer Weise alles Heil von der gottbegnadeter Person des Lehrenden. Den guten Lehrer kann kein Kultusministerium aus dem Boden stampfen, und auch in der Retorte überhitzter Staatsexamensansprüche wird er nicht erzeugt. Diesem Lehrer aber wird seine ^Ausgabe, dem Schüler eine gleichmäßige und geschlossene historische Bildung zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/122>, abgerufen am 28.12.2024.