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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

deshalb ein Unrecht, weil die Schüler auf diese Weise ein gänzlich verzerrtes
Bild vom Wesen der Geschichte als Forschung auf die Universität mitnehmen
und von nun ab erst dort zur richtigen Einstellung auf das historische Objekt
mühsam umdenken müssen. Die Verfügung mißachtet aber zugleich unsere
Universitäten, indem sie ihnen zumutet, den Studenten im Hinblick auf ihre
spätere Wirksamkeit in erster Linie das Wissen zu verabfolgen, das sie nur am
unwissenschaftlichsten vermitteln können, oder aber, wenn die Forschung ihre
Sache ernst nimmt, ihnen das vorzuenthalten, was sie für ihre Praxis am
meisten brauchen. Die Diskrepanz, die in dieser Hinsicht zwischen der wissen¬
schaftlich-germanistischen Vorbildung und der gymnasialen Lehraufgabe des
Deutschen besteht, ist doch gerade unerfreulich genug. Soll sich das jetzt auch
bei der Geschichte wiederholen?

Ich weiß, daß man längst den Einwand bereit hat, ich übertriebe den
Sachverhalt außerordentlich, da ja die übrige Geschichte nicht unterdrückt, sondern
nur die bewußte Akzentverlegung vollzogen werden solle. Aber ich weiß mich
dagegen gerüstet. Allerdings wird die Mittelstufe Gelegenheit geben, den rein
tatsächlichen Verlauf auch der früheren deutschen Geschichtsepochen in einiger
Breite zu vermitteln. Die eigentliche Deutung der Zusammenhänge, die Zuordnung
einer scheinbar unübersehbaren Fülle historischer Einzelheiten zu der die Epoche
konstituierenden Idee, die feinere Herausarbeitung historischer Individualitäten:
all dies wird doch erst der Oberstufe zugänglich sein. Nun aber weiß doch
jeder, der selber einmal Gymnasiast war, welche erbarmungslose Scheidung
zwischen dem Beachtenswerten und dem Belanglosen der Primaner nach dem
ausschlaggebenden Gesichtspunkt vornimmt: wirds im Abiturium geprüft oder
nicht? Gegenüber dieser Pennälerpraxis wird aller pädagogischer "Idealismus"
resignieren müssen, solange noch das Berechtigungswesen so in Blüte steht wie
heutigentags. Ist aber das anerkannt, so gewinnt die Bestimmung eine
geradezu überragende praktische Wirkung, daß die Reifeprüfung im wesentlichen
auf den Zeitabschnitt seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts zu beschränken
sei. Warum gerade an diesem Zeitpunkt die Scheidewand zwischen dem erheb¬
lichen und dem mindererheblichen angesetzt ist, wird im Erlaß nicht ausgesprochen.

Eine weitere Neuerung blieb bisher unerörtert: die Verdrängung der antiken
Mythologie aus dem Quintapensum zugunsten einer ersten Unterweisung wieder
gerade in der neuesten Geschichte. Auch eine stärkere Berücksichtigung der deutschen
Sagenwelt ist nicht verlangt, sondern lediglich die Behandlung der antiken
Mythologie stark zurückgedrängt. Hierin liegt ein fast unmerkliches, dennoch
aber höchst charakteristisches Abrücken vom humanistischen Bildungsideal. Wenn
ich von persönlichen Erfahrungen auf die anderer schließen darf, so genügt das
vom heutigen Gymnasium an mythologischen Kenntnissen gebotene nicht mehr
zum mühelosem Verstündnisse beispielsweise Schillers und Hölderlins. Das wird
man denn doch gerade in nationalem Betracht als einen fühlbaren Mangel
bezeichnen müssen. Es erweist sich darin eben, wie stark deutsche historische


Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

deshalb ein Unrecht, weil die Schüler auf diese Weise ein gänzlich verzerrtes
Bild vom Wesen der Geschichte als Forschung auf die Universität mitnehmen
und von nun ab erst dort zur richtigen Einstellung auf das historische Objekt
mühsam umdenken müssen. Die Verfügung mißachtet aber zugleich unsere
Universitäten, indem sie ihnen zumutet, den Studenten im Hinblick auf ihre
spätere Wirksamkeit in erster Linie das Wissen zu verabfolgen, das sie nur am
unwissenschaftlichsten vermitteln können, oder aber, wenn die Forschung ihre
Sache ernst nimmt, ihnen das vorzuenthalten, was sie für ihre Praxis am
meisten brauchen. Die Diskrepanz, die in dieser Hinsicht zwischen der wissen¬
schaftlich-germanistischen Vorbildung und der gymnasialen Lehraufgabe des
Deutschen besteht, ist doch gerade unerfreulich genug. Soll sich das jetzt auch
bei der Geschichte wiederholen?

Ich weiß, daß man längst den Einwand bereit hat, ich übertriebe den
Sachverhalt außerordentlich, da ja die übrige Geschichte nicht unterdrückt, sondern
nur die bewußte Akzentverlegung vollzogen werden solle. Aber ich weiß mich
dagegen gerüstet. Allerdings wird die Mittelstufe Gelegenheit geben, den rein
tatsächlichen Verlauf auch der früheren deutschen Geschichtsepochen in einiger
Breite zu vermitteln. Die eigentliche Deutung der Zusammenhänge, die Zuordnung
einer scheinbar unübersehbaren Fülle historischer Einzelheiten zu der die Epoche
konstituierenden Idee, die feinere Herausarbeitung historischer Individualitäten:
all dies wird doch erst der Oberstufe zugänglich sein. Nun aber weiß doch
jeder, der selber einmal Gymnasiast war, welche erbarmungslose Scheidung
zwischen dem Beachtenswerten und dem Belanglosen der Primaner nach dem
ausschlaggebenden Gesichtspunkt vornimmt: wirds im Abiturium geprüft oder
nicht? Gegenüber dieser Pennälerpraxis wird aller pädagogischer „Idealismus"
resignieren müssen, solange noch das Berechtigungswesen so in Blüte steht wie
heutigentags. Ist aber das anerkannt, so gewinnt die Bestimmung eine
geradezu überragende praktische Wirkung, daß die Reifeprüfung im wesentlichen
auf den Zeitabschnitt seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts zu beschränken
sei. Warum gerade an diesem Zeitpunkt die Scheidewand zwischen dem erheb¬
lichen und dem mindererheblichen angesetzt ist, wird im Erlaß nicht ausgesprochen.

Eine weitere Neuerung blieb bisher unerörtert: die Verdrängung der antiken
Mythologie aus dem Quintapensum zugunsten einer ersten Unterweisung wieder
gerade in der neuesten Geschichte. Auch eine stärkere Berücksichtigung der deutschen
Sagenwelt ist nicht verlangt, sondern lediglich die Behandlung der antiken
Mythologie stark zurückgedrängt. Hierin liegt ein fast unmerkliches, dennoch
aber höchst charakteristisches Abrücken vom humanistischen Bildungsideal. Wenn
ich von persönlichen Erfahrungen auf die anderer schließen darf, so genügt das
vom heutigen Gymnasium an mythologischen Kenntnissen gebotene nicht mehr
zum mühelosem Verstündnisse beispielsweise Schillers und Hölderlins. Das wird
man denn doch gerade in nationalem Betracht als einen fühlbaren Mangel
bezeichnen müssen. Es erweist sich darin eben, wie stark deutsche historische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/121>, abgerufen am 03.07.2024.