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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

edelste Erbgut des humanistischen Geistes bedeuten, wenn auch die Gymnasien
zu in diesem Sinn "praktischen" Bildungsanstalten herabgedrückt würden. Die
reine Forschung hat es lernen müssen, im Zeitalter der brüsten Technik und
der Übergriffe einer von ihren Gnaden lebenden Naturwissenschaft (vergl. Ostwalds
famose Scheidung von Natur- und Papierwissenschaften) sehr bescheiden zu werden.
Aber wie immer gedrückt: dieser alte deutsche Geist der selbstlosen Hingabe an
ein ganz unpraktisches, zweckfernes Forschertum lebt doch noch und wird sein
letztes außerakademisches Asyl, das humanistische Gymnasium, bis zum letzten
Blutstropfen verteidigen, -- woher der Angriff auch kommen mag. Was sagt
nun die Geschichte als Forschung zu der jetzt geplanten Reform des gymnasialen
Geschichtsunterrichts? Ich kann hier an das bereits gestreifte anknüpfen:
Geschichte ist ein Phänomen, das sich als Erkenntnisinhalt erst in einer gewissen
Distanz der Gegenwart vom Objekt konstituiert.*) Personen und Ereignisse brauchen
Zeit, um für uns historisch erst zu werden. Ereignisse sind es noch nicht ohne
weiteres, wenn sie eben vorüber sind, Personen zumal ganz sicher nicht, solange
sie noch leben. Was also der Erlaß fordert: eine Geschichte Wilhelms des Zweiten
das gibt es in einem einigermaßen strengen Sinn des Begriffes überhaupt gar
nicht. Und die alte Gepflogenheit der Universitäten, die geschichtliche Betrachtung
schon recht früh abzubrechen, hat ein gutes Recht gegenüber der modernen Unsitte,
etwa die "Geschichte" der neueren Lyrik von Luther bis Rilke zu lesen. Eine
solche Materie ergibt kein sauberes erkenntnistheoretisches Gebilde, weil sich ihre
Methode unmerklich bis zur völligen Unwissenschaftlichkeit verändern muß.
Übrigens hat jeder schöpferische Geist das gute Recht, sich vom Forscher eine
historische Mumifizierung bei lebendigem Leibe nachdrücklichst zu verbitten; und
her gesunde Abscheu gegenüber einem solchen Beginnen sollte eigentlich stärker
sein als der leider hie und da bemerkliche Ehrgeiz, die eigene "Kollegfähigkeit"
noch zu erleben.

Natürlich hat der Einwurf Recht, daß sich ein fester terminu8 a quo für
dieses Historischwerden nicht angeben läßt, und daß im Grund alle historische
Forschung cle facto ein nie abgeschlossenes Historisieren ihres Objekts ist. Das
schließt aber nicht aus, daß alle Geschichtsschreibung umso unfertiger und also
theoretisch mangelhafter ist, je näher ihr Objekt der Gegenwart steht. Der
Erlaß des Preußischen Kultusministeriums fordert also, daß gerade das als
eigentlichste Geschichte geboten wird, was den Stempel wissenschaftlicher Unreife
am wenigsten verleugnen kann. Das ist ein Unrecht an unseren Schülern und
ein Abfall von den besten Traditionen unseres Schulwesens, das sich durch
untadelige Wissenschaftlichkeit immer besonders ausgezeichnet hat. Es ist namentlich



*) In einer Berliner Akademierede hat der ehemalige Chef der Sektion für Kultus
und Unterricht ini Preußischen Ministerium des Innern, Wilhelm v, Humboldt, für den Grund¬
gedanken, auf dem das Prinzip der historischen Distanz sich aufbaut, den wundervollen Aus¬
druck gefunden: "Daher gleicht die historische Wahrheit gewissermaßen den Wolken, die erst
in der Ferne vor den Augen Gestalt erhallen."
Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

edelste Erbgut des humanistischen Geistes bedeuten, wenn auch die Gymnasien
zu in diesem Sinn „praktischen" Bildungsanstalten herabgedrückt würden. Die
reine Forschung hat es lernen müssen, im Zeitalter der brüsten Technik und
der Übergriffe einer von ihren Gnaden lebenden Naturwissenschaft (vergl. Ostwalds
famose Scheidung von Natur- und Papierwissenschaften) sehr bescheiden zu werden.
Aber wie immer gedrückt: dieser alte deutsche Geist der selbstlosen Hingabe an
ein ganz unpraktisches, zweckfernes Forschertum lebt doch noch und wird sein
letztes außerakademisches Asyl, das humanistische Gymnasium, bis zum letzten
Blutstropfen verteidigen, — woher der Angriff auch kommen mag. Was sagt
nun die Geschichte als Forschung zu der jetzt geplanten Reform des gymnasialen
Geschichtsunterrichts? Ich kann hier an das bereits gestreifte anknüpfen:
Geschichte ist ein Phänomen, das sich als Erkenntnisinhalt erst in einer gewissen
Distanz der Gegenwart vom Objekt konstituiert.*) Personen und Ereignisse brauchen
Zeit, um für uns historisch erst zu werden. Ereignisse sind es noch nicht ohne
weiteres, wenn sie eben vorüber sind, Personen zumal ganz sicher nicht, solange
sie noch leben. Was also der Erlaß fordert: eine Geschichte Wilhelms des Zweiten
das gibt es in einem einigermaßen strengen Sinn des Begriffes überhaupt gar
nicht. Und die alte Gepflogenheit der Universitäten, die geschichtliche Betrachtung
schon recht früh abzubrechen, hat ein gutes Recht gegenüber der modernen Unsitte,
etwa die „Geschichte" der neueren Lyrik von Luther bis Rilke zu lesen. Eine
solche Materie ergibt kein sauberes erkenntnistheoretisches Gebilde, weil sich ihre
Methode unmerklich bis zur völligen Unwissenschaftlichkeit verändern muß.
Übrigens hat jeder schöpferische Geist das gute Recht, sich vom Forscher eine
historische Mumifizierung bei lebendigem Leibe nachdrücklichst zu verbitten; und
her gesunde Abscheu gegenüber einem solchen Beginnen sollte eigentlich stärker
sein als der leider hie und da bemerkliche Ehrgeiz, die eigene „Kollegfähigkeit"
noch zu erleben.

Natürlich hat der Einwurf Recht, daß sich ein fester terminu8 a quo für
dieses Historischwerden nicht angeben läßt, und daß im Grund alle historische
Forschung cle facto ein nie abgeschlossenes Historisieren ihres Objekts ist. Das
schließt aber nicht aus, daß alle Geschichtsschreibung umso unfertiger und also
theoretisch mangelhafter ist, je näher ihr Objekt der Gegenwart steht. Der
Erlaß des Preußischen Kultusministeriums fordert also, daß gerade das als
eigentlichste Geschichte geboten wird, was den Stempel wissenschaftlicher Unreife
am wenigsten verleugnen kann. Das ist ein Unrecht an unseren Schülern und
ein Abfall von den besten Traditionen unseres Schulwesens, das sich durch
untadelige Wissenschaftlichkeit immer besonders ausgezeichnet hat. Es ist namentlich



*) In einer Berliner Akademierede hat der ehemalige Chef der Sektion für Kultus
und Unterricht ini Preußischen Ministerium des Innern, Wilhelm v, Humboldt, für den Grund¬
gedanken, auf dem das Prinzip der historischen Distanz sich aufbaut, den wundervollen Aus¬
druck gefunden: „Daher gleicht die historische Wahrheit gewissermaßen den Wolken, die erst
in der Ferne vor den Augen Gestalt erhallen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/120>, abgerufen am 01.07.2024.