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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

weist. Nur so wird, um einen praktischen Nebenerfolg ausdrücklich zu er¬
wähnen, die Einsicht in die Distanz von Nussentum und Europäismus ge¬
wonnen, an die manche unter uns so schwer glauben wollen.

Dies Verstehen ihres eigenen Deutschtums im fremdnationalen Nahmen
also soll der Jagend ein Geschichtsunterricht vermitteln, der der großen Gegen¬
wart würdig ist. Auch dabei ist die Geschichte nicht Selbstzweck. Sie dient.
Aber sie dient einem Größeren als nächsten praktischen Zwecken. Sie er-hebt
über die Enge des bloß Daseienden und bettet das Heute ein in den tiefen
Wurzelgrund, ans dem auch ihm die Größe kommt. Diesem Verständnis aber
-- es muß gerade herausgesagt sein! -- arbeitet der Erlaß des Preußischen
Kultusministeriums geradezu entgegen. Denn das, was er in den Mittelpunkt
des historischen Unterrichts stellt, braucht dem Verständnis gar nicht erst er¬
schlossen zu werden, weil es uns noch viel zu nahe steht, weil es sozusagen
selber noch Gegenwart ist. Es ist noch gar nicht Geschichte geworden. Man
beachte nur, wie selbstverständlich die Befreiungskriege nicht nur, sondern selbst
noch Friedrich der Große -- ein Symptom dafür ist die jüngste Schrift
Thomas Manns -- sich unserem Gegenwartsbewußtsein einordnen. Wenn
aber das, was kaum schon Geschichte ist, sozusagen amtlich zur Geschichte
xll-r' -T°7^v ernannt wird, so wird die Neigung zur Verabsolutiernng der Gegen¬
wart, wie sie ohnehin voraussichtlich -- exemplum cloeet! -- üppig ins
Kraut schießen wird, aufs allerbedenklichste unterstützt. Echte geschichtliche
Haltung macht uns demütig und stolz zugleich, hingegen verbaut man sich
durch hybride Selbstverabsolutierung der Gegenwart gerade das, was gewonnen
werden soll, den historischen Anschluß an die große Geschichte und das Ver¬
ständnis für die Substanzielle Einheit des Gegenwartsdeutschtums mit dem
Ewig-Deutschen. Man verbaut sich aber auch das Bewußtsein der Sonderart
der Gegenwart, wie es sich nur in der anschaulichen Einsicht ausbilden kann,
daß dieser Souderform gleichwertig andere vergangene Auswirkungsarten des
deutschen Geistes gegenüberstehen, von denen unser Heute sich unterscheidet, und
die mit ihm zusammen erst die Totalität der bisherigen Deutschheit ausmachen.

Im vorigen wurde anerkannt, daß die unterrichtliche Behandlung der
Geschichte die Fragestellung rechtfertigt, wie sie beizutragen vermöge zum Ver¬
ständnis des eigenen nationalen Selbst und seiner kulturellen Konkretionen, d?s
Augenblicks nicht nur, sondern der Welt überhaupt, in der wir leben. Wir
erkannten es als dogmatische Willkür, einen dieser Gesichtspunkte in der Lehr¬
praxis zum alleinberechtigten zu erheben. Schließlich aber darf nun doch auch
ein drittes nicht außer Acht bleiben, daß die Geschichte nicht nur irgendwelchen
andern Dingen, fondern am Ende auch sich selbst zu dienen habe, mit andern
Worten: daß sie nicht bloß als Lebenselement, sondern auch als erkenntnishafter
Selbstzweck gewürdigt werden muß. Ins Soziale projiziert und verallgemeinert:
die Schule hat nicht nur auf das Leben, sondern auch auf die Universität, will
sagen die reine Forschung vorzubereiten. Es würde einen Verzicht auf das


Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

weist. Nur so wird, um einen praktischen Nebenerfolg ausdrücklich zu er¬
wähnen, die Einsicht in die Distanz von Nussentum und Europäismus ge¬
wonnen, an die manche unter uns so schwer glauben wollen.

Dies Verstehen ihres eigenen Deutschtums im fremdnationalen Nahmen
also soll der Jagend ein Geschichtsunterricht vermitteln, der der großen Gegen¬
wart würdig ist. Auch dabei ist die Geschichte nicht Selbstzweck. Sie dient.
Aber sie dient einem Größeren als nächsten praktischen Zwecken. Sie er-hebt
über die Enge des bloß Daseienden und bettet das Heute ein in den tiefen
Wurzelgrund, ans dem auch ihm die Größe kommt. Diesem Verständnis aber
— es muß gerade herausgesagt sein! — arbeitet der Erlaß des Preußischen
Kultusministeriums geradezu entgegen. Denn das, was er in den Mittelpunkt
des historischen Unterrichts stellt, braucht dem Verständnis gar nicht erst er¬
schlossen zu werden, weil es uns noch viel zu nahe steht, weil es sozusagen
selber noch Gegenwart ist. Es ist noch gar nicht Geschichte geworden. Man
beachte nur, wie selbstverständlich die Befreiungskriege nicht nur, sondern selbst
noch Friedrich der Große — ein Symptom dafür ist die jüngste Schrift
Thomas Manns — sich unserem Gegenwartsbewußtsein einordnen. Wenn
aber das, was kaum schon Geschichte ist, sozusagen amtlich zur Geschichte
xll-r' -T°7^v ernannt wird, so wird die Neigung zur Verabsolutiernng der Gegen¬
wart, wie sie ohnehin voraussichtlich — exemplum cloeet! — üppig ins
Kraut schießen wird, aufs allerbedenklichste unterstützt. Echte geschichtliche
Haltung macht uns demütig und stolz zugleich, hingegen verbaut man sich
durch hybride Selbstverabsolutierung der Gegenwart gerade das, was gewonnen
werden soll, den historischen Anschluß an die große Geschichte und das Ver¬
ständnis für die Substanzielle Einheit des Gegenwartsdeutschtums mit dem
Ewig-Deutschen. Man verbaut sich aber auch das Bewußtsein der Sonderart
der Gegenwart, wie es sich nur in der anschaulichen Einsicht ausbilden kann,
daß dieser Souderform gleichwertig andere vergangene Auswirkungsarten des
deutschen Geistes gegenüberstehen, von denen unser Heute sich unterscheidet, und
die mit ihm zusammen erst die Totalität der bisherigen Deutschheit ausmachen.

Im vorigen wurde anerkannt, daß die unterrichtliche Behandlung der
Geschichte die Fragestellung rechtfertigt, wie sie beizutragen vermöge zum Ver¬
ständnis des eigenen nationalen Selbst und seiner kulturellen Konkretionen, d?s
Augenblicks nicht nur, sondern der Welt überhaupt, in der wir leben. Wir
erkannten es als dogmatische Willkür, einen dieser Gesichtspunkte in der Lehr¬
praxis zum alleinberechtigten zu erheben. Schließlich aber darf nun doch auch
ein drittes nicht außer Acht bleiben, daß die Geschichte nicht nur irgendwelchen
andern Dingen, fondern am Ende auch sich selbst zu dienen habe, mit andern
Worten: daß sie nicht bloß als Lebenselement, sondern auch als erkenntnishafter
Selbstzweck gewürdigt werden muß. Ins Soziale projiziert und verallgemeinert:
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sagen die reine Forschung vorzubereiten. Es würde einen Verzicht auf das


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[0119] Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes weist. Nur so wird, um einen praktischen Nebenerfolg ausdrücklich zu er¬ wähnen, die Einsicht in die Distanz von Nussentum und Europäismus ge¬ wonnen, an die manche unter uns so schwer glauben wollen. Dies Verstehen ihres eigenen Deutschtums im fremdnationalen Nahmen also soll der Jagend ein Geschichtsunterricht vermitteln, der der großen Gegen¬ wart würdig ist. Auch dabei ist die Geschichte nicht Selbstzweck. Sie dient. Aber sie dient einem Größeren als nächsten praktischen Zwecken. Sie er-hebt über die Enge des bloß Daseienden und bettet das Heute ein in den tiefen Wurzelgrund, ans dem auch ihm die Größe kommt. Diesem Verständnis aber — es muß gerade herausgesagt sein! — arbeitet der Erlaß des Preußischen Kultusministeriums geradezu entgegen. Denn das, was er in den Mittelpunkt des historischen Unterrichts stellt, braucht dem Verständnis gar nicht erst er¬ schlossen zu werden, weil es uns noch viel zu nahe steht, weil es sozusagen selber noch Gegenwart ist. Es ist noch gar nicht Geschichte geworden. Man beachte nur, wie selbstverständlich die Befreiungskriege nicht nur, sondern selbst noch Friedrich der Große — ein Symptom dafür ist die jüngste Schrift Thomas Manns — sich unserem Gegenwartsbewußtsein einordnen. Wenn aber das, was kaum schon Geschichte ist, sozusagen amtlich zur Geschichte xll-r' -T°7^v ernannt wird, so wird die Neigung zur Verabsolutiernng der Gegen¬ wart, wie sie ohnehin voraussichtlich — exemplum cloeet! — üppig ins Kraut schießen wird, aufs allerbedenklichste unterstützt. Echte geschichtliche Haltung macht uns demütig und stolz zugleich, hingegen verbaut man sich durch hybride Selbstverabsolutierung der Gegenwart gerade das, was gewonnen werden soll, den historischen Anschluß an die große Geschichte und das Ver¬ ständnis für die Substanzielle Einheit des Gegenwartsdeutschtums mit dem Ewig-Deutschen. Man verbaut sich aber auch das Bewußtsein der Sonderart der Gegenwart, wie es sich nur in der anschaulichen Einsicht ausbilden kann, daß dieser Souderform gleichwertig andere vergangene Auswirkungsarten des deutschen Geistes gegenüberstehen, von denen unser Heute sich unterscheidet, und die mit ihm zusammen erst die Totalität der bisherigen Deutschheit ausmachen. Im vorigen wurde anerkannt, daß die unterrichtliche Behandlung der Geschichte die Fragestellung rechtfertigt, wie sie beizutragen vermöge zum Ver¬ ständnis des eigenen nationalen Selbst und seiner kulturellen Konkretionen, d?s Augenblicks nicht nur, sondern der Welt überhaupt, in der wir leben. Wir erkannten es als dogmatische Willkür, einen dieser Gesichtspunkte in der Lehr¬ praxis zum alleinberechtigten zu erheben. Schließlich aber darf nun doch auch ein drittes nicht außer Acht bleiben, daß die Geschichte nicht nur irgendwelchen andern Dingen, fondern am Ende auch sich selbst zu dienen habe, mit andern Worten: daß sie nicht bloß als Lebenselement, sondern auch als erkenntnishafter Selbstzweck gewürdigt werden muß. Ins Soziale projiziert und verallgemeinert: die Schule hat nicht nur auf das Leben, sondern auch auf die Universität, will sagen die reine Forschung vorzubereiten. Es würde einen Verzicht auf das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/119>, abgerufen am 29.06.2024.