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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Konzentrierung des Blickfeldes ans das vorige Jahrhundert? Oder Schwedens
gegenwärtige Schicksalsstunde? Wieviel wird wohl von einem Karl dem Zwölften
in einem Schuljahr die Rede sein können, das die deutsche Geschichte von
Hermann dem Cherusker bis zu Friedrich dem Großen bewältigen soll -- mit
knapp drei Stunden in der Woche!

Hier also ist das ^"^-"v ^os-,-; zu suchen. In der Geschichte erfüllt sich
das Paradox, daß der Rock uns doch näher ist als das Hemd. Je
höher der Berg, auf dem wir stehen, desto souveräner gleitet der Blick
über das Nächste hinweg. Und das Fernste, Gewaltigste wird uns nachbarlich
und nah. Gebt unseren Jungen farbiges deutsches Mittelalter und die drän¬
genden Kräfte der Reformation mit ihren Bauern- und Jnquisitionskriegen zu
schauen, laßt sie das königliche Kaufherrentum der Hanse erblicken und die
ausgreifenden Kolonisationspläne der Welsen; und alles das: gerade damit
sie die Größe der Gegenwart verstehen und etwas von der unheimlichen Ver¬
antwortlichkeit ahnen, die unserem gegenwärtigen Deutschtum auf die Schultern
gelegt ist.

Nicht einmal der enge Zweck also, den der Erlaß dem Geschichtsunterricht
unterschiebt, wird durch die befohlenen Maßnahmen erreicht. Aber daß die
Geschichte in erster Linie dem Verständnis der Gegenwart zu dienen habe,
konnten wir hier nur fingieren. Sie hat. wenn sie schon dienen soll, in
vorderster Reihe einem anderen zu dienen, dem Verständnis eines Übergegen¬
wärtigen: unserer nationalen Substanz, unserer völkischen Art. Der Geschichts¬
unterricht soll unsere Jugend zum Verständnis des Konkretums: deutscher Geist
hinzuleiten suchen. Die Aufgabe ist gewaltig: wenn unsere Jugend vor den
Skulpturen des Naumburger Domes oder vor dem Aachener Münster, vor der
Wartburg oder vor Sanssouci steht, dann sollen diese Ausformungen deutschen
Kulturwillens ihr gewiß auch Gegenstände ästhetischer Betrachtung sein, die
sie in ihrem Bewußtsein irgendwie einordnen kann. Zugleich aber Gegenstände
nationaler Andacht, wie sie nur ans dem Wissen um die geschichtliche Ent¬
faltung desselben fließt, was sie als ihr eigenes Deutschtum fühlt. Die Orte,
wo sich ihr Leben abspielt, unser ganzes deutsches Vaterland soll ihrem geistigen
Blicke bevölkert sein mit einer Füll? unsichtbarer Gestalten, die mit ihrem
Wollen und Wirken unserer Jugend gegenwärtig seien, ihr monarchisches Gefühl,
ihr Staatsbewußtsein soll über das bloß preußisch-deutsche der jüngsten Zeit
humusreicher, es soll vertieft sein durch die lebendige Kenntnis, welches Erb¬
gut im Begriff "Deutscher Kaiser", welche Antinomien auch darin aufgespeichert
liegen. Deutsche Dichtung und deutsche Kunst, deutsche Staatlichkeit und
deutscher Sondergeist -- all dies soll sie als eine Einheit begreifen, die sich
doch vor ihrem Blick in eine Welt von Ereignissen, Werken, Personen aus¬
einanderlegt. Und darüber hinaus: unsere Jugend soll verstehen, wie dies
Deutschtum sich als eine Stimme in die Symphonie des Europäismus ein¬
fügt, und wie solcher Europäismus auf seinen Ursprung in der Antike zurück-


Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Konzentrierung des Blickfeldes ans das vorige Jahrhundert? Oder Schwedens
gegenwärtige Schicksalsstunde? Wieviel wird wohl von einem Karl dem Zwölften
in einem Schuljahr die Rede sein können, das die deutsche Geschichte von
Hermann dem Cherusker bis zu Friedrich dem Großen bewältigen soll — mit
knapp drei Stunden in der Woche!

Hier also ist das ^«^-»v ^os-,-; zu suchen. In der Geschichte erfüllt sich
das Paradox, daß der Rock uns doch näher ist als das Hemd. Je
höher der Berg, auf dem wir stehen, desto souveräner gleitet der Blick
über das Nächste hinweg. Und das Fernste, Gewaltigste wird uns nachbarlich
und nah. Gebt unseren Jungen farbiges deutsches Mittelalter und die drän¬
genden Kräfte der Reformation mit ihren Bauern- und Jnquisitionskriegen zu
schauen, laßt sie das königliche Kaufherrentum der Hanse erblicken und die
ausgreifenden Kolonisationspläne der Welsen; und alles das: gerade damit
sie die Größe der Gegenwart verstehen und etwas von der unheimlichen Ver¬
antwortlichkeit ahnen, die unserem gegenwärtigen Deutschtum auf die Schultern
gelegt ist.

Nicht einmal der enge Zweck also, den der Erlaß dem Geschichtsunterricht
unterschiebt, wird durch die befohlenen Maßnahmen erreicht. Aber daß die
Geschichte in erster Linie dem Verständnis der Gegenwart zu dienen habe,
konnten wir hier nur fingieren. Sie hat. wenn sie schon dienen soll, in
vorderster Reihe einem anderen zu dienen, dem Verständnis eines Übergegen¬
wärtigen: unserer nationalen Substanz, unserer völkischen Art. Der Geschichts¬
unterricht soll unsere Jugend zum Verständnis des Konkretums: deutscher Geist
hinzuleiten suchen. Die Aufgabe ist gewaltig: wenn unsere Jugend vor den
Skulpturen des Naumburger Domes oder vor dem Aachener Münster, vor der
Wartburg oder vor Sanssouci steht, dann sollen diese Ausformungen deutschen
Kulturwillens ihr gewiß auch Gegenstände ästhetischer Betrachtung sein, die
sie in ihrem Bewußtsein irgendwie einordnen kann. Zugleich aber Gegenstände
nationaler Andacht, wie sie nur ans dem Wissen um die geschichtliche Ent¬
faltung desselben fließt, was sie als ihr eigenes Deutschtum fühlt. Die Orte,
wo sich ihr Leben abspielt, unser ganzes deutsches Vaterland soll ihrem geistigen
Blicke bevölkert sein mit einer Füll? unsichtbarer Gestalten, die mit ihrem
Wollen und Wirken unserer Jugend gegenwärtig seien, ihr monarchisches Gefühl,
ihr Staatsbewußtsein soll über das bloß preußisch-deutsche der jüngsten Zeit
humusreicher, es soll vertieft sein durch die lebendige Kenntnis, welches Erb¬
gut im Begriff „Deutscher Kaiser", welche Antinomien auch darin aufgespeichert
liegen. Deutsche Dichtung und deutsche Kunst, deutsche Staatlichkeit und
deutscher Sondergeist — all dies soll sie als eine Einheit begreifen, die sich
doch vor ihrem Blick in eine Welt von Ereignissen, Werken, Personen aus¬
einanderlegt. Und darüber hinaus: unsere Jugend soll verstehen, wie dies
Deutschtum sich als eine Stimme in die Symphonie des Europäismus ein¬
fügt, und wie solcher Europäismus auf seinen Ursprung in der Antike zurück-


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[0118] Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes Konzentrierung des Blickfeldes ans das vorige Jahrhundert? Oder Schwedens gegenwärtige Schicksalsstunde? Wieviel wird wohl von einem Karl dem Zwölften in einem Schuljahr die Rede sein können, das die deutsche Geschichte von Hermann dem Cherusker bis zu Friedrich dem Großen bewältigen soll — mit knapp drei Stunden in der Woche! Hier also ist das ^«^-»v ^os-,-; zu suchen. In der Geschichte erfüllt sich das Paradox, daß der Rock uns doch näher ist als das Hemd. Je höher der Berg, auf dem wir stehen, desto souveräner gleitet der Blick über das Nächste hinweg. Und das Fernste, Gewaltigste wird uns nachbarlich und nah. Gebt unseren Jungen farbiges deutsches Mittelalter und die drän¬ genden Kräfte der Reformation mit ihren Bauern- und Jnquisitionskriegen zu schauen, laßt sie das königliche Kaufherrentum der Hanse erblicken und die ausgreifenden Kolonisationspläne der Welsen; und alles das: gerade damit sie die Größe der Gegenwart verstehen und etwas von der unheimlichen Ver¬ antwortlichkeit ahnen, die unserem gegenwärtigen Deutschtum auf die Schultern gelegt ist. Nicht einmal der enge Zweck also, den der Erlaß dem Geschichtsunterricht unterschiebt, wird durch die befohlenen Maßnahmen erreicht. Aber daß die Geschichte in erster Linie dem Verständnis der Gegenwart zu dienen habe, konnten wir hier nur fingieren. Sie hat. wenn sie schon dienen soll, in vorderster Reihe einem anderen zu dienen, dem Verständnis eines Übergegen¬ wärtigen: unserer nationalen Substanz, unserer völkischen Art. Der Geschichts¬ unterricht soll unsere Jugend zum Verständnis des Konkretums: deutscher Geist hinzuleiten suchen. Die Aufgabe ist gewaltig: wenn unsere Jugend vor den Skulpturen des Naumburger Domes oder vor dem Aachener Münster, vor der Wartburg oder vor Sanssouci steht, dann sollen diese Ausformungen deutschen Kulturwillens ihr gewiß auch Gegenstände ästhetischer Betrachtung sein, die sie in ihrem Bewußtsein irgendwie einordnen kann. Zugleich aber Gegenstände nationaler Andacht, wie sie nur ans dem Wissen um die geschichtliche Ent¬ faltung desselben fließt, was sie als ihr eigenes Deutschtum fühlt. Die Orte, wo sich ihr Leben abspielt, unser ganzes deutsches Vaterland soll ihrem geistigen Blicke bevölkert sein mit einer Füll? unsichtbarer Gestalten, die mit ihrem Wollen und Wirken unserer Jugend gegenwärtig seien, ihr monarchisches Gefühl, ihr Staatsbewußtsein soll über das bloß preußisch-deutsche der jüngsten Zeit humusreicher, es soll vertieft sein durch die lebendige Kenntnis, welches Erb¬ gut im Begriff „Deutscher Kaiser", welche Antinomien auch darin aufgespeichert liegen. Deutsche Dichtung und deutsche Kunst, deutsche Staatlichkeit und deutscher Sondergeist — all dies soll sie als eine Einheit begreifen, die sich doch vor ihrem Blick in eine Welt von Ereignissen, Werken, Personen aus¬ einanderlegt. Und darüber hinaus: unsere Jugend soll verstehen, wie dies Deutschtum sich als eine Stimme in die Symphonie des Europäismus ein¬ fügt, und wie solcher Europäismus auf seinen Ursprung in der Antike zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/118>, abgerufen am 26.06.2024.