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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der Weltkrieg und die preije der Lebensmittel

und der sonstigen Vertretungen der gewerblichen Stände Frankreichs, betonen,
daß es in Frankreich weite Gebiete gibt, wo der postalische, der Eisenbahn- und
Schiffsverkehr seit Kriegsbeginn überhaupt nicht funktionieren, daß ganze Stüdte
durch die vollkommene Hemmung des Verkehrs geradezu in das Mittel-
alter versetzt worden sind, auch wenn sie die Eisenbahnen vor ihrer Tür
liegen haben.

Auch in Rußland -- der Kornkammer Europas -- klagt man
über die Steigerung der Preise der notwendigsten Lebensmittel. Alle vor¬
liegenden Mitteilungen besagen, daß die Teuerung hier -- wo ein Überfluß
an Lebensmitteln herrsche -- nicht zum kleinsten Teil auf die Unfähigkeit der
russischen Regierung und auf die Planlosigkeit ihrer Maßnahmen, insbesondere
auf ihr Mißtrauen gegen die Tätigkeit der Organe der Selbstverwaltung und
auf die Unterdrückung der Konsumgenossenschaften, zurückzuführen ist. Die
Berichte betonen, daß die Regierung alles nur mittels der althergebrachten
administrativen Strafmaßregeln erreichen wolle, die nur den kleinen Zwischen¬
händler träfen, den großen Spekulanten jedoch frei ausgehen ließen. Welche
große Rolle die Spekulation bei der Lebensmittelteuerung spielt, dafür nur
einige Beispiele. Obgleich durch den Krieg 2 Millionen Pfund Schweinefleisch
innerhalb Rußlands Grenzen zurückgehalten wurden, stieg der Preis des Fleisches;
ebenso überraschend ist die Tatsache, daß die Gänse, von denen sonst 10 Millionen
nach Deutschland exportiert wurden, höhere Preise als in den vergangenen
Jahren erzielten. Vor dem Kriege wurden von Rußland für mehr als 70
Millionen Rubel Eier ins Ausland ausgeführt; trotzdem kosteten aber zehn
Stück frische Kiewer Eier, die früher an Ort und Stelle mit 2 Kopeken ver¬
kauft wurden, in Moskau zu Anfang Mai 1915 bereits 40 Kopeken. Nach
einem Petersburger Telegramm von Anfang Mai 1915 wurde festgestellt, daß
ein Bankkonsortium große Spekulation mit Getreide, Butter, Fleisch und
sonstigen Lebensmitteln treibt, diese Dinge bis zu 99 Prozent beleibt und
fingierte Käufer stellt. Im April 1915 beschloß der Stadtrat von Moskau, die
Regierung zu ersuchen, den Banken den Ankauf von Getreide zu verbieten und
den Zwang zum Verkauf aufgespeicherten Weizens einzuführen.

Einen großen Einfluß auf die Preisfrage der notwendigsten Lebensmittel
in Rußland übt ferner die Überlastung der Eisenbahnen und das Fehlen von
Eisenbahnwagen aus. Die Viehbörse von Moskau gab im April 1915 bekannt,
daß zur Versorgung von Moskau in den letzten Monaten 638 Waggons Vieh
erforderlich, aber nur 245 Wagons angekommen waren. Die Getreidebörse
erklärte, daß der Wagenmangel für die Getreidezufuhr noch viel schädigender
sei. Am 24. und 25. April 1915 wurden in Petersburg wegen Mangels an
Fleisch viele Schlächterläden geschlossen. In einer Denkschrift vom Juni 1915
protestierten nun die Petersburger Schlächtermeister energisch gegen die An¬
schuldigung, daß sie am Fleischmangel und den hohen Fleischpreisen schuld seien.
Sie messen die Schuld ausschließlich der Desorganisierung des Wirtschaftslebens


Der Weltkrieg und die preije der Lebensmittel

und der sonstigen Vertretungen der gewerblichen Stände Frankreichs, betonen,
daß es in Frankreich weite Gebiete gibt, wo der postalische, der Eisenbahn- und
Schiffsverkehr seit Kriegsbeginn überhaupt nicht funktionieren, daß ganze Stüdte
durch die vollkommene Hemmung des Verkehrs geradezu in das Mittel-
alter versetzt worden sind, auch wenn sie die Eisenbahnen vor ihrer Tür
liegen haben.

Auch in Rußland — der Kornkammer Europas — klagt man
über die Steigerung der Preise der notwendigsten Lebensmittel. Alle vor¬
liegenden Mitteilungen besagen, daß die Teuerung hier — wo ein Überfluß
an Lebensmitteln herrsche — nicht zum kleinsten Teil auf die Unfähigkeit der
russischen Regierung und auf die Planlosigkeit ihrer Maßnahmen, insbesondere
auf ihr Mißtrauen gegen die Tätigkeit der Organe der Selbstverwaltung und
auf die Unterdrückung der Konsumgenossenschaften, zurückzuführen ist. Die
Berichte betonen, daß die Regierung alles nur mittels der althergebrachten
administrativen Strafmaßregeln erreichen wolle, die nur den kleinen Zwischen¬
händler träfen, den großen Spekulanten jedoch frei ausgehen ließen. Welche
große Rolle die Spekulation bei der Lebensmittelteuerung spielt, dafür nur
einige Beispiele. Obgleich durch den Krieg 2 Millionen Pfund Schweinefleisch
innerhalb Rußlands Grenzen zurückgehalten wurden, stieg der Preis des Fleisches;
ebenso überraschend ist die Tatsache, daß die Gänse, von denen sonst 10 Millionen
nach Deutschland exportiert wurden, höhere Preise als in den vergangenen
Jahren erzielten. Vor dem Kriege wurden von Rußland für mehr als 70
Millionen Rubel Eier ins Ausland ausgeführt; trotzdem kosteten aber zehn
Stück frische Kiewer Eier, die früher an Ort und Stelle mit 2 Kopeken ver¬
kauft wurden, in Moskau zu Anfang Mai 1915 bereits 40 Kopeken. Nach
einem Petersburger Telegramm von Anfang Mai 1915 wurde festgestellt, daß
ein Bankkonsortium große Spekulation mit Getreide, Butter, Fleisch und
sonstigen Lebensmitteln treibt, diese Dinge bis zu 99 Prozent beleibt und
fingierte Käufer stellt. Im April 1915 beschloß der Stadtrat von Moskau, die
Regierung zu ersuchen, den Banken den Ankauf von Getreide zu verbieten und
den Zwang zum Verkauf aufgespeicherten Weizens einzuführen.

Einen großen Einfluß auf die Preisfrage der notwendigsten Lebensmittel
in Rußland übt ferner die Überlastung der Eisenbahnen und das Fehlen von
Eisenbahnwagen aus. Die Viehbörse von Moskau gab im April 1915 bekannt,
daß zur Versorgung von Moskau in den letzten Monaten 638 Waggons Vieh
erforderlich, aber nur 245 Wagons angekommen waren. Die Getreidebörse
erklärte, daß der Wagenmangel für die Getreidezufuhr noch viel schädigender
sei. Am 24. und 25. April 1915 wurden in Petersburg wegen Mangels an
Fleisch viele Schlächterläden geschlossen. In einer Denkschrift vom Juni 1915
protestierten nun die Petersburger Schlächtermeister energisch gegen die An¬
schuldigung, daß sie am Fleischmangel und den hohen Fleischpreisen schuld seien.
Sie messen die Schuld ausschließlich der Desorganisierung des Wirtschaftslebens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/88>, abgerufen am 23.07.2024.