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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Kriege

eigener Kultur, so daß jüdisches Volkstum und jüdisches Geistesleben sich in aller
Eigenart entfalten können, und daß sich selbst das zu Unrecht verachtete
Mauscheldeutsch zur Kultursprache entwickeln kann.

Die Frage der Bewässerung Mesopotamiens hatte sich vor dem Kriege
bereits zu einem großen Projekt entwickelt, das bei normalem Verlauf der
Ereignisse in absehbarer Zeit von englischer Seite in Angriff genommen worden
wäre. An Kapital hätte es in diesem Falle sicher nicht gefehlt, aber vielleicht
an Ansiedlern. Dieses Projekt ist mit dem Kriege untergegangen und wird
wohl nicht sobald aufleben. Die Türkei hat aber ein großes Interesse daran,
daß ihr hier ohne eigene Aufwendung an Kapital und Menschen eine neue
steuerkräftige Provinz geschenkt wird. Das nächste Interesse hat die Bagdad¬
bahngesellschaft und mit ihr das deutsche Kapital (das ja zum guten Teil
jüdisches Kapital ist), denn die Bagdadbahn kann erst durch die Besiedelung
Mesopotamiens recht rentabel werden. Wie schon erwähnt, bereitet aber die
Beschaffung des Menschenmaterials Schwierigkeiten. Die Türkei befindet sich
in einem Zustande fortschreitender Entvölkerung*); germanische und slavische
Auswanderer werden Länder mit christlicher Regierung vorziehen, Hindus sind
als "Heiden" verachtet, die mohammedanischen Inder sind Schiiten; es blieben
noch mohammedanische Ansiedler aus dem stark bevölkerten Ägypten, die sich
aber schwer in solchen Massen werden in Bewegung setzen lassen, wie sie das
Projekt erfordert. Hier kann das Judentum mit seinen großen auswanderungs¬
lustigen Proletariermassen der Türkei zu Hilfe kommen. Eine jüdische Ansiedelung
bietet der Türkei noch den Vorteil, daß sie, außerhalb jeder religiösen und
nationalen Interessengemeinschaft mit den übrigen Bevölkerungsteilen stehend,
politisch nicht leicht gefährlich werden kann. Überdies wird die jüdische Ein¬
wanderung von selbst zum Stillstand kommen, wenn der Vorrat an aus¬
wanderungslustigen Juden erschöpft ist, während eine Besiedelung mit christlichen
Europäern die Türkei in die Gefahr einer vollkommenen Überflutung brächte.
So ist es nur nötig, den Zionismus mit der Bewässerungsfrage und den
Interessen des Bagdadbahnkapitals zu verkoppeln, um die europäische Juden¬
frage und mehrere andere Fragen zugleich zu lösen.

Diese Verknüpfung verschiedener Interessenkreise bietet auch noch eine
besondere Gewähr des Gelingens. Das Bewässerungswerk kann ohne große
Kapitalien überhaupt nicht in Angriff genommen werden; der Zionismus wird
eine große werbende Kraft entwickeln, um diese Kapitalien aufzubringen. Sind
aber einmal große Kapitalien angelegt, so fordert deren Interesse auch eine
rasche und energische Durchführung der Besiedelung. So wird ein Kreis immer



*) Imi Euphratgebiet Sandiak-Zor kommen 100 000 Menschen auf 100000 Quadrat¬
kilometer, also ein Mensch auf den Quadratkilometer. Die durchschnittliche Bevölkerungs¬
dichte der Türkei beträgt 8 bis 10 Menschen auf den Quadratkilometer gegen 106 in Deutsch¬
land, 11ö in Italien und mehr als 200 in Belgien.
Die Judenfrage nach dem Kriege

eigener Kultur, so daß jüdisches Volkstum und jüdisches Geistesleben sich in aller
Eigenart entfalten können, und daß sich selbst das zu Unrecht verachtete
Mauscheldeutsch zur Kultursprache entwickeln kann.

Die Frage der Bewässerung Mesopotamiens hatte sich vor dem Kriege
bereits zu einem großen Projekt entwickelt, das bei normalem Verlauf der
Ereignisse in absehbarer Zeit von englischer Seite in Angriff genommen worden
wäre. An Kapital hätte es in diesem Falle sicher nicht gefehlt, aber vielleicht
an Ansiedlern. Dieses Projekt ist mit dem Kriege untergegangen und wird
wohl nicht sobald aufleben. Die Türkei hat aber ein großes Interesse daran,
daß ihr hier ohne eigene Aufwendung an Kapital und Menschen eine neue
steuerkräftige Provinz geschenkt wird. Das nächste Interesse hat die Bagdad¬
bahngesellschaft und mit ihr das deutsche Kapital (das ja zum guten Teil
jüdisches Kapital ist), denn die Bagdadbahn kann erst durch die Besiedelung
Mesopotamiens recht rentabel werden. Wie schon erwähnt, bereitet aber die
Beschaffung des Menschenmaterials Schwierigkeiten. Die Türkei befindet sich
in einem Zustande fortschreitender Entvölkerung*); germanische und slavische
Auswanderer werden Länder mit christlicher Regierung vorziehen, Hindus sind
als „Heiden" verachtet, die mohammedanischen Inder sind Schiiten; es blieben
noch mohammedanische Ansiedler aus dem stark bevölkerten Ägypten, die sich
aber schwer in solchen Massen werden in Bewegung setzen lassen, wie sie das
Projekt erfordert. Hier kann das Judentum mit seinen großen auswanderungs¬
lustigen Proletariermassen der Türkei zu Hilfe kommen. Eine jüdische Ansiedelung
bietet der Türkei noch den Vorteil, daß sie, außerhalb jeder religiösen und
nationalen Interessengemeinschaft mit den übrigen Bevölkerungsteilen stehend,
politisch nicht leicht gefährlich werden kann. Überdies wird die jüdische Ein¬
wanderung von selbst zum Stillstand kommen, wenn der Vorrat an aus¬
wanderungslustigen Juden erschöpft ist, während eine Besiedelung mit christlichen
Europäern die Türkei in die Gefahr einer vollkommenen Überflutung brächte.
So ist es nur nötig, den Zionismus mit der Bewässerungsfrage und den
Interessen des Bagdadbahnkapitals zu verkoppeln, um die europäische Juden¬
frage und mehrere andere Fragen zugleich zu lösen.

Diese Verknüpfung verschiedener Interessenkreise bietet auch noch eine
besondere Gewähr des Gelingens. Das Bewässerungswerk kann ohne große
Kapitalien überhaupt nicht in Angriff genommen werden; der Zionismus wird
eine große werbende Kraft entwickeln, um diese Kapitalien aufzubringen. Sind
aber einmal große Kapitalien angelegt, so fordert deren Interesse auch eine
rasche und energische Durchführung der Besiedelung. So wird ein Kreis immer



*) Imi Euphratgebiet Sandiak-Zor kommen 100 000 Menschen auf 100000 Quadrat¬
kilometer, also ein Mensch auf den Quadratkilometer. Die durchschnittliche Bevölkerungs¬
dichte der Türkei beträgt 8 bis 10 Menschen auf den Quadratkilometer gegen 106 in Deutsch¬
land, 11ö in Italien und mehr als 200 in Belgien.
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[0419] Die Judenfrage nach dem Kriege eigener Kultur, so daß jüdisches Volkstum und jüdisches Geistesleben sich in aller Eigenart entfalten können, und daß sich selbst das zu Unrecht verachtete Mauscheldeutsch zur Kultursprache entwickeln kann. Die Frage der Bewässerung Mesopotamiens hatte sich vor dem Kriege bereits zu einem großen Projekt entwickelt, das bei normalem Verlauf der Ereignisse in absehbarer Zeit von englischer Seite in Angriff genommen worden wäre. An Kapital hätte es in diesem Falle sicher nicht gefehlt, aber vielleicht an Ansiedlern. Dieses Projekt ist mit dem Kriege untergegangen und wird wohl nicht sobald aufleben. Die Türkei hat aber ein großes Interesse daran, daß ihr hier ohne eigene Aufwendung an Kapital und Menschen eine neue steuerkräftige Provinz geschenkt wird. Das nächste Interesse hat die Bagdad¬ bahngesellschaft und mit ihr das deutsche Kapital (das ja zum guten Teil jüdisches Kapital ist), denn die Bagdadbahn kann erst durch die Besiedelung Mesopotamiens recht rentabel werden. Wie schon erwähnt, bereitet aber die Beschaffung des Menschenmaterials Schwierigkeiten. Die Türkei befindet sich in einem Zustande fortschreitender Entvölkerung*); germanische und slavische Auswanderer werden Länder mit christlicher Regierung vorziehen, Hindus sind als „Heiden" verachtet, die mohammedanischen Inder sind Schiiten; es blieben noch mohammedanische Ansiedler aus dem stark bevölkerten Ägypten, die sich aber schwer in solchen Massen werden in Bewegung setzen lassen, wie sie das Projekt erfordert. Hier kann das Judentum mit seinen großen auswanderungs¬ lustigen Proletariermassen der Türkei zu Hilfe kommen. Eine jüdische Ansiedelung bietet der Türkei noch den Vorteil, daß sie, außerhalb jeder religiösen und nationalen Interessengemeinschaft mit den übrigen Bevölkerungsteilen stehend, politisch nicht leicht gefährlich werden kann. Überdies wird die jüdische Ein¬ wanderung von selbst zum Stillstand kommen, wenn der Vorrat an aus¬ wanderungslustigen Juden erschöpft ist, während eine Besiedelung mit christlichen Europäern die Türkei in die Gefahr einer vollkommenen Überflutung brächte. So ist es nur nötig, den Zionismus mit der Bewässerungsfrage und den Interessen des Bagdadbahnkapitals zu verkoppeln, um die europäische Juden¬ frage und mehrere andere Fragen zugleich zu lösen. Diese Verknüpfung verschiedener Interessenkreise bietet auch noch eine besondere Gewähr des Gelingens. Das Bewässerungswerk kann ohne große Kapitalien überhaupt nicht in Angriff genommen werden; der Zionismus wird eine große werbende Kraft entwickeln, um diese Kapitalien aufzubringen. Sind aber einmal große Kapitalien angelegt, so fordert deren Interesse auch eine rasche und energische Durchführung der Besiedelung. So wird ein Kreis immer *) Imi Euphratgebiet Sandiak-Zor kommen 100 000 Menschen auf 100000 Quadrat¬ kilometer, also ein Mensch auf den Quadratkilometer. Die durchschnittliche Bevölkerungs¬ dichte der Türkei beträgt 8 bis 10 Menschen auf den Quadratkilometer gegen 106 in Deutsch¬ land, 11ö in Italien und mehr als 200 in Belgien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/419>, abgerufen am 28.09.2024.