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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Kriege

besondere jüdische Wahlkörper für die Parlamentswahlen zu bilden, also die
Juden offiziell neben den Polen, Ruthenen und Deutschen als Volk anzuerkennen.
In Rußland aber umfaßt die neue Lehre heute die Zukunftshoffnung des ganzen
Volkes. Noch zur Zeit der Revolution war das nicht so. Damals erwarteten
die Juden von der Niederringung des Absolutismus und einer allgemeinen
nationalen und sozialen Verbrüderung das Heil, und sie stellten der Bewegung
den größten Teil der Führer, eine Tatsache, die bei uns nicht hinreichend
gewürdigt worden ist. Nach der Niederlage der Revolution hat die jüdische
Jugend enttäuscht ihre alten Ideale verworfen und sich dem neuen zionistischen
Ideal zugewandt. So hat der Zionismus geradezu der russischen Revolution
das Rückgrat gebrochen. Daß das russische Judentum für die Lösung der Frage
im Sinn des Zionismus reif ist, kann also nicht bezweifelt werden, und es
dürfte kaum ein zweitesmal vorgekommen sein, daß sich die schärfsten Gegen¬
sätze so einmütig in der gleichen Forderung zusammengefunden hätten, wie hier
die Bestrebungen der Juden und ihrer extremsten Gegner. Der historische
Moment wird versäumt sein, wenn man wartet, bis die zionistische Woge wieder
im Sinken ist*).

In dem reinen Herzlschen Sinne, als eine Rückkehr der Juden nach
Palästina, wird sich der Zionismus allerdings nicht durchführen lassen, denn
Palästina ist ein kleines und leidlich kultiviertes Land, dessen Boden in festen
Händen ist. Außerdem nehmen die christlichen und mohammedanischen Völker
so viel Interesse an diesem Fleckchen Erde, daß sie nicht den Juden werden
Platz machen wollen. Hat die türkische Regierung doch bereits Gesetze zur
Beschränkung der jüdischen Einwanderung erlassen**). Palästina oder Jerusalem
kann deshalb den Juden nicht mehr werden als ein kulturelles Zentrum, eine
heilige Stätte wie Mekka. Ein Land, das eine Heimstätte der Juden werden
soll, muß möglichst brach und dünn bevölkert sein und doch auf hohe Frucht¬
barkeit gebracht werden können, es muß groß genug sein, nicht nur das jüdische
Proletariat Europas aufzunehmen, sondern auch für einige Generationen der
natürlichen Volksvermehrung Raum zu bieten. Wenn es eine hinreichende
Anziehung ausüben soll, so soll es auch den alten Wohnstätten der Juden nahe
liegen und selbst mit ihren geschichtlichen Erinnerungen verknüpft sein. Ein
Land erfüllt diese Bedingungen in geradezu idealer Weise: Mesopotamien.
Dabei hat es noch andere große Vorzüge. Es ist durch die Flüsse an das
Meer und durch die Bagdadbahn an den europäischen Verkehr angeschlossen.
Es liegt nahe genug an Europa, um an europäischen Kulturfragen Anteil zu
nehmen, und es fehlt ihm doch die unmittelbare Berührung mit Ländern hoher




*) Unsere eigenen Beobachtungen in Westrußland erlauben uns nicht, dem geschätzten
Autor in diesen Ausführungen über die Kraft des Zionismus zuzustimmen. D. Red.
**') Aus Gründen der auswärtigen Politik; die russischen Zionisten waren zum Teil
D- Red. Träger auch der russischen Gelüste auf die Dardanellen.
Die Judenfrage nach dem Kriege

besondere jüdische Wahlkörper für die Parlamentswahlen zu bilden, also die
Juden offiziell neben den Polen, Ruthenen und Deutschen als Volk anzuerkennen.
In Rußland aber umfaßt die neue Lehre heute die Zukunftshoffnung des ganzen
Volkes. Noch zur Zeit der Revolution war das nicht so. Damals erwarteten
die Juden von der Niederringung des Absolutismus und einer allgemeinen
nationalen und sozialen Verbrüderung das Heil, und sie stellten der Bewegung
den größten Teil der Führer, eine Tatsache, die bei uns nicht hinreichend
gewürdigt worden ist. Nach der Niederlage der Revolution hat die jüdische
Jugend enttäuscht ihre alten Ideale verworfen und sich dem neuen zionistischen
Ideal zugewandt. So hat der Zionismus geradezu der russischen Revolution
das Rückgrat gebrochen. Daß das russische Judentum für die Lösung der Frage
im Sinn des Zionismus reif ist, kann also nicht bezweifelt werden, und es
dürfte kaum ein zweitesmal vorgekommen sein, daß sich die schärfsten Gegen¬
sätze so einmütig in der gleichen Forderung zusammengefunden hätten, wie hier
die Bestrebungen der Juden und ihrer extremsten Gegner. Der historische
Moment wird versäumt sein, wenn man wartet, bis die zionistische Woge wieder
im Sinken ist*).

In dem reinen Herzlschen Sinne, als eine Rückkehr der Juden nach
Palästina, wird sich der Zionismus allerdings nicht durchführen lassen, denn
Palästina ist ein kleines und leidlich kultiviertes Land, dessen Boden in festen
Händen ist. Außerdem nehmen die christlichen und mohammedanischen Völker
so viel Interesse an diesem Fleckchen Erde, daß sie nicht den Juden werden
Platz machen wollen. Hat die türkische Regierung doch bereits Gesetze zur
Beschränkung der jüdischen Einwanderung erlassen**). Palästina oder Jerusalem
kann deshalb den Juden nicht mehr werden als ein kulturelles Zentrum, eine
heilige Stätte wie Mekka. Ein Land, das eine Heimstätte der Juden werden
soll, muß möglichst brach und dünn bevölkert sein und doch auf hohe Frucht¬
barkeit gebracht werden können, es muß groß genug sein, nicht nur das jüdische
Proletariat Europas aufzunehmen, sondern auch für einige Generationen der
natürlichen Volksvermehrung Raum zu bieten. Wenn es eine hinreichende
Anziehung ausüben soll, so soll es auch den alten Wohnstätten der Juden nahe
liegen und selbst mit ihren geschichtlichen Erinnerungen verknüpft sein. Ein
Land erfüllt diese Bedingungen in geradezu idealer Weise: Mesopotamien.
Dabei hat es noch andere große Vorzüge. Es ist durch die Flüsse an das
Meer und durch die Bagdadbahn an den europäischen Verkehr angeschlossen.
Es liegt nahe genug an Europa, um an europäischen Kulturfragen Anteil zu
nehmen, und es fehlt ihm doch die unmittelbare Berührung mit Ländern hoher




*) Unsere eigenen Beobachtungen in Westrußland erlauben uns nicht, dem geschätzten
Autor in diesen Ausführungen über die Kraft des Zionismus zuzustimmen. D. Red.
**') Aus Gründen der auswärtigen Politik; die russischen Zionisten waren zum Teil
D- Red. Träger auch der russischen Gelüste auf die Dardanellen.
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[0418] Die Judenfrage nach dem Kriege besondere jüdische Wahlkörper für die Parlamentswahlen zu bilden, also die Juden offiziell neben den Polen, Ruthenen und Deutschen als Volk anzuerkennen. In Rußland aber umfaßt die neue Lehre heute die Zukunftshoffnung des ganzen Volkes. Noch zur Zeit der Revolution war das nicht so. Damals erwarteten die Juden von der Niederringung des Absolutismus und einer allgemeinen nationalen und sozialen Verbrüderung das Heil, und sie stellten der Bewegung den größten Teil der Führer, eine Tatsache, die bei uns nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Nach der Niederlage der Revolution hat die jüdische Jugend enttäuscht ihre alten Ideale verworfen und sich dem neuen zionistischen Ideal zugewandt. So hat der Zionismus geradezu der russischen Revolution das Rückgrat gebrochen. Daß das russische Judentum für die Lösung der Frage im Sinn des Zionismus reif ist, kann also nicht bezweifelt werden, und es dürfte kaum ein zweitesmal vorgekommen sein, daß sich die schärfsten Gegen¬ sätze so einmütig in der gleichen Forderung zusammengefunden hätten, wie hier die Bestrebungen der Juden und ihrer extremsten Gegner. Der historische Moment wird versäumt sein, wenn man wartet, bis die zionistische Woge wieder im Sinken ist*). In dem reinen Herzlschen Sinne, als eine Rückkehr der Juden nach Palästina, wird sich der Zionismus allerdings nicht durchführen lassen, denn Palästina ist ein kleines und leidlich kultiviertes Land, dessen Boden in festen Händen ist. Außerdem nehmen die christlichen und mohammedanischen Völker so viel Interesse an diesem Fleckchen Erde, daß sie nicht den Juden werden Platz machen wollen. Hat die türkische Regierung doch bereits Gesetze zur Beschränkung der jüdischen Einwanderung erlassen**). Palästina oder Jerusalem kann deshalb den Juden nicht mehr werden als ein kulturelles Zentrum, eine heilige Stätte wie Mekka. Ein Land, das eine Heimstätte der Juden werden soll, muß möglichst brach und dünn bevölkert sein und doch auf hohe Frucht¬ barkeit gebracht werden können, es muß groß genug sein, nicht nur das jüdische Proletariat Europas aufzunehmen, sondern auch für einige Generationen der natürlichen Volksvermehrung Raum zu bieten. Wenn es eine hinreichende Anziehung ausüben soll, so soll es auch den alten Wohnstätten der Juden nahe liegen und selbst mit ihren geschichtlichen Erinnerungen verknüpft sein. Ein Land erfüllt diese Bedingungen in geradezu idealer Weise: Mesopotamien. Dabei hat es noch andere große Vorzüge. Es ist durch die Flüsse an das Meer und durch die Bagdadbahn an den europäischen Verkehr angeschlossen. Es liegt nahe genug an Europa, um an europäischen Kulturfragen Anteil zu nehmen, und es fehlt ihm doch die unmittelbare Berührung mit Ländern hoher *) Unsere eigenen Beobachtungen in Westrußland erlauben uns nicht, dem geschätzten Autor in diesen Ausführungen über die Kraft des Zionismus zuzustimmen. D. Red. **') Aus Gründen der auswärtigen Politik; die russischen Zionisten waren zum Teil D- Red. Träger auch der russischen Gelüste auf die Dardanellen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/418>, abgerufen am 23.07.2024.