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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Kriege

den andern vorwärts drängen, während bisher alle praktischen Versuche der
Zionisten nach einigen schwächlichen Erfolgen aus Mangel an Kapital und
Interesse versumpft sind. Trotzdem wird es nicht nötig sein, sogleich das ganze
Zweistromland für das Unternehmen in Anspruch zu nehmen. Das Land hat
im Altertum zwei große Völker ernährt, und wird auch heute dazu imstande
sein. Ein künstlich bewässertes Land verlangt ja aus rein wirtschaftlichen
Gründen eine möglichst dichte Besiedelung*). Wenn die Türkei also den einen
Teil, etwa den nördlichen, Palästina näher gelegenen, der jüdischen Besiedelung
preisgibt, so bleibt ihr immer noch die Aussicht, den andern, also den südlichen
mit der Strommündung und den reichen Bodenschätzen, gestützt auf die Erfahrungen
des zionistischen Unternehmens, zu einem mohammedanischen Kolonistenland
auszugestalten, vorausgesetzt eben, daß sie die nötige Zahl von Ansiedlern
aufbringt.

Man hat den Zionismus in seinen Anfängen eine Utopie gescholten, aber
er ist so wenig Utopie, wie die Besiedelung der Neuen Welt durch die Europäer
wie die Entstehung von Judenvierteln in den amerikanischen Großstädten**) oder
wie die plötzliche Entvölkerung Irlands im vorigen Jahrhundert. Man hat
behauptet, es sei unmöglich, ein Volk, das durch Jahrtausende vom Handel
gelebt habe, zur Scholle zurückzuführen, aber die zionistischen Kolonien in Palästina,
in der Cyrenaika, in Amerika, widerlegen diese Behauptung. In Galizien, wo
die Juden durch Gesetze nicht eingeengt find, aber dem russischen Zustande noch
näher stehen, soll das Streben der kleinen jüdischen Händler vor allem auf
Landbesitz gerichtet sein, und soll der Kaftanjude hinter dem Pflug eine ganz
gewohnte Erscheinung sein. Im slovakischen Ungarn konnte ich mich selbst von
der Eignung der Juden für landwirtschaftliche Tätigkeit überzeugen. In jedem
Dorfe saß ein Gastwirt, der immer zugleich einen landwirtschaftlichen Betrieb
hatte, und in einer Woche des September stand auf dem Hofe jeder Gastwirt¬
schaft die Laubhütte. Alle diese Wirte waren also Juden.

Mißerfolge würden freilich eintreten, wenn man alle Juden aus ihren
Kramläden hinweg sogleich als selbständige Wirte ansiedeln wollte. Ein Über¬
gang und eine Erziehung zur Landwirtschaft sind vielleicht nötig. Man siedet
deshalb die Eingewanderten zuerst als Arbeiter an, lasse sie die Bewässerungs¬
kanäle bauen und fasse sie dann in landwirtschaftlichen Großbetrieben zusammen.
Dadurch sollen sie nach einigen Jahren das Recht auf eigenen Grund und
Boden für sich und ihre Kinder erwerben. Vielleicht ist es sogar zweckmäßig,




*) Nehmen wir für Scmdiak-Zor eine Bevölkerungsdichte gleich jener Italiens an, eines
überwiegend Landwirtschaft treibenden Landes mit großen Odflächen, so würde Scmdiak-Zor
allein IIV2 Millionen Menschen aufnehmen können; rechnen wir 80 Prozent der jüdischen
Bevölkerung Rußlands (etwa 6 Millionen) als auswanderungsfähig, so würde jenes Gebiet
über das Dreifache der jüdischen Auswanderung aufnehmen können.
**) Wie Luschan kürzlich in einem Vortrag ausführte wohnen in den östlichen Stadtteilen
New Dorks mehr Juden als im Deutschen Reich.
Die Judenfrage nach dem Kriege

den andern vorwärts drängen, während bisher alle praktischen Versuche der
Zionisten nach einigen schwächlichen Erfolgen aus Mangel an Kapital und
Interesse versumpft sind. Trotzdem wird es nicht nötig sein, sogleich das ganze
Zweistromland für das Unternehmen in Anspruch zu nehmen. Das Land hat
im Altertum zwei große Völker ernährt, und wird auch heute dazu imstande
sein. Ein künstlich bewässertes Land verlangt ja aus rein wirtschaftlichen
Gründen eine möglichst dichte Besiedelung*). Wenn die Türkei also den einen
Teil, etwa den nördlichen, Palästina näher gelegenen, der jüdischen Besiedelung
preisgibt, so bleibt ihr immer noch die Aussicht, den andern, also den südlichen
mit der Strommündung und den reichen Bodenschätzen, gestützt auf die Erfahrungen
des zionistischen Unternehmens, zu einem mohammedanischen Kolonistenland
auszugestalten, vorausgesetzt eben, daß sie die nötige Zahl von Ansiedlern
aufbringt.

Man hat den Zionismus in seinen Anfängen eine Utopie gescholten, aber
er ist so wenig Utopie, wie die Besiedelung der Neuen Welt durch die Europäer
wie die Entstehung von Judenvierteln in den amerikanischen Großstädten**) oder
wie die plötzliche Entvölkerung Irlands im vorigen Jahrhundert. Man hat
behauptet, es sei unmöglich, ein Volk, das durch Jahrtausende vom Handel
gelebt habe, zur Scholle zurückzuführen, aber die zionistischen Kolonien in Palästina,
in der Cyrenaika, in Amerika, widerlegen diese Behauptung. In Galizien, wo
die Juden durch Gesetze nicht eingeengt find, aber dem russischen Zustande noch
näher stehen, soll das Streben der kleinen jüdischen Händler vor allem auf
Landbesitz gerichtet sein, und soll der Kaftanjude hinter dem Pflug eine ganz
gewohnte Erscheinung sein. Im slovakischen Ungarn konnte ich mich selbst von
der Eignung der Juden für landwirtschaftliche Tätigkeit überzeugen. In jedem
Dorfe saß ein Gastwirt, der immer zugleich einen landwirtschaftlichen Betrieb
hatte, und in einer Woche des September stand auf dem Hofe jeder Gastwirt¬
schaft die Laubhütte. Alle diese Wirte waren also Juden.

Mißerfolge würden freilich eintreten, wenn man alle Juden aus ihren
Kramläden hinweg sogleich als selbständige Wirte ansiedeln wollte. Ein Über¬
gang und eine Erziehung zur Landwirtschaft sind vielleicht nötig. Man siedet
deshalb die Eingewanderten zuerst als Arbeiter an, lasse sie die Bewässerungs¬
kanäle bauen und fasse sie dann in landwirtschaftlichen Großbetrieben zusammen.
Dadurch sollen sie nach einigen Jahren das Recht auf eigenen Grund und
Boden für sich und ihre Kinder erwerben. Vielleicht ist es sogar zweckmäßig,




*) Nehmen wir für Scmdiak-Zor eine Bevölkerungsdichte gleich jener Italiens an, eines
überwiegend Landwirtschaft treibenden Landes mit großen Odflächen, so würde Scmdiak-Zor
allein IIV2 Millionen Menschen aufnehmen können; rechnen wir 80 Prozent der jüdischen
Bevölkerung Rußlands (etwa 6 Millionen) als auswanderungsfähig, so würde jenes Gebiet
über das Dreifache der jüdischen Auswanderung aufnehmen können.
**) Wie Luschan kürzlich in einem Vortrag ausführte wohnen in den östlichen Stadtteilen
New Dorks mehr Juden als im Deutschen Reich.
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[0420] Die Judenfrage nach dem Kriege den andern vorwärts drängen, während bisher alle praktischen Versuche der Zionisten nach einigen schwächlichen Erfolgen aus Mangel an Kapital und Interesse versumpft sind. Trotzdem wird es nicht nötig sein, sogleich das ganze Zweistromland für das Unternehmen in Anspruch zu nehmen. Das Land hat im Altertum zwei große Völker ernährt, und wird auch heute dazu imstande sein. Ein künstlich bewässertes Land verlangt ja aus rein wirtschaftlichen Gründen eine möglichst dichte Besiedelung*). Wenn die Türkei also den einen Teil, etwa den nördlichen, Palästina näher gelegenen, der jüdischen Besiedelung preisgibt, so bleibt ihr immer noch die Aussicht, den andern, also den südlichen mit der Strommündung und den reichen Bodenschätzen, gestützt auf die Erfahrungen des zionistischen Unternehmens, zu einem mohammedanischen Kolonistenland auszugestalten, vorausgesetzt eben, daß sie die nötige Zahl von Ansiedlern aufbringt. Man hat den Zionismus in seinen Anfängen eine Utopie gescholten, aber er ist so wenig Utopie, wie die Besiedelung der Neuen Welt durch die Europäer wie die Entstehung von Judenvierteln in den amerikanischen Großstädten**) oder wie die plötzliche Entvölkerung Irlands im vorigen Jahrhundert. Man hat behauptet, es sei unmöglich, ein Volk, das durch Jahrtausende vom Handel gelebt habe, zur Scholle zurückzuführen, aber die zionistischen Kolonien in Palästina, in der Cyrenaika, in Amerika, widerlegen diese Behauptung. In Galizien, wo die Juden durch Gesetze nicht eingeengt find, aber dem russischen Zustande noch näher stehen, soll das Streben der kleinen jüdischen Händler vor allem auf Landbesitz gerichtet sein, und soll der Kaftanjude hinter dem Pflug eine ganz gewohnte Erscheinung sein. Im slovakischen Ungarn konnte ich mich selbst von der Eignung der Juden für landwirtschaftliche Tätigkeit überzeugen. In jedem Dorfe saß ein Gastwirt, der immer zugleich einen landwirtschaftlichen Betrieb hatte, und in einer Woche des September stand auf dem Hofe jeder Gastwirt¬ schaft die Laubhütte. Alle diese Wirte waren also Juden. Mißerfolge würden freilich eintreten, wenn man alle Juden aus ihren Kramläden hinweg sogleich als selbständige Wirte ansiedeln wollte. Ein Über¬ gang und eine Erziehung zur Landwirtschaft sind vielleicht nötig. Man siedet deshalb die Eingewanderten zuerst als Arbeiter an, lasse sie die Bewässerungs¬ kanäle bauen und fasse sie dann in landwirtschaftlichen Großbetrieben zusammen. Dadurch sollen sie nach einigen Jahren das Recht auf eigenen Grund und Boden für sich und ihre Kinder erwerben. Vielleicht ist es sogar zweckmäßig, *) Nehmen wir für Scmdiak-Zor eine Bevölkerungsdichte gleich jener Italiens an, eines überwiegend Landwirtschaft treibenden Landes mit großen Odflächen, so würde Scmdiak-Zor allein IIV2 Millionen Menschen aufnehmen können; rechnen wir 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung Rußlands (etwa 6 Millionen) als auswanderungsfähig, so würde jenes Gebiet über das Dreifache der jüdischen Auswanderung aufnehmen können. **) Wie Luschan kürzlich in einem Vortrag ausführte wohnen in den östlichen Stadtteilen New Dorks mehr Juden als im Deutschen Reich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/420>, abgerufen am 26.06.2024.