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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Kriegs

diese Erwerbsmöglichkeiten unter scharfer gegenseitiger Konkurrenz fruchtbar zu
machen suchen. Verschuldung und Mobilisierung des bäuerlichen Grundbesitzes
und eine überstürzte kapitalistische Entwicklung mit schweren wirtschaftlichen
Erschütterungen wird die Folge sein. Von der gewonnenen wirtschaftlichen Basis
aus werden die Juden dann in alle Zweige des Erwerbslebens und in alle
höheren Berufe eindringen. Die durch das Vordringen der Juden geschädigten
Schichten werden mit einer hitzigen antisemitischen Agitation antworten, die zu
schweren und gehässigen Kämpfen führt und nur zu leicht eine neue Beschränkung
und Bedrückung der Juden, zum mindesten aber wirtschaftliche Abwehrma߬
regeln, Selbsthilfe und Bonkott zur Folge haben wird, so daß auch die Juden
ihrer Erfolge nicht werden froh werden. Auch wir werden in diese Entwicklung
hineingezogen werden. Den Juden wird ihr Heimatland, in dem sie sich
infolge ihrer Zusammendrängung gegenseitig behindern, bald zu eng sein. Sie
werden in Scharen auswandern, aber nicht nach dem wenig entwickelten, vom
Kriege ausgesogenen und ihnen wahrscheinlich noch immer verschlossenen Osten,
sondern zu uns. So werden auch wir nach einiger Zeit eine neue Überfüllung
bestimmter Berufe mit Juden und ein Wiederaufleben der antisemitischen Bewegung
erleben, unter der nicht zuletzt unsere eingesessener Juden zu leiden haben werden.

Glücklicherweise ist das Heilmittel vom Judentum selbst gefunden worden,
und das ist der Zionismus, das letzte und merkwürdigste Glied in demi großen
Aufschwung der nationalen Bewegungen in Europa. Wir sind geneigt, die Kraft
dieser ebenso praktischen wie idealen Bewegung zu unterschätzen, weil wir sie
uach den Vorgängen im deutschen Judentum beurteilen. Aber bei uns fehlt
dem Zionismus zur Verfolgung seines vornehmsten Zieles die Grundlage, ein
breites jüdisches Proletariat. So beschränkt er sich darauf, ein jüdisches National¬
bewußtsein zu propagieren, und zu versuchen, die Entwicklung rückgängig zu
machen, welche das Aufgehen des jüdischen Geisteslebens im Geistesleben des
Wirtsvolkes anstrebt. Die bisherige Politik unserer Juden ging aber gerade
darauf aus, ihr Nationalgefühl zu verlieren oder zu verheimlichen, dessen Betonung
ihnen die errungene Gleichberechtigung zu gefährden oder wenigstens das
unbeachtete Eindringen in alle Berufe zu erschweren schien. So hat der
Zionismus gerade im eigenen Lager der westlichen Juden die schärfste Zurück¬
weisung erfahren. Anders als bei uns ist es bereits in Österreich-Ungarn,
besonders in Gegenden großer jüdischer Volksdichte. Ich bin selbst vor sechs
Jahren gelegentlich eines Aufenthaltes im slovakischen Ungarn durch Zufall
darauf aufmerksam geworden, daß fast die ganze jüdische Bevölkerung (sie machte
ungefähr den ganzen wohlhabenden Teil der Ortsbevölkerung aus) zionistisch
organisiert war und ihre regelmäßigen Konventikel hielt. Noch stärker dürfte
die Bewegung in den polnischen Landesteilen sein; hat man doch versucht (was
daraus geworden ist, kann ich jetzt nicht feststellen) in Galizien und der Bukowina")



*) Auch in Russisch-PolenI D, Red.
Die Judenfrage nach dem Kriegs

diese Erwerbsmöglichkeiten unter scharfer gegenseitiger Konkurrenz fruchtbar zu
machen suchen. Verschuldung und Mobilisierung des bäuerlichen Grundbesitzes
und eine überstürzte kapitalistische Entwicklung mit schweren wirtschaftlichen
Erschütterungen wird die Folge sein. Von der gewonnenen wirtschaftlichen Basis
aus werden die Juden dann in alle Zweige des Erwerbslebens und in alle
höheren Berufe eindringen. Die durch das Vordringen der Juden geschädigten
Schichten werden mit einer hitzigen antisemitischen Agitation antworten, die zu
schweren und gehässigen Kämpfen führt und nur zu leicht eine neue Beschränkung
und Bedrückung der Juden, zum mindesten aber wirtschaftliche Abwehrma߬
regeln, Selbsthilfe und Bonkott zur Folge haben wird, so daß auch die Juden
ihrer Erfolge nicht werden froh werden. Auch wir werden in diese Entwicklung
hineingezogen werden. Den Juden wird ihr Heimatland, in dem sie sich
infolge ihrer Zusammendrängung gegenseitig behindern, bald zu eng sein. Sie
werden in Scharen auswandern, aber nicht nach dem wenig entwickelten, vom
Kriege ausgesogenen und ihnen wahrscheinlich noch immer verschlossenen Osten,
sondern zu uns. So werden auch wir nach einiger Zeit eine neue Überfüllung
bestimmter Berufe mit Juden und ein Wiederaufleben der antisemitischen Bewegung
erleben, unter der nicht zuletzt unsere eingesessener Juden zu leiden haben werden.

Glücklicherweise ist das Heilmittel vom Judentum selbst gefunden worden,
und das ist der Zionismus, das letzte und merkwürdigste Glied in demi großen
Aufschwung der nationalen Bewegungen in Europa. Wir sind geneigt, die Kraft
dieser ebenso praktischen wie idealen Bewegung zu unterschätzen, weil wir sie
uach den Vorgängen im deutschen Judentum beurteilen. Aber bei uns fehlt
dem Zionismus zur Verfolgung seines vornehmsten Zieles die Grundlage, ein
breites jüdisches Proletariat. So beschränkt er sich darauf, ein jüdisches National¬
bewußtsein zu propagieren, und zu versuchen, die Entwicklung rückgängig zu
machen, welche das Aufgehen des jüdischen Geisteslebens im Geistesleben des
Wirtsvolkes anstrebt. Die bisherige Politik unserer Juden ging aber gerade
darauf aus, ihr Nationalgefühl zu verlieren oder zu verheimlichen, dessen Betonung
ihnen die errungene Gleichberechtigung zu gefährden oder wenigstens das
unbeachtete Eindringen in alle Berufe zu erschweren schien. So hat der
Zionismus gerade im eigenen Lager der westlichen Juden die schärfste Zurück¬
weisung erfahren. Anders als bei uns ist es bereits in Österreich-Ungarn,
besonders in Gegenden großer jüdischer Volksdichte. Ich bin selbst vor sechs
Jahren gelegentlich eines Aufenthaltes im slovakischen Ungarn durch Zufall
darauf aufmerksam geworden, daß fast die ganze jüdische Bevölkerung (sie machte
ungefähr den ganzen wohlhabenden Teil der Ortsbevölkerung aus) zionistisch
organisiert war und ihre regelmäßigen Konventikel hielt. Noch stärker dürfte
die Bewegung in den polnischen Landesteilen sein; hat man doch versucht (was
daraus geworden ist, kann ich jetzt nicht feststellen) in Galizien und der Bukowina")



*) Auch in Russisch-PolenI D, Red.
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[0417] Die Judenfrage nach dem Kriegs diese Erwerbsmöglichkeiten unter scharfer gegenseitiger Konkurrenz fruchtbar zu machen suchen. Verschuldung und Mobilisierung des bäuerlichen Grundbesitzes und eine überstürzte kapitalistische Entwicklung mit schweren wirtschaftlichen Erschütterungen wird die Folge sein. Von der gewonnenen wirtschaftlichen Basis aus werden die Juden dann in alle Zweige des Erwerbslebens und in alle höheren Berufe eindringen. Die durch das Vordringen der Juden geschädigten Schichten werden mit einer hitzigen antisemitischen Agitation antworten, die zu schweren und gehässigen Kämpfen führt und nur zu leicht eine neue Beschränkung und Bedrückung der Juden, zum mindesten aber wirtschaftliche Abwehrma߬ regeln, Selbsthilfe und Bonkott zur Folge haben wird, so daß auch die Juden ihrer Erfolge nicht werden froh werden. Auch wir werden in diese Entwicklung hineingezogen werden. Den Juden wird ihr Heimatland, in dem sie sich infolge ihrer Zusammendrängung gegenseitig behindern, bald zu eng sein. Sie werden in Scharen auswandern, aber nicht nach dem wenig entwickelten, vom Kriege ausgesogenen und ihnen wahrscheinlich noch immer verschlossenen Osten, sondern zu uns. So werden auch wir nach einiger Zeit eine neue Überfüllung bestimmter Berufe mit Juden und ein Wiederaufleben der antisemitischen Bewegung erleben, unter der nicht zuletzt unsere eingesessener Juden zu leiden haben werden. Glücklicherweise ist das Heilmittel vom Judentum selbst gefunden worden, und das ist der Zionismus, das letzte und merkwürdigste Glied in demi großen Aufschwung der nationalen Bewegungen in Europa. Wir sind geneigt, die Kraft dieser ebenso praktischen wie idealen Bewegung zu unterschätzen, weil wir sie uach den Vorgängen im deutschen Judentum beurteilen. Aber bei uns fehlt dem Zionismus zur Verfolgung seines vornehmsten Zieles die Grundlage, ein breites jüdisches Proletariat. So beschränkt er sich darauf, ein jüdisches National¬ bewußtsein zu propagieren, und zu versuchen, die Entwicklung rückgängig zu machen, welche das Aufgehen des jüdischen Geisteslebens im Geistesleben des Wirtsvolkes anstrebt. Die bisherige Politik unserer Juden ging aber gerade darauf aus, ihr Nationalgefühl zu verlieren oder zu verheimlichen, dessen Betonung ihnen die errungene Gleichberechtigung zu gefährden oder wenigstens das unbeachtete Eindringen in alle Berufe zu erschweren schien. So hat der Zionismus gerade im eigenen Lager der westlichen Juden die schärfste Zurück¬ weisung erfahren. Anders als bei uns ist es bereits in Österreich-Ungarn, besonders in Gegenden großer jüdischer Volksdichte. Ich bin selbst vor sechs Jahren gelegentlich eines Aufenthaltes im slovakischen Ungarn durch Zufall darauf aufmerksam geworden, daß fast die ganze jüdische Bevölkerung (sie machte ungefähr den ganzen wohlhabenden Teil der Ortsbevölkerung aus) zionistisch organisiert war und ihre regelmäßigen Konventikel hielt. Noch stärker dürfte die Bewegung in den polnischen Landesteilen sein; hat man doch versucht (was daraus geworden ist, kann ich jetzt nicht feststellen) in Galizien und der Bukowina") *) Auch in Russisch-PolenI D, Red.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/417>, abgerufen am 23.07.2024.