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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage nach dem Kriege

jüdische Schrifttum zu gewinnen sucht, so ist man immer von neuem über die
Stärke dieses Zuges überrascht, der dem vergleichenden jüdischen Schriftsteller
als eine Eigentümlichkeit seines Volkes durchaus bewußt geworden ist. Selbst
die jüdische Religion und die jüdische Frömmigkeit sind durch das Schicksal des
Volkes gestaltet und spiegeln seine Grundstimmung wieder. Der jüdische Gott
ist ja nicht der gütige sinnliche Vater des Christentums, sondern ein strenger
und unerbittlicher Herr, vor dem man im Bewußtsein der eigenen Erbärmlichkeit
im Staube kriecht. Aber gerade diese extrem demütige religiöse Stimmung lebt
bereits in aller Stärke in den jüngeren Teilen der Bibel, besonders in den
Schriften der Propheten, und die Poesien geben ihm zuweilen einen ergreifenden
Ausdruck. "Aus der Tiefe rufe ich zu dir o Herr, Herr erhöre mein Flehen!"
Wahrscheinlich also, daß dieser Zug nicht erst in der Zerstreuung entstanden ist,
sondern, daß das Volk aus der babylonischen Sklaverei oder aus den inneren
Kämpfen um den Monotheismus, vielleicht auch aus Urzeiten her eine Eigenschaft
mitbrachte, die es befähigte, den ärgsten Schicksalsschlägen auszuweichen, indem
es sich ihnen beugte, und daß sich so vielleicht doch aus einem früh erworbenen
biologischen Besitz seine merkwürdige Widerstandsfähigkeit erklärt.

Auf eine andere Eigenschaft führen uns Beobachtungen der letzten Zeit.
Zu den wertvollsten Eroberungen des deutschen Nationalgefühls gehört sicher
Lisfauer, und seine in ihrer Knappheit so trefflich charakterisierenden Epigramme
auf die Freiheitskriege können jedem Deutschen aufrichtige Freude machen.
Aber manchem, der Lissauers Haßgesang in seiner Unerbittlichkeit auf sich wirken
ließ, ist es vielleicht ergangen wie dem Schreiber, daß ihm eine Gefühlswelle
entgegenschlug, die ihm aus einer fremden Welt zu stammen schien, so fremd,
daß er aus seinem eigenen Gefühl nicht einmal eine ablehnende Antwort fand.
Und vielleicht sind ihm in der so sonderbar das Gefühlsleben enthüllenden
Streitliteratur unserer Tage, in Zeitungsartikeln und beiläufigen Bemerkungen
feine und doch charakteristische Unterschiede nicht in der Stärke, sondern in der
Art des Gefühlstones aufgefallen, die nach derselben Richtung weisen. Eine
besonders richtungweisende Bemerkung ist mir gelegentlich in einer religiös
gestimmten jüdischen Zeitschrift entgegengetreten. Der Verfasser wandte sich mit
ernsten sittlichen Erwägungen gegen Lisfauer und erörterte dabei die Verwerflichkeit
des unbegründeten Hasses: "Um nichts wird in den Synagogen so inbrünstig
gebetet, wie um die Bewahrung vor dem unbegründeten Haß". Berührt uns
nicht auch diese so sympathische Bemerkung wie der Hauch einer fremden Seele?
Schon die Unterscheidung zwischen zwei Arten des Hasses ist unserer Ethik frenid.
Aber wir finden auch hier wieder Anknüpfungen durch die ganze jüdische
Geschichte hindurch, von; Talmud, den ja unsere Antisemiten nach dieser Richtung
hinreichend ausgenutzt haben, bis zu den gegen Babel und die Feinde des
Volkes eifernden Propheten und bis zu der bekannten Vorschrift des Moses:
"Aug' um Aug', Zahn um Zahn". Vielleicht ist also auch die stärkere Fähigkeit
zu hassen die zum biologischen Besitz gewordene Waffe eines unterdrücken


Die Judenfrage nach dem Kriege

jüdische Schrifttum zu gewinnen sucht, so ist man immer von neuem über die
Stärke dieses Zuges überrascht, der dem vergleichenden jüdischen Schriftsteller
als eine Eigentümlichkeit seines Volkes durchaus bewußt geworden ist. Selbst
die jüdische Religion und die jüdische Frömmigkeit sind durch das Schicksal des
Volkes gestaltet und spiegeln seine Grundstimmung wieder. Der jüdische Gott
ist ja nicht der gütige sinnliche Vater des Christentums, sondern ein strenger
und unerbittlicher Herr, vor dem man im Bewußtsein der eigenen Erbärmlichkeit
im Staube kriecht. Aber gerade diese extrem demütige religiöse Stimmung lebt
bereits in aller Stärke in den jüngeren Teilen der Bibel, besonders in den
Schriften der Propheten, und die Poesien geben ihm zuweilen einen ergreifenden
Ausdruck. „Aus der Tiefe rufe ich zu dir o Herr, Herr erhöre mein Flehen!"
Wahrscheinlich also, daß dieser Zug nicht erst in der Zerstreuung entstanden ist,
sondern, daß das Volk aus der babylonischen Sklaverei oder aus den inneren
Kämpfen um den Monotheismus, vielleicht auch aus Urzeiten her eine Eigenschaft
mitbrachte, die es befähigte, den ärgsten Schicksalsschlägen auszuweichen, indem
es sich ihnen beugte, und daß sich so vielleicht doch aus einem früh erworbenen
biologischen Besitz seine merkwürdige Widerstandsfähigkeit erklärt.

Auf eine andere Eigenschaft führen uns Beobachtungen der letzten Zeit.
Zu den wertvollsten Eroberungen des deutschen Nationalgefühls gehört sicher
Lisfauer, und seine in ihrer Knappheit so trefflich charakterisierenden Epigramme
auf die Freiheitskriege können jedem Deutschen aufrichtige Freude machen.
Aber manchem, der Lissauers Haßgesang in seiner Unerbittlichkeit auf sich wirken
ließ, ist es vielleicht ergangen wie dem Schreiber, daß ihm eine Gefühlswelle
entgegenschlug, die ihm aus einer fremden Welt zu stammen schien, so fremd,
daß er aus seinem eigenen Gefühl nicht einmal eine ablehnende Antwort fand.
Und vielleicht sind ihm in der so sonderbar das Gefühlsleben enthüllenden
Streitliteratur unserer Tage, in Zeitungsartikeln und beiläufigen Bemerkungen
feine und doch charakteristische Unterschiede nicht in der Stärke, sondern in der
Art des Gefühlstones aufgefallen, die nach derselben Richtung weisen. Eine
besonders richtungweisende Bemerkung ist mir gelegentlich in einer religiös
gestimmten jüdischen Zeitschrift entgegengetreten. Der Verfasser wandte sich mit
ernsten sittlichen Erwägungen gegen Lisfauer und erörterte dabei die Verwerflichkeit
des unbegründeten Hasses: „Um nichts wird in den Synagogen so inbrünstig
gebetet, wie um die Bewahrung vor dem unbegründeten Haß". Berührt uns
nicht auch diese so sympathische Bemerkung wie der Hauch einer fremden Seele?
Schon die Unterscheidung zwischen zwei Arten des Hasses ist unserer Ethik frenid.
Aber wir finden auch hier wieder Anknüpfungen durch die ganze jüdische
Geschichte hindurch, von; Talmud, den ja unsere Antisemiten nach dieser Richtung
hinreichend ausgenutzt haben, bis zu den gegen Babel und die Feinde des
Volkes eifernden Propheten und bis zu der bekannten Vorschrift des Moses:
„Aug' um Aug', Zahn um Zahn". Vielleicht ist also auch die stärkere Fähigkeit
zu hassen die zum biologischen Besitz gewordene Waffe eines unterdrücken


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[0414] Die Judenfrage nach dem Kriege jüdische Schrifttum zu gewinnen sucht, so ist man immer von neuem über die Stärke dieses Zuges überrascht, der dem vergleichenden jüdischen Schriftsteller als eine Eigentümlichkeit seines Volkes durchaus bewußt geworden ist. Selbst die jüdische Religion und die jüdische Frömmigkeit sind durch das Schicksal des Volkes gestaltet und spiegeln seine Grundstimmung wieder. Der jüdische Gott ist ja nicht der gütige sinnliche Vater des Christentums, sondern ein strenger und unerbittlicher Herr, vor dem man im Bewußtsein der eigenen Erbärmlichkeit im Staube kriecht. Aber gerade diese extrem demütige religiöse Stimmung lebt bereits in aller Stärke in den jüngeren Teilen der Bibel, besonders in den Schriften der Propheten, und die Poesien geben ihm zuweilen einen ergreifenden Ausdruck. „Aus der Tiefe rufe ich zu dir o Herr, Herr erhöre mein Flehen!" Wahrscheinlich also, daß dieser Zug nicht erst in der Zerstreuung entstanden ist, sondern, daß das Volk aus der babylonischen Sklaverei oder aus den inneren Kämpfen um den Monotheismus, vielleicht auch aus Urzeiten her eine Eigenschaft mitbrachte, die es befähigte, den ärgsten Schicksalsschlägen auszuweichen, indem es sich ihnen beugte, und daß sich so vielleicht doch aus einem früh erworbenen biologischen Besitz seine merkwürdige Widerstandsfähigkeit erklärt. Auf eine andere Eigenschaft führen uns Beobachtungen der letzten Zeit. Zu den wertvollsten Eroberungen des deutschen Nationalgefühls gehört sicher Lisfauer, und seine in ihrer Knappheit so trefflich charakterisierenden Epigramme auf die Freiheitskriege können jedem Deutschen aufrichtige Freude machen. Aber manchem, der Lissauers Haßgesang in seiner Unerbittlichkeit auf sich wirken ließ, ist es vielleicht ergangen wie dem Schreiber, daß ihm eine Gefühlswelle entgegenschlug, die ihm aus einer fremden Welt zu stammen schien, so fremd, daß er aus seinem eigenen Gefühl nicht einmal eine ablehnende Antwort fand. Und vielleicht sind ihm in der so sonderbar das Gefühlsleben enthüllenden Streitliteratur unserer Tage, in Zeitungsartikeln und beiläufigen Bemerkungen feine und doch charakteristische Unterschiede nicht in der Stärke, sondern in der Art des Gefühlstones aufgefallen, die nach derselben Richtung weisen. Eine besonders richtungweisende Bemerkung ist mir gelegentlich in einer religiös gestimmten jüdischen Zeitschrift entgegengetreten. Der Verfasser wandte sich mit ernsten sittlichen Erwägungen gegen Lisfauer und erörterte dabei die Verwerflichkeit des unbegründeten Hasses: „Um nichts wird in den Synagogen so inbrünstig gebetet, wie um die Bewahrung vor dem unbegründeten Haß". Berührt uns nicht auch diese so sympathische Bemerkung wie der Hauch einer fremden Seele? Schon die Unterscheidung zwischen zwei Arten des Hasses ist unserer Ethik frenid. Aber wir finden auch hier wieder Anknüpfungen durch die ganze jüdische Geschichte hindurch, von; Talmud, den ja unsere Antisemiten nach dieser Richtung hinreichend ausgenutzt haben, bis zu den gegen Babel und die Feinde des Volkes eifernden Propheten und bis zu der bekannten Vorschrift des Moses: „Aug' um Aug', Zahn um Zahn". Vielleicht ist also auch die stärkere Fähigkeit zu hassen die zum biologischen Besitz gewordene Waffe eines unterdrücken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/414>, abgerufen am 25.08.2024.