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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Iudenfmge nach dem Kriege

hat sich vor unseren Augen in blutigen Verfolgungen entladen. Die Beziehungen
der unterworfenen Völker zu den Europäern in den Kolonien und in anderer
Weise die Japanerfrage in Amerika stehen unter dem gleichen Gegensatz. Selbst
die Abneigung, welcher der Deutsche in Rußland begegnete, ruhte auf dem
Zusammenfließen wirtschaftlicher und nationaler Gegensätze. Was der europäischen
Judenfrage unter allen diesen verwandten Fragen ihre Besonderheit und ihre
Schärfe gibt, ist der Umstand, daß die Stellung der Juden im Volkskörper sich
seit den Tagen, in denen das Ghetto geöffnet wurde, im Flusse befindet.

Solange ein sozialer Organismus nicht durch übermäßige Tradition erstarrt
ist, wie etwa derjenige Indiens, findet ein dauernder Austausch zwischen den
verschiedenen Schichten der Bevölkerung statt; Berufe wechseln vom Vater auf
den Sohn, Individuen und Familien steigen und fallen auf der sozialen Stufen¬
leiter, immer beherrscht von dem Drange nach Macht und Lebensfülle. Dabei
gibt es immer Schichten, denen ein größeres Beharrungsstreben innewohnt als
anderen, sei es aus Behagen an Existenz und Besitz, wie den Bauern und in
nicht ferner Zeit dem Handwerk, sei es aus Mangel und der daraus folgenden
Unmöglichkeit des Aufstieges, wie den Arbeitern. Aus diesen "gesättigten"
Schichten steigen verhältnismäßig wenige und im allgemeinen nur tüchtige und
begabte Individuen auf; diese Schichten bilden die große Reserve, den soliden
Kern der Volkskraft. Gerade umgekehrt verhalten sich die oberen Schichten der
Gesellschaft. Hier ist dem Drange nach Aufwärts eine natürliche Grenze gezogen.
Die Pyramide der Gesellschaft läuft in eine sich rasch verengende Spitze aus.
Die Schwierigkeit des Konkurrenzkampfes, die Unsicherheit der Laufbahn, welche
sich daraus ergeben, und dabei die Notwendigkeit, eine sozial anerkannte Lebens¬
haltung aufrecht zu halten, führen zu später Ehe oder zur Beschränkung der
Kinderzahl; sehr oft schränkt schon der erhöhte Verbrauch an Nervenkraft die
Zeugungsfähigkeit ein. Auch fallen die Begabungen naturgemäß nicht immer
den Anforderungen des Standes entsprechend aus, ein Teil der Nachkommen¬
schaft steigt deshalb sogar sozial herab oder er verkümmert, weil der Übergang
zu einem anderen Beruf durch die Furcht vor sozialem Abstieg erschwert ist.
Wo aber ererbtes Vermögen die Grundlage der Existenz bildet, da sucht der
Lebensdrang in Wohlleben und Genuß eine Entladung und führt über
Erschlaffung und Verschwendung ebenfalls zu sozialem Abstieg, oder die Familien
verfallen und erlöschen in dem Bestreben, den natürlichen Verfall der Vermögen
aufzuhalten. Sollen diese Schichten an Menschenzahl und Leistungsfähigkeit
erhalten bleiben, fo bedürfen sie deshalb des dauernden Zuwachses von unten.
Zwischen diesen beiden Grenzen gibt es zahlreiche Schichten, denen ein starker
Vorwärtsdrang innewohnt und die ständig Mitglieder nach oben abgeben und
sich von unten ergänzen. Ein Standesbewußtsein, wie es die Bauern und die
Arbeiter und auf der anderen Seite etwa die Offiziere, die höheren Beamten,
der Adel, die alten Großkaufmannsfamilien ausgebildet haben, kann fich hier
trotz aller Standesvereine nicht entwickeln.


Die Iudenfmge nach dem Kriege

hat sich vor unseren Augen in blutigen Verfolgungen entladen. Die Beziehungen
der unterworfenen Völker zu den Europäern in den Kolonien und in anderer
Weise die Japanerfrage in Amerika stehen unter dem gleichen Gegensatz. Selbst
die Abneigung, welcher der Deutsche in Rußland begegnete, ruhte auf dem
Zusammenfließen wirtschaftlicher und nationaler Gegensätze. Was der europäischen
Judenfrage unter allen diesen verwandten Fragen ihre Besonderheit und ihre
Schärfe gibt, ist der Umstand, daß die Stellung der Juden im Volkskörper sich
seit den Tagen, in denen das Ghetto geöffnet wurde, im Flusse befindet.

Solange ein sozialer Organismus nicht durch übermäßige Tradition erstarrt
ist, wie etwa derjenige Indiens, findet ein dauernder Austausch zwischen den
verschiedenen Schichten der Bevölkerung statt; Berufe wechseln vom Vater auf
den Sohn, Individuen und Familien steigen und fallen auf der sozialen Stufen¬
leiter, immer beherrscht von dem Drange nach Macht und Lebensfülle. Dabei
gibt es immer Schichten, denen ein größeres Beharrungsstreben innewohnt als
anderen, sei es aus Behagen an Existenz und Besitz, wie den Bauern und in
nicht ferner Zeit dem Handwerk, sei es aus Mangel und der daraus folgenden
Unmöglichkeit des Aufstieges, wie den Arbeitern. Aus diesen „gesättigten"
Schichten steigen verhältnismäßig wenige und im allgemeinen nur tüchtige und
begabte Individuen auf; diese Schichten bilden die große Reserve, den soliden
Kern der Volkskraft. Gerade umgekehrt verhalten sich die oberen Schichten der
Gesellschaft. Hier ist dem Drange nach Aufwärts eine natürliche Grenze gezogen.
Die Pyramide der Gesellschaft läuft in eine sich rasch verengende Spitze aus.
Die Schwierigkeit des Konkurrenzkampfes, die Unsicherheit der Laufbahn, welche
sich daraus ergeben, und dabei die Notwendigkeit, eine sozial anerkannte Lebens¬
haltung aufrecht zu halten, führen zu später Ehe oder zur Beschränkung der
Kinderzahl; sehr oft schränkt schon der erhöhte Verbrauch an Nervenkraft die
Zeugungsfähigkeit ein. Auch fallen die Begabungen naturgemäß nicht immer
den Anforderungen des Standes entsprechend aus, ein Teil der Nachkommen¬
schaft steigt deshalb sogar sozial herab oder er verkümmert, weil der Übergang
zu einem anderen Beruf durch die Furcht vor sozialem Abstieg erschwert ist.
Wo aber ererbtes Vermögen die Grundlage der Existenz bildet, da sucht der
Lebensdrang in Wohlleben und Genuß eine Entladung und führt über
Erschlaffung und Verschwendung ebenfalls zu sozialem Abstieg, oder die Familien
verfallen und erlöschen in dem Bestreben, den natürlichen Verfall der Vermögen
aufzuhalten. Sollen diese Schichten an Menschenzahl und Leistungsfähigkeit
erhalten bleiben, fo bedürfen sie deshalb des dauernden Zuwachses von unten.
Zwischen diesen beiden Grenzen gibt es zahlreiche Schichten, denen ein starker
Vorwärtsdrang innewohnt und die ständig Mitglieder nach oben abgeben und
sich von unten ergänzen. Ein Standesbewußtsein, wie es die Bauern und die
Arbeiter und auf der anderen Seite etwa die Offiziere, die höheren Beamten,
der Adel, die alten Großkaufmannsfamilien ausgebildet haben, kann fich hier
trotz aller Standesvereine nicht entwickeln.


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[0408] Die Iudenfmge nach dem Kriege hat sich vor unseren Augen in blutigen Verfolgungen entladen. Die Beziehungen der unterworfenen Völker zu den Europäern in den Kolonien und in anderer Weise die Japanerfrage in Amerika stehen unter dem gleichen Gegensatz. Selbst die Abneigung, welcher der Deutsche in Rußland begegnete, ruhte auf dem Zusammenfließen wirtschaftlicher und nationaler Gegensätze. Was der europäischen Judenfrage unter allen diesen verwandten Fragen ihre Besonderheit und ihre Schärfe gibt, ist der Umstand, daß die Stellung der Juden im Volkskörper sich seit den Tagen, in denen das Ghetto geöffnet wurde, im Flusse befindet. Solange ein sozialer Organismus nicht durch übermäßige Tradition erstarrt ist, wie etwa derjenige Indiens, findet ein dauernder Austausch zwischen den verschiedenen Schichten der Bevölkerung statt; Berufe wechseln vom Vater auf den Sohn, Individuen und Familien steigen und fallen auf der sozialen Stufen¬ leiter, immer beherrscht von dem Drange nach Macht und Lebensfülle. Dabei gibt es immer Schichten, denen ein größeres Beharrungsstreben innewohnt als anderen, sei es aus Behagen an Existenz und Besitz, wie den Bauern und in nicht ferner Zeit dem Handwerk, sei es aus Mangel und der daraus folgenden Unmöglichkeit des Aufstieges, wie den Arbeitern. Aus diesen „gesättigten" Schichten steigen verhältnismäßig wenige und im allgemeinen nur tüchtige und begabte Individuen auf; diese Schichten bilden die große Reserve, den soliden Kern der Volkskraft. Gerade umgekehrt verhalten sich die oberen Schichten der Gesellschaft. Hier ist dem Drange nach Aufwärts eine natürliche Grenze gezogen. Die Pyramide der Gesellschaft läuft in eine sich rasch verengende Spitze aus. Die Schwierigkeit des Konkurrenzkampfes, die Unsicherheit der Laufbahn, welche sich daraus ergeben, und dabei die Notwendigkeit, eine sozial anerkannte Lebens¬ haltung aufrecht zu halten, führen zu später Ehe oder zur Beschränkung der Kinderzahl; sehr oft schränkt schon der erhöhte Verbrauch an Nervenkraft die Zeugungsfähigkeit ein. Auch fallen die Begabungen naturgemäß nicht immer den Anforderungen des Standes entsprechend aus, ein Teil der Nachkommen¬ schaft steigt deshalb sogar sozial herab oder er verkümmert, weil der Übergang zu einem anderen Beruf durch die Furcht vor sozialem Abstieg erschwert ist. Wo aber ererbtes Vermögen die Grundlage der Existenz bildet, da sucht der Lebensdrang in Wohlleben und Genuß eine Entladung und führt über Erschlaffung und Verschwendung ebenfalls zu sozialem Abstieg, oder die Familien verfallen und erlöschen in dem Bestreben, den natürlichen Verfall der Vermögen aufzuhalten. Sollen diese Schichten an Menschenzahl und Leistungsfähigkeit erhalten bleiben, fo bedürfen sie deshalb des dauernden Zuwachses von unten. Zwischen diesen beiden Grenzen gibt es zahlreiche Schichten, denen ein starker Vorwärtsdrang innewohnt und die ständig Mitglieder nach oben abgeben und sich von unten ergänzen. Ein Standesbewußtsein, wie es die Bauern und die Arbeiter und auf der anderen Seite etwa die Offiziere, die höheren Beamten, der Adel, die alten Großkaufmannsfamilien ausgebildet haben, kann fich hier trotz aller Standesvereine nicht entwickeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/408>, abgerufen am 25.08.2024.