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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Indenfrago nach dem Kriege

Die Juden sind nun durch ihre Geschichte in den am allerwenigsten
gesättigten Schichten des Volkes zusammen gedrängt worden. Im Mittelalter
war ihnen zumeist nicht nur Grundbesitz und Handwerk verschlossen, sondern
eigentlich nur der kleine Geldhandel offen, das was man Wucher nannte, ein
Gebiet, das wahrscheinlich stark übersetzt war, obgleich die Juden darin ein Monopol
genossen, und das durch die schwankende Behandlung durch Volk und Obrigkeit
ständig gefährdet war. So sind sie zur Ausnützung der kleinsten Vorteile nicht
nur erzogen, sondern gezüchtet worden. Als dann (allmählich bis zur großen
Judenemanzipation im neunzehnten Jahrhundert) die Schranken fielen, haben
sie sich zunächst über alle anderen Gebiete des Handels verbreitet. Der
Kaufmannsstand strebt aber an sich in besonderer Weise über seine Grenzen
hinaus. Sein Beruf ist zu erwerben und reich zu werden, und aus dem
Streben nach Reichtum ergibt sich die Neigung, sich fremde wirtschaftliche
Tätigkeit dienstbar zu macheu. So haben die Juden den großen Einbruch des
Handels in das Gewerbe mitgemacht und geführt, der zur kapitalistischen
Umgestaltung unseres Wirtschaftslebens geführt hat. Der Haß, der durch diesen
Umwandlungsvorgang entwurzelten Existenzen, -hat sich deshalb hauptsächlich
gegen sie gerichtet, und der alte Antisemitismus war vorwiegend eine Mittel¬
standsbewegung. Durch die Verzweiflung der niedergehenden Volksschicht hat
er seine Prägung und seinen rauhen Ton erhalten.

Dieser Antisemitismus hat seinen Höhepunkt längst überschritten, weil der
alte gewerbliche Mittelstand, der ihn trug, bis auf ansehnliche, auch unter den
neuen Verhältnissen lebensfähige Reste untergegangen ist, und weil das Über¬
handnehmen der Aktiengesellschaften den Unternehmer, gegen den er sich richtete,
den Blicken der Öffentlichkeit entzieht. Aber auch das Vordringen der Juden
auf den alten Wegen ist zu einem verhältnismäßigen Stillstand gekommen.
Die kapitalistische Entwicklung ist in ein langsameres Tempo übergegangen und
dem Aufstieg des Unternehmers sind Schranken gesetzt durch den Rückgang der
mittleren und kleinen Betriebe und dadurch, daß die Großbetriebe von den
Banken mit dem Kapital der Sparer gespeist werden; der Angestellte ist in
weitem Umfange an die Stelle des Unternehmers getreten. So sind die Juden
heute im Handel zusammengedrängt, ohne daß dieser Beruf ihren Kindern
günstigere Aussichten als andere Berufe bietet. Die Folge ist, daß sie jetzt von
den wohlhabenden Kaufmannsfamilien aus in breitem Strome in das Beamten¬
tum und die gelehrten Berufe eindringen, wobei die Berufe, welche ihnen
weniger Widerstand entgegensetzten, zunächst bis zur Überfüllung besetzt werden.
Deshalb müssen heute vor allem die Geistesarbeiter die Konkurrenz der Juden
aushalten, und deshalb ist ein neuer Antisemitismus im Anstiege begriffen,
der Antisemitismus der Gebildeten. Dieser Kulturantisemitismus ist weniger
laut und weniger ungehobelt als der alte, er vermeidet die öffentliche Diskusston
überhaupt, und er verträgt sich sogar sehr gut mit persönlicher Freundschaft
zwischen Parteigängern beider Lager; ja es fehlt diesem Antisemitismus sogar


Die Indenfrago nach dem Kriege

Die Juden sind nun durch ihre Geschichte in den am allerwenigsten
gesättigten Schichten des Volkes zusammen gedrängt worden. Im Mittelalter
war ihnen zumeist nicht nur Grundbesitz und Handwerk verschlossen, sondern
eigentlich nur der kleine Geldhandel offen, das was man Wucher nannte, ein
Gebiet, das wahrscheinlich stark übersetzt war, obgleich die Juden darin ein Monopol
genossen, und das durch die schwankende Behandlung durch Volk und Obrigkeit
ständig gefährdet war. So sind sie zur Ausnützung der kleinsten Vorteile nicht
nur erzogen, sondern gezüchtet worden. Als dann (allmählich bis zur großen
Judenemanzipation im neunzehnten Jahrhundert) die Schranken fielen, haben
sie sich zunächst über alle anderen Gebiete des Handels verbreitet. Der
Kaufmannsstand strebt aber an sich in besonderer Weise über seine Grenzen
hinaus. Sein Beruf ist zu erwerben und reich zu werden, und aus dem
Streben nach Reichtum ergibt sich die Neigung, sich fremde wirtschaftliche
Tätigkeit dienstbar zu macheu. So haben die Juden den großen Einbruch des
Handels in das Gewerbe mitgemacht und geführt, der zur kapitalistischen
Umgestaltung unseres Wirtschaftslebens geführt hat. Der Haß, der durch diesen
Umwandlungsvorgang entwurzelten Existenzen, -hat sich deshalb hauptsächlich
gegen sie gerichtet, und der alte Antisemitismus war vorwiegend eine Mittel¬
standsbewegung. Durch die Verzweiflung der niedergehenden Volksschicht hat
er seine Prägung und seinen rauhen Ton erhalten.

Dieser Antisemitismus hat seinen Höhepunkt längst überschritten, weil der
alte gewerbliche Mittelstand, der ihn trug, bis auf ansehnliche, auch unter den
neuen Verhältnissen lebensfähige Reste untergegangen ist, und weil das Über¬
handnehmen der Aktiengesellschaften den Unternehmer, gegen den er sich richtete,
den Blicken der Öffentlichkeit entzieht. Aber auch das Vordringen der Juden
auf den alten Wegen ist zu einem verhältnismäßigen Stillstand gekommen.
Die kapitalistische Entwicklung ist in ein langsameres Tempo übergegangen und
dem Aufstieg des Unternehmers sind Schranken gesetzt durch den Rückgang der
mittleren und kleinen Betriebe und dadurch, daß die Großbetriebe von den
Banken mit dem Kapital der Sparer gespeist werden; der Angestellte ist in
weitem Umfange an die Stelle des Unternehmers getreten. So sind die Juden
heute im Handel zusammengedrängt, ohne daß dieser Beruf ihren Kindern
günstigere Aussichten als andere Berufe bietet. Die Folge ist, daß sie jetzt von
den wohlhabenden Kaufmannsfamilien aus in breitem Strome in das Beamten¬
tum und die gelehrten Berufe eindringen, wobei die Berufe, welche ihnen
weniger Widerstand entgegensetzten, zunächst bis zur Überfüllung besetzt werden.
Deshalb müssen heute vor allem die Geistesarbeiter die Konkurrenz der Juden
aushalten, und deshalb ist ein neuer Antisemitismus im Anstiege begriffen,
der Antisemitismus der Gebildeten. Dieser Kulturantisemitismus ist weniger
laut und weniger ungehobelt als der alte, er vermeidet die öffentliche Diskusston
überhaupt, und er verträgt sich sogar sehr gut mit persönlicher Freundschaft
zwischen Parteigängern beider Lager; ja es fehlt diesem Antisemitismus sogar


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[0409] Die Indenfrago nach dem Kriege Die Juden sind nun durch ihre Geschichte in den am allerwenigsten gesättigten Schichten des Volkes zusammen gedrängt worden. Im Mittelalter war ihnen zumeist nicht nur Grundbesitz und Handwerk verschlossen, sondern eigentlich nur der kleine Geldhandel offen, das was man Wucher nannte, ein Gebiet, das wahrscheinlich stark übersetzt war, obgleich die Juden darin ein Monopol genossen, und das durch die schwankende Behandlung durch Volk und Obrigkeit ständig gefährdet war. So sind sie zur Ausnützung der kleinsten Vorteile nicht nur erzogen, sondern gezüchtet worden. Als dann (allmählich bis zur großen Judenemanzipation im neunzehnten Jahrhundert) die Schranken fielen, haben sie sich zunächst über alle anderen Gebiete des Handels verbreitet. Der Kaufmannsstand strebt aber an sich in besonderer Weise über seine Grenzen hinaus. Sein Beruf ist zu erwerben und reich zu werden, und aus dem Streben nach Reichtum ergibt sich die Neigung, sich fremde wirtschaftliche Tätigkeit dienstbar zu macheu. So haben die Juden den großen Einbruch des Handels in das Gewerbe mitgemacht und geführt, der zur kapitalistischen Umgestaltung unseres Wirtschaftslebens geführt hat. Der Haß, der durch diesen Umwandlungsvorgang entwurzelten Existenzen, -hat sich deshalb hauptsächlich gegen sie gerichtet, und der alte Antisemitismus war vorwiegend eine Mittel¬ standsbewegung. Durch die Verzweiflung der niedergehenden Volksschicht hat er seine Prägung und seinen rauhen Ton erhalten. Dieser Antisemitismus hat seinen Höhepunkt längst überschritten, weil der alte gewerbliche Mittelstand, der ihn trug, bis auf ansehnliche, auch unter den neuen Verhältnissen lebensfähige Reste untergegangen ist, und weil das Über¬ handnehmen der Aktiengesellschaften den Unternehmer, gegen den er sich richtete, den Blicken der Öffentlichkeit entzieht. Aber auch das Vordringen der Juden auf den alten Wegen ist zu einem verhältnismäßigen Stillstand gekommen. Die kapitalistische Entwicklung ist in ein langsameres Tempo übergegangen und dem Aufstieg des Unternehmers sind Schranken gesetzt durch den Rückgang der mittleren und kleinen Betriebe und dadurch, daß die Großbetriebe von den Banken mit dem Kapital der Sparer gespeist werden; der Angestellte ist in weitem Umfange an die Stelle des Unternehmers getreten. So sind die Juden heute im Handel zusammengedrängt, ohne daß dieser Beruf ihren Kindern günstigere Aussichten als andere Berufe bietet. Die Folge ist, daß sie jetzt von den wohlhabenden Kaufmannsfamilien aus in breitem Strome in das Beamten¬ tum und die gelehrten Berufe eindringen, wobei die Berufe, welche ihnen weniger Widerstand entgegensetzten, zunächst bis zur Überfüllung besetzt werden. Deshalb müssen heute vor allem die Geistesarbeiter die Konkurrenz der Juden aushalten, und deshalb ist ein neuer Antisemitismus im Anstiege begriffen, der Antisemitismus der Gebildeten. Dieser Kulturantisemitismus ist weniger laut und weniger ungehobelt als der alte, er vermeidet die öffentliche Diskusston überhaupt, und er verträgt sich sogar sehr gut mit persönlicher Freundschaft zwischen Parteigängern beider Lager; ja es fehlt diesem Antisemitismus sogar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/409>, abgerufen am 23.07.2024.