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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Seelcnkultur

Daß aber auch bei einem Volke der Intellekt kein getrenntes Sonderleben
vom Charakter führt, ebensowenig wie bei dem einzelnen, zeigt der flüchtigste
Blick auf die englische Politik. In einem kurz vor Ausbruch des Weltkrieges
erschienenen Buche von Oskar A, H. Schmitz*) findet sich folgender bemerkens¬
werte Anspruch eines nicht genannten englischen Schriftstellers: "Unser
Kolonialreich ist im Grunde nur dadurch möglich geworden, daß wir kein Ver¬
ständnis für die Seele anderer Völker haben." Unwillkürlich taucht in unserer
Vorstellung das Bild der auswärtigen Politik der antiken Demokratien, vor¬
nehmlich Roms auf, dessen Weltreich auch nur unter der gleichen Voraussetzung
möglich war. Die Richtlinien der Politik beider sind vorgezeichnet nicht durch
eine soziale Ethik -- seiner sozialen Aufgaben wird sich das römische Reich über¬
haupt erst als Monarchie bewußt --, sondern durch die Rücksicht auf das Wohl
der herrschenden Klassen, heißen sie nun civis Komanu8 oderXViZKs und ^or>8,
Kapitalismus und Grundadel. Der gleiche egoistische Realismus offenbart sich
in Englands innerer Politik, in dem Wahlrecht der "rotten bvrvuZns", in der
Knechtung Irlands, in dem sozialen Elend der großstädtischen Bevölkerung, wie in
der auswärtigen Politik, die an Schamlosigkeit und Brutalität der angewandten
Mittel in nichts hinter Rom zurücksteht, nur daß bei England noch die schnöde Gewalt
sich heuchlerisch in Vertrags- und Rechtsformen hüllt. Es liegt nicht in der
Absicht dieser Skizze, aus Englands Schuld- und Schandbuch den vernichtenden
Ausspruch des Amerikaners Maurice Somborn, vom politischen Standpunkt aus
sei England die niederträchtigste Nation der Welt, seine ganze Geschichte atme
angreifende Ungerechtigkeit besonders schwächeren Nationen gegenüber, mit leicht
zu führenden Beweisen zu erhärten: die Tatsache besteht auch so, und auf die
englische Politik aller Zeiten trifft das verdammende Urteil zu, welches der ältere
Pitt über Englands Verhalten gegenüber Friedrich dem Großen gefällt hat:
"Trugvoll, hinterlistig, gemein und verräterisch", kurz eine Politik der krassesten
Selbstsucht und die glatte Probe auf das Exempel seiner Philosphie.

Alles Geschehen aber hat letzten Endes seinen Ursprung im Seelischen,
und die Unfähigkeit des Verständnisses für die Seele anderer Völker bedeutet
einen qualitativen Mangel an der eigenen. Die Wandlungen des Seelenlebens,
wie sie durch kulturelle Fortschritte und Veränderungen bewirkt werden, lassen
sich auf keinem Gebiet früher und vernehmlicher bemerken als in der Tonkunst,
da diese ihre Ausdrucksmittel nicht aus der Welt der Begriffe, fondern unmittelbar
aus dem Gefühl entnimmt, und nirgends werden wir den intimsten Regungen
des Gemütslebens besser lauschen können als hier. Und eben hier gibt England
keine Resonanz: es ist das einzige Kulturvolk ohne eigene, bodenständige Musik,
ausgenommen Gassenhauer. Die verheißungsvoller Ansätze dazu im fünfzehnten
Jahrhundert, die von der Grundlage des alten keltischen Bardengesanges aus
zur Entwicklung einer auch in den kirchlichen Kult aufgenommenen Mehrstimmigkeit



*) Das Land ohne Musik. München 1914.
Englands Seelcnkultur

Daß aber auch bei einem Volke der Intellekt kein getrenntes Sonderleben
vom Charakter führt, ebensowenig wie bei dem einzelnen, zeigt der flüchtigste
Blick auf die englische Politik. In einem kurz vor Ausbruch des Weltkrieges
erschienenen Buche von Oskar A, H. Schmitz*) findet sich folgender bemerkens¬
werte Anspruch eines nicht genannten englischen Schriftstellers: „Unser
Kolonialreich ist im Grunde nur dadurch möglich geworden, daß wir kein Ver¬
ständnis für die Seele anderer Völker haben." Unwillkürlich taucht in unserer
Vorstellung das Bild der auswärtigen Politik der antiken Demokratien, vor¬
nehmlich Roms auf, dessen Weltreich auch nur unter der gleichen Voraussetzung
möglich war. Die Richtlinien der Politik beider sind vorgezeichnet nicht durch
eine soziale Ethik — seiner sozialen Aufgaben wird sich das römische Reich über¬
haupt erst als Monarchie bewußt —, sondern durch die Rücksicht auf das Wohl
der herrschenden Klassen, heißen sie nun civis Komanu8 oderXViZKs und ^or>8,
Kapitalismus und Grundadel. Der gleiche egoistische Realismus offenbart sich
in Englands innerer Politik, in dem Wahlrecht der „rotten bvrvuZns", in der
Knechtung Irlands, in dem sozialen Elend der großstädtischen Bevölkerung, wie in
der auswärtigen Politik, die an Schamlosigkeit und Brutalität der angewandten
Mittel in nichts hinter Rom zurücksteht, nur daß bei England noch die schnöde Gewalt
sich heuchlerisch in Vertrags- und Rechtsformen hüllt. Es liegt nicht in der
Absicht dieser Skizze, aus Englands Schuld- und Schandbuch den vernichtenden
Ausspruch des Amerikaners Maurice Somborn, vom politischen Standpunkt aus
sei England die niederträchtigste Nation der Welt, seine ganze Geschichte atme
angreifende Ungerechtigkeit besonders schwächeren Nationen gegenüber, mit leicht
zu führenden Beweisen zu erhärten: die Tatsache besteht auch so, und auf die
englische Politik aller Zeiten trifft das verdammende Urteil zu, welches der ältere
Pitt über Englands Verhalten gegenüber Friedrich dem Großen gefällt hat:
„Trugvoll, hinterlistig, gemein und verräterisch", kurz eine Politik der krassesten
Selbstsucht und die glatte Probe auf das Exempel seiner Philosphie.

Alles Geschehen aber hat letzten Endes seinen Ursprung im Seelischen,
und die Unfähigkeit des Verständnisses für die Seele anderer Völker bedeutet
einen qualitativen Mangel an der eigenen. Die Wandlungen des Seelenlebens,
wie sie durch kulturelle Fortschritte und Veränderungen bewirkt werden, lassen
sich auf keinem Gebiet früher und vernehmlicher bemerken als in der Tonkunst,
da diese ihre Ausdrucksmittel nicht aus der Welt der Begriffe, fondern unmittelbar
aus dem Gefühl entnimmt, und nirgends werden wir den intimsten Regungen
des Gemütslebens besser lauschen können als hier. Und eben hier gibt England
keine Resonanz: es ist das einzige Kulturvolk ohne eigene, bodenständige Musik,
ausgenommen Gassenhauer. Die verheißungsvoller Ansätze dazu im fünfzehnten
Jahrhundert, die von der Grundlage des alten keltischen Bardengesanges aus
zur Entwicklung einer auch in den kirchlichen Kult aufgenommenen Mehrstimmigkeit



*) Das Land ohne Musik. München 1914.
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[0394] Englands Seelcnkultur Daß aber auch bei einem Volke der Intellekt kein getrenntes Sonderleben vom Charakter führt, ebensowenig wie bei dem einzelnen, zeigt der flüchtigste Blick auf die englische Politik. In einem kurz vor Ausbruch des Weltkrieges erschienenen Buche von Oskar A, H. Schmitz*) findet sich folgender bemerkens¬ werte Anspruch eines nicht genannten englischen Schriftstellers: „Unser Kolonialreich ist im Grunde nur dadurch möglich geworden, daß wir kein Ver¬ ständnis für die Seele anderer Völker haben." Unwillkürlich taucht in unserer Vorstellung das Bild der auswärtigen Politik der antiken Demokratien, vor¬ nehmlich Roms auf, dessen Weltreich auch nur unter der gleichen Voraussetzung möglich war. Die Richtlinien der Politik beider sind vorgezeichnet nicht durch eine soziale Ethik — seiner sozialen Aufgaben wird sich das römische Reich über¬ haupt erst als Monarchie bewußt —, sondern durch die Rücksicht auf das Wohl der herrschenden Klassen, heißen sie nun civis Komanu8 oderXViZKs und ^or>8, Kapitalismus und Grundadel. Der gleiche egoistische Realismus offenbart sich in Englands innerer Politik, in dem Wahlrecht der „rotten bvrvuZns", in der Knechtung Irlands, in dem sozialen Elend der großstädtischen Bevölkerung, wie in der auswärtigen Politik, die an Schamlosigkeit und Brutalität der angewandten Mittel in nichts hinter Rom zurücksteht, nur daß bei England noch die schnöde Gewalt sich heuchlerisch in Vertrags- und Rechtsformen hüllt. Es liegt nicht in der Absicht dieser Skizze, aus Englands Schuld- und Schandbuch den vernichtenden Ausspruch des Amerikaners Maurice Somborn, vom politischen Standpunkt aus sei England die niederträchtigste Nation der Welt, seine ganze Geschichte atme angreifende Ungerechtigkeit besonders schwächeren Nationen gegenüber, mit leicht zu führenden Beweisen zu erhärten: die Tatsache besteht auch so, und auf die englische Politik aller Zeiten trifft das verdammende Urteil zu, welches der ältere Pitt über Englands Verhalten gegenüber Friedrich dem Großen gefällt hat: „Trugvoll, hinterlistig, gemein und verräterisch", kurz eine Politik der krassesten Selbstsucht und die glatte Probe auf das Exempel seiner Philosphie. Alles Geschehen aber hat letzten Endes seinen Ursprung im Seelischen, und die Unfähigkeit des Verständnisses für die Seele anderer Völker bedeutet einen qualitativen Mangel an der eigenen. Die Wandlungen des Seelenlebens, wie sie durch kulturelle Fortschritte und Veränderungen bewirkt werden, lassen sich auf keinem Gebiet früher und vernehmlicher bemerken als in der Tonkunst, da diese ihre Ausdrucksmittel nicht aus der Welt der Begriffe, fondern unmittelbar aus dem Gefühl entnimmt, und nirgends werden wir den intimsten Regungen des Gemütslebens besser lauschen können als hier. Und eben hier gibt England keine Resonanz: es ist das einzige Kulturvolk ohne eigene, bodenständige Musik, ausgenommen Gassenhauer. Die verheißungsvoller Ansätze dazu im fünfzehnten Jahrhundert, die von der Grundlage des alten keltischen Bardengesanges aus zur Entwicklung einer auch in den kirchlichen Kult aufgenommenen Mehrstimmigkeit *) Das Land ohne Musik. München 1914.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/394>, abgerufen am 28.09.2024.