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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Seelenkultur

des Wissens als ein ohne jedes metaphysische Bedenken philosophierender Realist,
und Hobbes hat mit dürren Worten ausgesprochen, daß erst in dem Dienst
der Selbsterhaltung als des höchsten Gutes alle anderen Güter, Freundschaft,
Reichtum, Wissenschaft und vor allem Macht ihren Wert erhalten, daß jede
Leidenschaft und Handlung ihrer Natur nach moralisch gleichgültig sei: an sich
ist nichts gut oder böse, erst im Staate gibt es Recht und Unrecht, dieser aber
ist selbst wieder aus Selbstsucht entstanden. In Übereinstimmung damit leiten
Bolingbroke und Locke die Sittlichkeit aus Egoismus und Nützlichkeitserfahrungm
ab. Damit wird die Ethik zu einer lehrbaren Wissenschaft, welche "die Regeln
und den Anhalt für die menschlichen Handlungen, die zur Glückseligkeit führen,
sowie die Mittel, sie zu erlangen, aufsucht" (Locke, Essay IV, 21 Z 3). Aber
gleichviel, was die englischen Denker auch als Ursprung der Sittlichkeit an¬
nehmen, ob Erfahrung, einfache Ideen oder angeborenen Sinn, das Endziel
der Sittlichkeit bleibt immer das gleiche: Glückseligkeit des einzelnen oder der
menschlichen Gesellschaft. Erst spät (bei Hutcheson, f 1747) tritt daneben die
Vollkommenheit auf als Ziel der auf uns gerichteten Affekte, der schon Leibniz
unbedingte Realität zugewiesen hatte. Zur schnödesten Klugheitsmoral vollends
herabgewürdigt erscheint die Ethik in Mandevilles "Bienenfabel, oder der Nutzen
der Privatlaster für das öffentliche Wohl" (1714, 1729), so ziemlich dem
niederträchtigsten, was spekulatives Denken hervorgebracht hat. Darin werden
die Laster und Leidenschaften als die eigentlichen Triebfedern der Arbeit und
Emsigkeit, auf denen der Wohlstand des Staates beruhe, dargestellt: Tugend
als allgemeine Eigenschaft eines Volkes würde dasselbe in Armut und Unwissenheit
erhalten. Da der natürliche Mensch der selbstsüchtige sei, entspringen alle
Handlungen, auch die sogenannten Tugenden aus Eitelkeit und Egoismus, deren
Verbergung durch künstliche Leidenschaften, Ruhm und Achtung vor den Mit¬
menschen die Klugheit gebiete. So erkläre sich der Wahn, daß das Glück in
sittlicher Vollkommenheit beruhe aus der schließlichen Selbsttäuschung, wie sie
notwendigerweise die fortgesetzte Erheuchelung erhabener Gefühle mit sich bringe.
Es erübrigt sich auf eine nur durch Fälschung der Grundbegriffe möglich
gewordene Beweisführung einzugehen, wir begnügen uns, diese Philosophie als
bodenständiges englisches Gewächs zu klassifizieren.

Empirismus und Militarismus -- auch diese Bezeichnung ist englischen
Ursprungs -- war die englische Ethik von Anfang an und ist es noch heut:
das größtmöglichste Glück der größtmöglichster Anzahl oder die Förderung des
Lebens der Individuen in der Gesellschaft ist auch für Bentham, Mill und
Spencer Zweck und Ziel sittlichen Handelns. Es heißt aber im Grunde die
Ideen in den Dienst des einzelnen stellen, wenn Staat, Recht, Sittlichkeit usw.
nur da zu sein scheinen, um das individuelle Wohlsein zu fördern, statt daß
umgekehrt der einzelne an seinem Teile zur Verwirklichung der Ideen mitwirke,
damit Staat, Recht, Sitte, Wissenschaft, Kunst lebendig werden in denkbar
größter Vollkommenheit.


Englands Seelenkultur

des Wissens als ein ohne jedes metaphysische Bedenken philosophierender Realist,
und Hobbes hat mit dürren Worten ausgesprochen, daß erst in dem Dienst
der Selbsterhaltung als des höchsten Gutes alle anderen Güter, Freundschaft,
Reichtum, Wissenschaft und vor allem Macht ihren Wert erhalten, daß jede
Leidenschaft und Handlung ihrer Natur nach moralisch gleichgültig sei: an sich
ist nichts gut oder böse, erst im Staate gibt es Recht und Unrecht, dieser aber
ist selbst wieder aus Selbstsucht entstanden. In Übereinstimmung damit leiten
Bolingbroke und Locke die Sittlichkeit aus Egoismus und Nützlichkeitserfahrungm
ab. Damit wird die Ethik zu einer lehrbaren Wissenschaft, welche „die Regeln
und den Anhalt für die menschlichen Handlungen, die zur Glückseligkeit führen,
sowie die Mittel, sie zu erlangen, aufsucht" (Locke, Essay IV, 21 Z 3). Aber
gleichviel, was die englischen Denker auch als Ursprung der Sittlichkeit an¬
nehmen, ob Erfahrung, einfache Ideen oder angeborenen Sinn, das Endziel
der Sittlichkeit bleibt immer das gleiche: Glückseligkeit des einzelnen oder der
menschlichen Gesellschaft. Erst spät (bei Hutcheson, f 1747) tritt daneben die
Vollkommenheit auf als Ziel der auf uns gerichteten Affekte, der schon Leibniz
unbedingte Realität zugewiesen hatte. Zur schnödesten Klugheitsmoral vollends
herabgewürdigt erscheint die Ethik in Mandevilles „Bienenfabel, oder der Nutzen
der Privatlaster für das öffentliche Wohl" (1714, 1729), so ziemlich dem
niederträchtigsten, was spekulatives Denken hervorgebracht hat. Darin werden
die Laster und Leidenschaften als die eigentlichen Triebfedern der Arbeit und
Emsigkeit, auf denen der Wohlstand des Staates beruhe, dargestellt: Tugend
als allgemeine Eigenschaft eines Volkes würde dasselbe in Armut und Unwissenheit
erhalten. Da der natürliche Mensch der selbstsüchtige sei, entspringen alle
Handlungen, auch die sogenannten Tugenden aus Eitelkeit und Egoismus, deren
Verbergung durch künstliche Leidenschaften, Ruhm und Achtung vor den Mit¬
menschen die Klugheit gebiete. So erkläre sich der Wahn, daß das Glück in
sittlicher Vollkommenheit beruhe aus der schließlichen Selbsttäuschung, wie sie
notwendigerweise die fortgesetzte Erheuchelung erhabener Gefühle mit sich bringe.
Es erübrigt sich auf eine nur durch Fälschung der Grundbegriffe möglich
gewordene Beweisführung einzugehen, wir begnügen uns, diese Philosophie als
bodenständiges englisches Gewächs zu klassifizieren.

Empirismus und Militarismus — auch diese Bezeichnung ist englischen
Ursprungs — war die englische Ethik von Anfang an und ist es noch heut:
das größtmöglichste Glück der größtmöglichster Anzahl oder die Förderung des
Lebens der Individuen in der Gesellschaft ist auch für Bentham, Mill und
Spencer Zweck und Ziel sittlichen Handelns. Es heißt aber im Grunde die
Ideen in den Dienst des einzelnen stellen, wenn Staat, Recht, Sittlichkeit usw.
nur da zu sein scheinen, um das individuelle Wohlsein zu fördern, statt daß
umgekehrt der einzelne an seinem Teile zur Verwirklichung der Ideen mitwirke,
damit Staat, Recht, Sitte, Wissenschaft, Kunst lebendig werden in denkbar
größter Vollkommenheit.


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[0393] Englands Seelenkultur des Wissens als ein ohne jedes metaphysische Bedenken philosophierender Realist, und Hobbes hat mit dürren Worten ausgesprochen, daß erst in dem Dienst der Selbsterhaltung als des höchsten Gutes alle anderen Güter, Freundschaft, Reichtum, Wissenschaft und vor allem Macht ihren Wert erhalten, daß jede Leidenschaft und Handlung ihrer Natur nach moralisch gleichgültig sei: an sich ist nichts gut oder böse, erst im Staate gibt es Recht und Unrecht, dieser aber ist selbst wieder aus Selbstsucht entstanden. In Übereinstimmung damit leiten Bolingbroke und Locke die Sittlichkeit aus Egoismus und Nützlichkeitserfahrungm ab. Damit wird die Ethik zu einer lehrbaren Wissenschaft, welche „die Regeln und den Anhalt für die menschlichen Handlungen, die zur Glückseligkeit führen, sowie die Mittel, sie zu erlangen, aufsucht" (Locke, Essay IV, 21 Z 3). Aber gleichviel, was die englischen Denker auch als Ursprung der Sittlichkeit an¬ nehmen, ob Erfahrung, einfache Ideen oder angeborenen Sinn, das Endziel der Sittlichkeit bleibt immer das gleiche: Glückseligkeit des einzelnen oder der menschlichen Gesellschaft. Erst spät (bei Hutcheson, f 1747) tritt daneben die Vollkommenheit auf als Ziel der auf uns gerichteten Affekte, der schon Leibniz unbedingte Realität zugewiesen hatte. Zur schnödesten Klugheitsmoral vollends herabgewürdigt erscheint die Ethik in Mandevilles „Bienenfabel, oder der Nutzen der Privatlaster für das öffentliche Wohl" (1714, 1729), so ziemlich dem niederträchtigsten, was spekulatives Denken hervorgebracht hat. Darin werden die Laster und Leidenschaften als die eigentlichen Triebfedern der Arbeit und Emsigkeit, auf denen der Wohlstand des Staates beruhe, dargestellt: Tugend als allgemeine Eigenschaft eines Volkes würde dasselbe in Armut und Unwissenheit erhalten. Da der natürliche Mensch der selbstsüchtige sei, entspringen alle Handlungen, auch die sogenannten Tugenden aus Eitelkeit und Egoismus, deren Verbergung durch künstliche Leidenschaften, Ruhm und Achtung vor den Mit¬ menschen die Klugheit gebiete. So erkläre sich der Wahn, daß das Glück in sittlicher Vollkommenheit beruhe aus der schließlichen Selbsttäuschung, wie sie notwendigerweise die fortgesetzte Erheuchelung erhabener Gefühle mit sich bringe. Es erübrigt sich auf eine nur durch Fälschung der Grundbegriffe möglich gewordene Beweisführung einzugehen, wir begnügen uns, diese Philosophie als bodenständiges englisches Gewächs zu klassifizieren. Empirismus und Militarismus — auch diese Bezeichnung ist englischen Ursprungs — war die englische Ethik von Anfang an und ist es noch heut: das größtmöglichste Glück der größtmöglichster Anzahl oder die Förderung des Lebens der Individuen in der Gesellschaft ist auch für Bentham, Mill und Spencer Zweck und Ziel sittlichen Handelns. Es heißt aber im Grunde die Ideen in den Dienst des einzelnen stellen, wenn Staat, Recht, Sittlichkeit usw. nur da zu sein scheinen, um das individuelle Wohlsein zu fördern, statt daß umgekehrt der einzelne an seinem Teile zur Verwirklichung der Ideen mitwirke, damit Staat, Recht, Sitte, Wissenschaft, Kunst lebendig werden in denkbar größter Vollkommenheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/393>, abgerufen am 26.06.2024.