Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Englands Seelcnkultur

und schließlich zu einer Reformation der Tonkunst auch auf dem Festlande führten,
kamen nur zu einer vorübergehenden Entfaltung und gipfeln in Johannes
Dunstabel (f 1453). dem Schöpfer des Kontrapunktes; im sechzehnten Jahr¬
hundert begegnen wir den in der Musikgeschichte berühmten Namen Byrd und
Bull, und vereinzelt ragt aus dem siebzehnten Jahrhundert die Gestalt Henry
Purcells (f 1695), des Begründers der nationalen Oper hervor, dann aber
erscheint die künstlerische Schöpferkraft vollständig erloschen; die berühmte Gaysche
"Bettleroper" (1727) deckt ihren musikalischen Bedarf ausschließlich mit den
Melodien der Gasse. Für Konzert und Oper beginnt die Einfuhr aus dem
Auslande.

Zur selben Zeit aber leuchtet über unserem Vaterlande das Doppelgestirn
Händel und Bach -- Bach, dessen ewiger Kunst es beschicken war. die tiefsten
Empfindungen eines schon voll entwickelten individualistischen Seelenlebens aus-
zusprechen.....

Da nun erwiesenermaßen alle geschichtlichen Vorgänge von tieferer Bedeutung
nicht isoliert dastehen, sondern ihre Wurzeln wieder in Vorgängen haben, deren
kausale Zusammenhänge weit zurückgehen und vielfach weit auseinander liegen,
so kann der Grund für dieses auffallende Verstummen uur in der gesamten
Entwicklung des englischen Volkes, das heißt in einer tiefgreifendmWandlung seines
Seelenlebens zu suchen sein, die ihrerseits unter den außerordentlich starken
Erschütterungen auf politischem, religiösem und wirtschaftlichem Gebiet während
des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert nicht zum wenigsten durch den
Übergang zur Kolonialmacht und Seeherrschaft erfolgte. Genauer darauf ein¬
zugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich, wir können nur andeuten, daß ein
Hinweis auf die nüchterne, phantasielose Art des angelsächsischen Stammes, auf
das kanstfeindltche Puritanertum, "die auf Berechnung gestellte Frömmigkeit",
und den nervenstumpfenden Sport allein nicht zur Erklärung seiner Mut¬
losigkeit genügen würde; denn tatsächlich waren ja die Engländer daran ein
Musikvolk zu werden, wenn auch unter Einfluß des keltischen Elements, und
Sport und Puritanertum sind selbst wieder Einzelerscheinungen; sondern alle
jene oben erwähnten Faktoren im Zusammenhange haben im Laufe der Zeit
jene eigentümliche, durch die Jnsellage begünstigte Sonderkultur erzeugt, bei der
das Gefühlsleben zu kurz kam. Indem England diese entwickelte, häufte es in
einer jeder Echik baren Gewaltpolitik Macht auf Macht und Schätze über
Schätze,

Gewiß gibt auch Gold einen guten Klang, und für Riesensummen konnte man
'ich wohl die jeweiligen "Sterne" des europäischen Festlandes erkaufen -- nicht
aber die Fähigkeit Musik erleben zu können. Die Ethik der Beethovenschen
Tondichtung und des Wagnerschen Erlösungsdramas ist England ebenso ver¬
schlossen geblieben wie die Mystik Bachs und die Zauberwelt Chopins. Kurz


Englands Seelcnkultur

und schließlich zu einer Reformation der Tonkunst auch auf dem Festlande führten,
kamen nur zu einer vorübergehenden Entfaltung und gipfeln in Johannes
Dunstabel (f 1453). dem Schöpfer des Kontrapunktes; im sechzehnten Jahr¬
hundert begegnen wir den in der Musikgeschichte berühmten Namen Byrd und
Bull, und vereinzelt ragt aus dem siebzehnten Jahrhundert die Gestalt Henry
Purcells (f 1695), des Begründers der nationalen Oper hervor, dann aber
erscheint die künstlerische Schöpferkraft vollständig erloschen; die berühmte Gaysche
„Bettleroper" (1727) deckt ihren musikalischen Bedarf ausschließlich mit den
Melodien der Gasse. Für Konzert und Oper beginnt die Einfuhr aus dem
Auslande.

Zur selben Zeit aber leuchtet über unserem Vaterlande das Doppelgestirn
Händel und Bach — Bach, dessen ewiger Kunst es beschicken war. die tiefsten
Empfindungen eines schon voll entwickelten individualistischen Seelenlebens aus-
zusprechen.....

Da nun erwiesenermaßen alle geschichtlichen Vorgänge von tieferer Bedeutung
nicht isoliert dastehen, sondern ihre Wurzeln wieder in Vorgängen haben, deren
kausale Zusammenhänge weit zurückgehen und vielfach weit auseinander liegen,
so kann der Grund für dieses auffallende Verstummen uur in der gesamten
Entwicklung des englischen Volkes, das heißt in einer tiefgreifendmWandlung seines
Seelenlebens zu suchen sein, die ihrerseits unter den außerordentlich starken
Erschütterungen auf politischem, religiösem und wirtschaftlichem Gebiet während
des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert nicht zum wenigsten durch den
Übergang zur Kolonialmacht und Seeherrschaft erfolgte. Genauer darauf ein¬
zugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich, wir können nur andeuten, daß ein
Hinweis auf die nüchterne, phantasielose Art des angelsächsischen Stammes, auf
das kanstfeindltche Puritanertum, „die auf Berechnung gestellte Frömmigkeit",
und den nervenstumpfenden Sport allein nicht zur Erklärung seiner Mut¬
losigkeit genügen würde; denn tatsächlich waren ja die Engländer daran ein
Musikvolk zu werden, wenn auch unter Einfluß des keltischen Elements, und
Sport und Puritanertum sind selbst wieder Einzelerscheinungen; sondern alle
jene oben erwähnten Faktoren im Zusammenhange haben im Laufe der Zeit
jene eigentümliche, durch die Jnsellage begünstigte Sonderkultur erzeugt, bei der
das Gefühlsleben zu kurz kam. Indem England diese entwickelte, häufte es in
einer jeder Echik baren Gewaltpolitik Macht auf Macht und Schätze über
Schätze,

Gewiß gibt auch Gold einen guten Klang, und für Riesensummen konnte man
'ich wohl die jeweiligen „Sterne" des europäischen Festlandes erkaufen — nicht
aber die Fähigkeit Musik erleben zu können. Die Ethik der Beethovenschen
Tondichtung und des Wagnerschen Erlösungsdramas ist England ebenso ver¬
schlossen geblieben wie die Mystik Bachs und die Zauberwelt Chopins. Kurz


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324368"/>
          <fw type="header" place="top"> Englands Seelcnkultur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1182" prev="#ID_1181"> und schließlich zu einer Reformation der Tonkunst auch auf dem Festlande führten,<lb/>
kamen nur zu einer vorübergehenden Entfaltung und gipfeln in Johannes<lb/>
Dunstabel (f 1453). dem Schöpfer des Kontrapunktes; im sechzehnten Jahr¬<lb/>
hundert begegnen wir den in der Musikgeschichte berühmten Namen Byrd und<lb/>
Bull, und vereinzelt ragt aus dem siebzehnten Jahrhundert die Gestalt Henry<lb/>
Purcells (f 1695), des Begründers der nationalen Oper hervor, dann aber<lb/>
erscheint die künstlerische Schöpferkraft vollständig erloschen; die berühmte Gaysche<lb/>
&#x201E;Bettleroper" (1727) deckt ihren musikalischen Bedarf ausschließlich mit den<lb/>
Melodien der Gasse. Für Konzert und Oper beginnt die Einfuhr aus dem<lb/>
Auslande.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1183"> Zur selben Zeit aber leuchtet über unserem Vaterlande das Doppelgestirn<lb/>
Händel und Bach &#x2014; Bach, dessen ewiger Kunst es beschicken war. die tiefsten<lb/>
Empfindungen eines schon voll entwickelten individualistischen Seelenlebens aus-<lb/>
zusprechen.....</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1184" next="#ID_1185"> Da nun erwiesenermaßen alle geschichtlichen Vorgänge von tieferer Bedeutung<lb/>
nicht isoliert dastehen, sondern ihre Wurzeln wieder in Vorgängen haben, deren<lb/>
kausale Zusammenhänge weit zurückgehen und vielfach weit auseinander liegen,<lb/>
so kann der Grund für dieses auffallende Verstummen uur in der gesamten<lb/>
Entwicklung des englischen Volkes, das heißt in einer tiefgreifendmWandlung seines<lb/>
Seelenlebens zu suchen sein, die ihrerseits unter den außerordentlich starken<lb/>
Erschütterungen auf politischem, religiösem und wirtschaftlichem Gebiet während<lb/>
des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert nicht zum wenigsten durch den<lb/>
Übergang zur Kolonialmacht und Seeherrschaft erfolgte. Genauer darauf ein¬<lb/>
zugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich, wir können nur andeuten, daß ein<lb/>
Hinweis auf die nüchterne, phantasielose Art des angelsächsischen Stammes, auf<lb/>
das kanstfeindltche Puritanertum, &#x201E;die auf Berechnung gestellte Frömmigkeit",<lb/>
und den nervenstumpfenden Sport allein nicht zur Erklärung seiner Mut¬<lb/>
losigkeit genügen würde; denn tatsächlich waren ja die Engländer daran ein<lb/>
Musikvolk zu werden, wenn auch unter Einfluß des keltischen Elements, und<lb/>
Sport und Puritanertum sind selbst wieder Einzelerscheinungen; sondern alle<lb/>
jene oben erwähnten Faktoren im Zusammenhange haben im Laufe der Zeit<lb/>
jene eigentümliche, durch die Jnsellage begünstigte Sonderkultur erzeugt, bei der<lb/>
das Gefühlsleben zu kurz kam. Indem England diese entwickelte, häufte es in<lb/>
einer jeder Echik baren Gewaltpolitik Macht auf Macht und Schätze über<lb/>
Schätze,</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_47" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_1185" prev="#ID_1184" next="#ID_1186"> Gewiß gibt auch Gold einen guten Klang, und für Riesensummen konnte man<lb/>
'ich wohl die jeweiligen &#x201E;Sterne" des europäischen Festlandes erkaufen &#x2014; nicht<lb/>
aber die Fähigkeit Musik erleben zu können. Die Ethik der Beethovenschen<lb/>
Tondichtung und des Wagnerschen Erlösungsdramas ist England ebenso ver¬<lb/>
schlossen geblieben wie die Mystik Bachs und die Zauberwelt Chopins. Kurz</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0395] Englands Seelcnkultur und schließlich zu einer Reformation der Tonkunst auch auf dem Festlande führten, kamen nur zu einer vorübergehenden Entfaltung und gipfeln in Johannes Dunstabel (f 1453). dem Schöpfer des Kontrapunktes; im sechzehnten Jahr¬ hundert begegnen wir den in der Musikgeschichte berühmten Namen Byrd und Bull, und vereinzelt ragt aus dem siebzehnten Jahrhundert die Gestalt Henry Purcells (f 1695), des Begründers der nationalen Oper hervor, dann aber erscheint die künstlerische Schöpferkraft vollständig erloschen; die berühmte Gaysche „Bettleroper" (1727) deckt ihren musikalischen Bedarf ausschließlich mit den Melodien der Gasse. Für Konzert und Oper beginnt die Einfuhr aus dem Auslande. Zur selben Zeit aber leuchtet über unserem Vaterlande das Doppelgestirn Händel und Bach — Bach, dessen ewiger Kunst es beschicken war. die tiefsten Empfindungen eines schon voll entwickelten individualistischen Seelenlebens aus- zusprechen..... Da nun erwiesenermaßen alle geschichtlichen Vorgänge von tieferer Bedeutung nicht isoliert dastehen, sondern ihre Wurzeln wieder in Vorgängen haben, deren kausale Zusammenhänge weit zurückgehen und vielfach weit auseinander liegen, so kann der Grund für dieses auffallende Verstummen uur in der gesamten Entwicklung des englischen Volkes, das heißt in einer tiefgreifendmWandlung seines Seelenlebens zu suchen sein, die ihrerseits unter den außerordentlich starken Erschütterungen auf politischem, religiösem und wirtschaftlichem Gebiet während des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert nicht zum wenigsten durch den Übergang zur Kolonialmacht und Seeherrschaft erfolgte. Genauer darauf ein¬ zugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich, wir können nur andeuten, daß ein Hinweis auf die nüchterne, phantasielose Art des angelsächsischen Stammes, auf das kanstfeindltche Puritanertum, „die auf Berechnung gestellte Frömmigkeit", und den nervenstumpfenden Sport allein nicht zur Erklärung seiner Mut¬ losigkeit genügen würde; denn tatsächlich waren ja die Engländer daran ein Musikvolk zu werden, wenn auch unter Einfluß des keltischen Elements, und Sport und Puritanertum sind selbst wieder Einzelerscheinungen; sondern alle jene oben erwähnten Faktoren im Zusammenhange haben im Laufe der Zeit jene eigentümliche, durch die Jnsellage begünstigte Sonderkultur erzeugt, bei der das Gefühlsleben zu kurz kam. Indem England diese entwickelte, häufte es in einer jeder Echik baren Gewaltpolitik Macht auf Macht und Schätze über Schätze, Gewiß gibt auch Gold einen guten Klang, und für Riesensummen konnte man 'ich wohl die jeweiligen „Sterne" des europäischen Festlandes erkaufen — nicht aber die Fähigkeit Musik erleben zu können. Die Ethik der Beethovenschen Tondichtung und des Wagnerschen Erlösungsdramas ist England ebenso ver¬ schlossen geblieben wie die Mystik Bachs und die Zauberwelt Chopins. Kurz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/395
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/395>, abgerufen am 26.06.2024.