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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

Dann kam 1914 der Krieg; das baltische Deutschtum wurde schwer von
ihm betroffen, alle hatten ihn in den letzten Jahren wie eine Naturgewalt heran¬
ziehen sehen. Wie 1870 Frankreich "die Rache für Sadowa" wollte, so brauchte
die russische Volksseele "die Rache für Mukden". Das "faule" Germanentum
sollte dem Panslawismus verfallen. Sofort mit Beginn des Krieges ging in
der gesamten russischen Presse eine so wütende, leidenschaftliche Hetze gegen tue
Deutschbalten los. daß sie alles dagewesene bei weitem übertraf. Als berufene
Vertreter der Ritterschaften nach Petersburg eilten und sich in schwerer Sorge
beim Ministerpräsidenten darüber beschwerten, lautete die Antwort kurz und
bündig, ob die Herren nicht wüßten, was der Krieg mit Deutschland bedeute.
sei der Rassenkrieg, und als solcher werde er geführt werden. Es würde
die ganze Wucht der slawischen Seele entfesselt werden gegen das Germanentum,
für dieses sei in Rußland kein Platz mehr. Er könne ihnen weiter nichts
sagen. Nun wußte das Deutschtum des Baltenlandes, was bevorstand. Frei¬
willig lösten sich die nationalen deutschen Schutzverbände auf. um nicht auf¬
gelöst und konfisziert zu werden, wozu die Befehle zwei Tage nach der frei¬
willigen Auflösung eintrafen, und nun begann die große Drangsalierung, an
welcher wieder ein Teil der Letten hervorragendsten Anteil nahm. Wieder
waren es die gesamten subalternen Beamten an den Post- und Telegraphen¬
ämtern, an den Kassen und dem gesamten Verwaltungsdienste; mit ihnen gingen
die ehrgeizigen Führer der lettischen Städter, die diese Gelegenheit nun benutzen
wollten, um mit Hilfe des Staates in die kurulischen Sessel des Magistrats
zu gelangen; ebenso die in den letzten fünfundzwanzig Jahren aus den russischen
Gymnasien hervorgegangenen, moralisch und politisch verdorbenen rusftfizierten
lettischen Bildungselemente, denen es bisher nicht gelungen war, das Deutschtum
zu verdrängen. Überall entstanden kleine lettische Hetzblätter; ungestüm wurde
die Enteignung des gesamten deutschen, ländlichen und städtischen Grundbesitzes
gefordert, in Libau beteiligten sich sogar lettische Pastoren an dieser Hetze (die
wenigen national-lettischen Prediger auf dem flachen Lande haben alle eine
würdige und objektive Haltung gezeigt). -- Alle deutschen Beamten wurden
trotz ihrer in der Revolutionszeit dem Staat geleisteten Dienste in den ersten
Kriegsmonaten entlassen, auf jede Denunziation folgten Haussuchungen auf
Gütern und in Städten bei den angesehensten Gliedern der deutschen Bevölkerung.
Jeder Kirchturm im Lande sollte mit geheimen Vorrichtungen für deutschen
Nachrichtendienst versehen, jeder zufällig in Arbeit befindliche Neubau sollte
zur Fundamentierung für deutsche Geschütze errichtet fein. Viele führende
Glieder der Ritterschaft wurden nach Sibirien und nach dem Norden
Rußlands verbannt, ebenso eine Anzahl Pastoren; schließlich erschien im
Februar das Verbot, außerhalb des Hauses deutsch zu sprechen, und
Gefängnisstrafe traf erbarmungslos sogar die Schüler der unteren Klassen,
wenn sie wegen eines deutschen Wortes, das ihnen entschlüpfte, denunziert
wurden.


Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

Dann kam 1914 der Krieg; das baltische Deutschtum wurde schwer von
ihm betroffen, alle hatten ihn in den letzten Jahren wie eine Naturgewalt heran¬
ziehen sehen. Wie 1870 Frankreich „die Rache für Sadowa" wollte, so brauchte
die russische Volksseele „die Rache für Mukden". Das „faule" Germanentum
sollte dem Panslawismus verfallen. Sofort mit Beginn des Krieges ging in
der gesamten russischen Presse eine so wütende, leidenschaftliche Hetze gegen tue
Deutschbalten los. daß sie alles dagewesene bei weitem übertraf. Als berufene
Vertreter der Ritterschaften nach Petersburg eilten und sich in schwerer Sorge
beim Ministerpräsidenten darüber beschwerten, lautete die Antwort kurz und
bündig, ob die Herren nicht wüßten, was der Krieg mit Deutschland bedeute.
sei der Rassenkrieg, und als solcher werde er geführt werden. Es würde
die ganze Wucht der slawischen Seele entfesselt werden gegen das Germanentum,
für dieses sei in Rußland kein Platz mehr. Er könne ihnen weiter nichts
sagen. Nun wußte das Deutschtum des Baltenlandes, was bevorstand. Frei¬
willig lösten sich die nationalen deutschen Schutzverbände auf. um nicht auf¬
gelöst und konfisziert zu werden, wozu die Befehle zwei Tage nach der frei¬
willigen Auflösung eintrafen, und nun begann die große Drangsalierung, an
welcher wieder ein Teil der Letten hervorragendsten Anteil nahm. Wieder
waren es die gesamten subalternen Beamten an den Post- und Telegraphen¬
ämtern, an den Kassen und dem gesamten Verwaltungsdienste; mit ihnen gingen
die ehrgeizigen Führer der lettischen Städter, die diese Gelegenheit nun benutzen
wollten, um mit Hilfe des Staates in die kurulischen Sessel des Magistrats
zu gelangen; ebenso die in den letzten fünfundzwanzig Jahren aus den russischen
Gymnasien hervorgegangenen, moralisch und politisch verdorbenen rusftfizierten
lettischen Bildungselemente, denen es bisher nicht gelungen war, das Deutschtum
zu verdrängen. Überall entstanden kleine lettische Hetzblätter; ungestüm wurde
die Enteignung des gesamten deutschen, ländlichen und städtischen Grundbesitzes
gefordert, in Libau beteiligten sich sogar lettische Pastoren an dieser Hetze (die
wenigen national-lettischen Prediger auf dem flachen Lande haben alle eine
würdige und objektive Haltung gezeigt). — Alle deutschen Beamten wurden
trotz ihrer in der Revolutionszeit dem Staat geleisteten Dienste in den ersten
Kriegsmonaten entlassen, auf jede Denunziation folgten Haussuchungen auf
Gütern und in Städten bei den angesehensten Gliedern der deutschen Bevölkerung.
Jeder Kirchturm im Lande sollte mit geheimen Vorrichtungen für deutschen
Nachrichtendienst versehen, jeder zufällig in Arbeit befindliche Neubau sollte
zur Fundamentierung für deutsche Geschütze errichtet fein. Viele führende
Glieder der Ritterschaft wurden nach Sibirien und nach dem Norden
Rußlands verbannt, ebenso eine Anzahl Pastoren; schließlich erschien im
Februar das Verbot, außerhalb des Hauses deutsch zu sprechen, und
Gefängnisstrafe traf erbarmungslos sogar die Schüler der unteren Klassen,
wenn sie wegen eines deutschen Wortes, das ihnen entschlüpfte, denunziert
wurden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/35>, abgerufen am 01.07.2024.