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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

Während nun die lettische sogenannte Intelligenz und das niedere
Beamtentum skrupellos dem panslawistischem Regime Vorspann leisteten, war
die Haltung der lettischen Arbeiter in den Mäuschen und Rigaschen Fabriken,
die 1905 zur Revolution das größte Kontingent gestellt hatten, und die Haltung
der breiten Massen der Landbevölkerung eine ganz andere. Die lettische städtische
Arbeiterbevölkerung, die sozialistisch ist, ging mit der altrussischen Sozialdemokratie, ^
die sich vom ersten Tage an gegen den Krieg schroff ablehnend verhalten hat,
und schon zu Beginn des Krieges erschienen die ersten Proklamationen, die über
Nacht in den Städten und Marktflecken des Landes und auch vor den ländlichen
Kirchen ausgestreut und verbreitet wurden. Nach Weihnachten häufte sich diese
Erscheinung. Der Inhalt war stets derselbe: "Nieder mit dem Krieg, nieder
mit der zarischen Regierung, es lebe die Revolution!" Es folgten vernichtende
Mitteilungen über die Massenschlächtereien dieses Krieges, dann immer die
Warnung, das Volk möge nur ja nicht wie 1905 gegen die eingesessener
Deutschen vorgehen, denn die würden jetzt von der Negierung noch schwerer
bedrückt als Sozialisten. Gegen die Deutschen könne man doch nichts aus¬
richten usw. Die großen breiten Massen des Landvolks aber standen still beiseite.
Ihnen liegt noch das Jahr 1905 in den Gliedern. Dann aber haben sie längst
erkannt, daß sie nichts mehr von Rußland zu erwarten haben. Sind erst die
Deutschen vom Panslawismus erledigt, dann kommen sie dran. Sie wissen
es; auch sie sind evangelisch und sind nicht slawisch, wer wird sie schützen? --
Ihr sittlich verdorbener russtfizierter Bildungspöbel sicher nicht. Zu oft haben
sie es erfahren: was ist dem Russen der Lette? Im weiten Reiche weiß man
nichts von ihm -- der Deutsche hingegen ist im ganzen Reiche, wenn auch
glühend gehaßt, so doch geachtet. Wenn daher der Lette in Moskau, in
Petersburg oder sonst im Innern des Reichs sich eine Existenz gründet, so
gibt er sich dort fast imnier als Deutscher aus, das schafft Empfehlung und
Ansehen. Nun ist der Krieg gekommen, der den Letten aus allen gewohnten
Bahnen gebracht hat. Die rücksichtslosen Requisitionen zu Kriegszwecken haben
ihn außer sich gebracht, an den Sieg der Russen glaubt er nicht, denn trotz
der ganzen Lügenpresse weiß er es, wie es unter Rennenkampf herging und
was bei Tannenberg, in Masuren und Warschau geschah, zuviel Verwundete
sind heimgekehrt und verkünden es: "es ist unmöglich gegen die Deutschen zu
siegen" und sie schildern die Erbärmlichkeit russischer Offiziere und schildern
das herrliche Ostpreußen, das sie gesehen haben und das die Russen so ver¬
wüsteten; und schon im Herbst brach es durch, leise, zögernd, einer rannte es
dem andern zu: "ja -- wenn wir nun wirklich annektiert würden, würden wir
es denn schlechter haben als die Litauer in Ostpreußen? Der Deutsche ist
doch unser Glaubensbrüder, und hat denn der deutsche Herr hier im Lande
uns nicht leben lassen?" Diese Stimmung hat sich der breiten Masse der
konservativen lettischen Bauern bemächtigt und findet das gleiche Entgegen¬
klingen in den sozialistischen Arbeiterkreisen. Als nun die Deutschen an-


Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland

Während nun die lettische sogenannte Intelligenz und das niedere
Beamtentum skrupellos dem panslawistischem Regime Vorspann leisteten, war
die Haltung der lettischen Arbeiter in den Mäuschen und Rigaschen Fabriken,
die 1905 zur Revolution das größte Kontingent gestellt hatten, und die Haltung
der breiten Massen der Landbevölkerung eine ganz andere. Die lettische städtische
Arbeiterbevölkerung, die sozialistisch ist, ging mit der altrussischen Sozialdemokratie, ^
die sich vom ersten Tage an gegen den Krieg schroff ablehnend verhalten hat,
und schon zu Beginn des Krieges erschienen die ersten Proklamationen, die über
Nacht in den Städten und Marktflecken des Landes und auch vor den ländlichen
Kirchen ausgestreut und verbreitet wurden. Nach Weihnachten häufte sich diese
Erscheinung. Der Inhalt war stets derselbe: „Nieder mit dem Krieg, nieder
mit der zarischen Regierung, es lebe die Revolution!" Es folgten vernichtende
Mitteilungen über die Massenschlächtereien dieses Krieges, dann immer die
Warnung, das Volk möge nur ja nicht wie 1905 gegen die eingesessener
Deutschen vorgehen, denn die würden jetzt von der Negierung noch schwerer
bedrückt als Sozialisten. Gegen die Deutschen könne man doch nichts aus¬
richten usw. Die großen breiten Massen des Landvolks aber standen still beiseite.
Ihnen liegt noch das Jahr 1905 in den Gliedern. Dann aber haben sie längst
erkannt, daß sie nichts mehr von Rußland zu erwarten haben. Sind erst die
Deutschen vom Panslawismus erledigt, dann kommen sie dran. Sie wissen
es; auch sie sind evangelisch und sind nicht slawisch, wer wird sie schützen? —
Ihr sittlich verdorbener russtfizierter Bildungspöbel sicher nicht. Zu oft haben
sie es erfahren: was ist dem Russen der Lette? Im weiten Reiche weiß man
nichts von ihm — der Deutsche hingegen ist im ganzen Reiche, wenn auch
glühend gehaßt, so doch geachtet. Wenn daher der Lette in Moskau, in
Petersburg oder sonst im Innern des Reichs sich eine Existenz gründet, so
gibt er sich dort fast imnier als Deutscher aus, das schafft Empfehlung und
Ansehen. Nun ist der Krieg gekommen, der den Letten aus allen gewohnten
Bahnen gebracht hat. Die rücksichtslosen Requisitionen zu Kriegszwecken haben
ihn außer sich gebracht, an den Sieg der Russen glaubt er nicht, denn trotz
der ganzen Lügenpresse weiß er es, wie es unter Rennenkampf herging und
was bei Tannenberg, in Masuren und Warschau geschah, zuviel Verwundete
sind heimgekehrt und verkünden es: „es ist unmöglich gegen die Deutschen zu
siegen" und sie schildern die Erbärmlichkeit russischer Offiziere und schildern
das herrliche Ostpreußen, das sie gesehen haben und das die Russen so ver¬
wüsteten; und schon im Herbst brach es durch, leise, zögernd, einer rannte es
dem andern zu: „ja — wenn wir nun wirklich annektiert würden, würden wir
es denn schlechter haben als die Litauer in Ostpreußen? Der Deutsche ist
doch unser Glaubensbrüder, und hat denn der deutsche Herr hier im Lande
uns nicht leben lassen?" Diese Stimmung hat sich der breiten Masse der
konservativen lettischen Bauern bemächtigt und findet das gleiche Entgegen¬
klingen in den sozialistischen Arbeiterkreisen. Als nun die Deutschen an-


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[0036] Die Letten in den baltischen Provinzen, besonders in Kurland Während nun die lettische sogenannte Intelligenz und das niedere Beamtentum skrupellos dem panslawistischem Regime Vorspann leisteten, war die Haltung der lettischen Arbeiter in den Mäuschen und Rigaschen Fabriken, die 1905 zur Revolution das größte Kontingent gestellt hatten, und die Haltung der breiten Massen der Landbevölkerung eine ganz andere. Die lettische städtische Arbeiterbevölkerung, die sozialistisch ist, ging mit der altrussischen Sozialdemokratie, ^ die sich vom ersten Tage an gegen den Krieg schroff ablehnend verhalten hat, und schon zu Beginn des Krieges erschienen die ersten Proklamationen, die über Nacht in den Städten und Marktflecken des Landes und auch vor den ländlichen Kirchen ausgestreut und verbreitet wurden. Nach Weihnachten häufte sich diese Erscheinung. Der Inhalt war stets derselbe: „Nieder mit dem Krieg, nieder mit der zarischen Regierung, es lebe die Revolution!" Es folgten vernichtende Mitteilungen über die Massenschlächtereien dieses Krieges, dann immer die Warnung, das Volk möge nur ja nicht wie 1905 gegen die eingesessener Deutschen vorgehen, denn die würden jetzt von der Negierung noch schwerer bedrückt als Sozialisten. Gegen die Deutschen könne man doch nichts aus¬ richten usw. Die großen breiten Massen des Landvolks aber standen still beiseite. Ihnen liegt noch das Jahr 1905 in den Gliedern. Dann aber haben sie längst erkannt, daß sie nichts mehr von Rußland zu erwarten haben. Sind erst die Deutschen vom Panslawismus erledigt, dann kommen sie dran. Sie wissen es; auch sie sind evangelisch und sind nicht slawisch, wer wird sie schützen? — Ihr sittlich verdorbener russtfizierter Bildungspöbel sicher nicht. Zu oft haben sie es erfahren: was ist dem Russen der Lette? Im weiten Reiche weiß man nichts von ihm — der Deutsche hingegen ist im ganzen Reiche, wenn auch glühend gehaßt, so doch geachtet. Wenn daher der Lette in Moskau, in Petersburg oder sonst im Innern des Reichs sich eine Existenz gründet, so gibt er sich dort fast imnier als Deutscher aus, das schafft Empfehlung und Ansehen. Nun ist der Krieg gekommen, der den Letten aus allen gewohnten Bahnen gebracht hat. Die rücksichtslosen Requisitionen zu Kriegszwecken haben ihn außer sich gebracht, an den Sieg der Russen glaubt er nicht, denn trotz der ganzen Lügenpresse weiß er es, wie es unter Rennenkampf herging und was bei Tannenberg, in Masuren und Warschau geschah, zuviel Verwundete sind heimgekehrt und verkünden es: „es ist unmöglich gegen die Deutschen zu siegen" und sie schildern die Erbärmlichkeit russischer Offiziere und schildern das herrliche Ostpreußen, das sie gesehen haben und das die Russen so ver¬ wüsteten; und schon im Herbst brach es durch, leise, zögernd, einer rannte es dem andern zu: „ja — wenn wir nun wirklich annektiert würden, würden wir es denn schlechter haben als die Litauer in Ostpreußen? Der Deutsche ist doch unser Glaubensbrüder, und hat denn der deutsche Herr hier im Lande uns nicht leben lassen?" Diese Stimmung hat sich der breiten Masse der konservativen lettischen Bauern bemächtigt und findet das gleiche Entgegen¬ klingen in den sozialistischen Arbeiterkreisen. Als nun die Deutschen an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/36>, abgerufen am 03.07.2024.