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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei

Gelde sprechen und Verrat am Vaterlande vorwerfen. Man nennt den Avanti
"Schlangengezücht"; es hieße: "einen Kultus des inneren Feindes" treiben,
wenn man den Sozialdemokraten soviel Beachtung schenkte, wie das bisher
geschähe. Je unzufriedener die bürgerlichen Organe mit den eigenen regierungs¬
feindlichen "vaterlandslosen" Sozialisten sind, um so mehr ereifern sie sich auch
gegen die den Kriegswillen des deutschen Volkes unterstützende Majorität der
sozialdemokratischen Partei des Reichstags -- eine seltsame Inkonsequenz, von
einem objektiven Standpunkt betrachtet. Man hält dieser vor, daß sie in das
imperialistische Lager übergegangen s^i und sucht sie damit in den Augen der
Internationale zu verdächtigen. "Südewmismus" ist das Schlagwort, mit dem
man allgemein den Vorgang kennzeichnet, hinter dem sich zugleich eine immer
nervöser werdende Angst vor dem starken deutschen Einheitsstreben verbirgt.
Die Grenzen einer überaus scharfen Zensur bieten noch genügend Spielraum,
daß alle die hitzigen Schmähungen und leidenschaftlichen Ausfälle, die man von
politischen Parteikämpfen gewohnt ist, hinüber und herüber gehen. Wie tief
allenthalben die Leidenschaften aufgewühlt sind, mag man auch daran ermessen,
daß die Idea nazionale, das Hauptorgan der nationalistischen Partei, Giolitti
an den Pranger gestellt hat, weil er keinen Centime für die Kriegsanleihe
gezeichnet hätte, weder er noch seine Söhne und Schwiegersöhne, die alle,
während er am Ruder war, in gute Stellungen untergeschlüpft seien. Von
anderer Seite hört man dann wieder lebhafte Proteste gegen solche Schnüffeleien
in dem Privatleben und schamlosen Denunziationen.

Aus den unteren Klassen lastet der Alpdruck des Steigens der Preise für
alle Lebensmittel und Rohstoffe. Die Ernte hat weder in Qualität noch
Quantität den Erwartungen entsprochen. Wie weit das geht, kann man aus
einem Aufsatz der Tribun" (1. August) über die Teuerung entnehmen, wo
gesagt wird: "Die Nahrungskrisis, die uns bedroht, ist so, wie wir seit
Menschengedenken keine erlebt haben: Der Weizen 42 bis 44 Lire der Doppel¬
zentner, während wir mitten in der Ernte stehen, das Fleisch von schlechter Qualität
und zu Wucherpreisen, die Weinernte fast in ganz Italien verdorben." Ein anderes
Blatt spricht von dem "angstvollen Problem, das uns alle quält", und mahnt in
erster Linie zur Sparsamkeit, um dadurch auf das Sinken der Preise zu wirken:
Die Weinkrisis ist nicht nur dadurch hervorgerufen, daß man nicht rechtzeitig
die Ausfuhr beschränkt hat, sondern weil seit diesem Frühjahr die Peronosvera
die Pflanzungen heimsucht wie niemals zuvor. Besonders schwer wird von
der Bevölkerung auch das Steigen der Preise für Medizinalwaren empfunden,
das mit der unterbundenen Einfuhr aus Deutschland, wie offen zugegeben wird,
in Zusammenhang steht. Kostete früher ein Kilogramm doppelkohlensaures
Natron etwa 20 Centimes, so wird jetzt mindestens dasselbe für zehn Gramm
verlangt. Man sagt, daß die Apothekerpreise im allgemeinen um das drei- bis
zehnfache hinaufgeschraubt worden sind. Ähnlich ist die Lage auf dem Wollmarkt.
Nach Angabe des Carriere della sera sind die Preise hier um 20 bis 40 Prozent


Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei

Gelde sprechen und Verrat am Vaterlande vorwerfen. Man nennt den Avanti
„Schlangengezücht"; es hieße: „einen Kultus des inneren Feindes" treiben,
wenn man den Sozialdemokraten soviel Beachtung schenkte, wie das bisher
geschähe. Je unzufriedener die bürgerlichen Organe mit den eigenen regierungs¬
feindlichen „vaterlandslosen" Sozialisten sind, um so mehr ereifern sie sich auch
gegen die den Kriegswillen des deutschen Volkes unterstützende Majorität der
sozialdemokratischen Partei des Reichstags — eine seltsame Inkonsequenz, von
einem objektiven Standpunkt betrachtet. Man hält dieser vor, daß sie in das
imperialistische Lager übergegangen s^i und sucht sie damit in den Augen der
Internationale zu verdächtigen. „Südewmismus" ist das Schlagwort, mit dem
man allgemein den Vorgang kennzeichnet, hinter dem sich zugleich eine immer
nervöser werdende Angst vor dem starken deutschen Einheitsstreben verbirgt.
Die Grenzen einer überaus scharfen Zensur bieten noch genügend Spielraum,
daß alle die hitzigen Schmähungen und leidenschaftlichen Ausfälle, die man von
politischen Parteikämpfen gewohnt ist, hinüber und herüber gehen. Wie tief
allenthalben die Leidenschaften aufgewühlt sind, mag man auch daran ermessen,
daß die Idea nazionale, das Hauptorgan der nationalistischen Partei, Giolitti
an den Pranger gestellt hat, weil er keinen Centime für die Kriegsanleihe
gezeichnet hätte, weder er noch seine Söhne und Schwiegersöhne, die alle,
während er am Ruder war, in gute Stellungen untergeschlüpft seien. Von
anderer Seite hört man dann wieder lebhafte Proteste gegen solche Schnüffeleien
in dem Privatleben und schamlosen Denunziationen.

Aus den unteren Klassen lastet der Alpdruck des Steigens der Preise für
alle Lebensmittel und Rohstoffe. Die Ernte hat weder in Qualität noch
Quantität den Erwartungen entsprochen. Wie weit das geht, kann man aus
einem Aufsatz der Tribun« (1. August) über die Teuerung entnehmen, wo
gesagt wird: „Die Nahrungskrisis, die uns bedroht, ist so, wie wir seit
Menschengedenken keine erlebt haben: Der Weizen 42 bis 44 Lire der Doppel¬
zentner, während wir mitten in der Ernte stehen, das Fleisch von schlechter Qualität
und zu Wucherpreisen, die Weinernte fast in ganz Italien verdorben." Ein anderes
Blatt spricht von dem „angstvollen Problem, das uns alle quält", und mahnt in
erster Linie zur Sparsamkeit, um dadurch auf das Sinken der Preise zu wirken:
Die Weinkrisis ist nicht nur dadurch hervorgerufen, daß man nicht rechtzeitig
die Ausfuhr beschränkt hat, sondern weil seit diesem Frühjahr die Peronosvera
die Pflanzungen heimsucht wie niemals zuvor. Besonders schwer wird von
der Bevölkerung auch das Steigen der Preise für Medizinalwaren empfunden,
das mit der unterbundenen Einfuhr aus Deutschland, wie offen zugegeben wird,
in Zusammenhang steht. Kostete früher ein Kilogramm doppelkohlensaures
Natron etwa 20 Centimes, so wird jetzt mindestens dasselbe für zehn Gramm
verlangt. Man sagt, daß die Apothekerpreise im allgemeinen um das drei- bis
zehnfache hinaufgeschraubt worden sind. Ähnlich ist die Lage auf dem Wollmarkt.
Nach Angabe des Carriere della sera sind die Preise hier um 20 bis 40 Prozent


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/318>, abgerufen am 28.09.2024.