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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei

erhöht, so daß für das Kilogramm gesponnene Wolle heute 15 bis 16 Lire zu
zahlen seien, gegen 12 bis 13 Lire oder weniger vor dem Kriege. Nach
alledem hat man berechnet, daß sich die Kosten für den Lebensunterhalt in den
breiten Volksschichten verdoppelt und verdreifacht haben. Wie der Not abzuhelfen
sei. das bildet den Gegenstand von Erwägungen, Untersuchungen und Vorschlägen
in allen Kreisen. Auf dem römischen Kapitol sind die Bürgermeister einer
Anzahl Städte zusammengetreten; in Florenz hat die sozialdemokratische Partei¬
gruppe der Kammer eine Versammlung abgehalten; beide Körperschaften haben
der Regierung die Ergebnisse ihrer Beratungen unterbreitet und in Aussicht zu
nehmende Maßregeln vorgebracht. Die Regierung hatte selbst schon beschlossen,
Getreide und Fleisch aus dem Ausland zu beziehen, um damit das Heer voll¬
ständig und noch einen Teil der Zivilbevölkerung zu versehen. Ob die Preis-
treibung, wie von mancher Seite behauptet wird, nur eine künstliche ist, oder
aber ihren Grund in tatsächlichen Verhältnissen hat. wird sich in der nächsten
Zeit, wenn energische Vorkehrungen getroffen werden sollten, wohl aufklären
müssen. Wünsche nach Einberufung des Parlaments lassen sich immer lauter
vernehmen.

Innerhalb solcher Bedrängnisse gibt es einen Pol, der das politische
Denken mit magischer Kraft an sich hinzieht, der die Sicherheit aller Schwingungen
sür die Zukunft zu verbürgen scheint: das britische Reich. Wie das Königreich
Piemont unter der Leitung Cavours, als es sich zum Vollstrecker der Einigungs¬
bestrebungen der Italiener machte, durch eine kunstvolle Diplomatie das Ausland
Zu benutzen suchte, um seine Zwecke zu fördern, so glaubte die heutige Diplomatie
des Königreichs Italien mit Hilfe der Entente und unter trügerischer Berufung
auf die gemeinsame durch sie ausgegebene Parole die eigene Sache führen zu
können. Was damals Frankreich bedeutete, ist heute England. Man ist sich
bewußt, daß England der wesentliche Faktor und die treibende Kraft im Vier-
verband ist. daß man mit ihm über die Kriegführung und die Kriegszicle einig
sein muß. daß es von ihm abhängt, was nach einem eventuellen Siege als
Lohn für die ungeheuren Opfer eingebracht werden wird. Deshalb ist es auch
von allerhöchstem Wert, daß der Glaube an die Leistungsfähigkeit und Glorie
Englands bei dem Volke keinerlei Schwankungen ausgesetzt wird. Aufgabe der
Presse ist es, in diesem Sinn immer und immer wieder zu wirken. Wohl hatte
steh schon hier und da eine Stimme erhoben, die leise und versteckt Englands
siegesgewisser Überlegenheit ein Fragezeichen entgegenzuhalten wagte. Das
bolognesische Blatt Resto del Carlino schrieb anläßlich der Jährung des Kriegs-
begmns in einem etwas schwermütig gestimmten Überblick: "England beherrscht
die Meere, aber zahlt täglich einen Tribut für seine Herrschaft. Seine Kontinentul-
heere werden ausgeschifft, aber sie sind dezimiert, ehe sie sich gesammelt haben
und gefährlich werden." Daß solche Äußerungen, die in die Presse nur vereinzelt
und durch eine Hintertür gelangten, das Gewicht einer im Lande verbreiteten
Meinung hinter sich haben mußten, erfuhr man aus jenem bei uns gebührend


so*
Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei

erhöht, so daß für das Kilogramm gesponnene Wolle heute 15 bis 16 Lire zu
zahlen seien, gegen 12 bis 13 Lire oder weniger vor dem Kriege. Nach
alledem hat man berechnet, daß sich die Kosten für den Lebensunterhalt in den
breiten Volksschichten verdoppelt und verdreifacht haben. Wie der Not abzuhelfen
sei. das bildet den Gegenstand von Erwägungen, Untersuchungen und Vorschlägen
in allen Kreisen. Auf dem römischen Kapitol sind die Bürgermeister einer
Anzahl Städte zusammengetreten; in Florenz hat die sozialdemokratische Partei¬
gruppe der Kammer eine Versammlung abgehalten; beide Körperschaften haben
der Regierung die Ergebnisse ihrer Beratungen unterbreitet und in Aussicht zu
nehmende Maßregeln vorgebracht. Die Regierung hatte selbst schon beschlossen,
Getreide und Fleisch aus dem Ausland zu beziehen, um damit das Heer voll¬
ständig und noch einen Teil der Zivilbevölkerung zu versehen. Ob die Preis-
treibung, wie von mancher Seite behauptet wird, nur eine künstliche ist, oder
aber ihren Grund in tatsächlichen Verhältnissen hat. wird sich in der nächsten
Zeit, wenn energische Vorkehrungen getroffen werden sollten, wohl aufklären
müssen. Wünsche nach Einberufung des Parlaments lassen sich immer lauter
vernehmen.

Innerhalb solcher Bedrängnisse gibt es einen Pol, der das politische
Denken mit magischer Kraft an sich hinzieht, der die Sicherheit aller Schwingungen
sür die Zukunft zu verbürgen scheint: das britische Reich. Wie das Königreich
Piemont unter der Leitung Cavours, als es sich zum Vollstrecker der Einigungs¬
bestrebungen der Italiener machte, durch eine kunstvolle Diplomatie das Ausland
Zu benutzen suchte, um seine Zwecke zu fördern, so glaubte die heutige Diplomatie
des Königreichs Italien mit Hilfe der Entente und unter trügerischer Berufung
auf die gemeinsame durch sie ausgegebene Parole die eigene Sache führen zu
können. Was damals Frankreich bedeutete, ist heute England. Man ist sich
bewußt, daß England der wesentliche Faktor und die treibende Kraft im Vier-
verband ist. daß man mit ihm über die Kriegführung und die Kriegszicle einig
sein muß. daß es von ihm abhängt, was nach einem eventuellen Siege als
Lohn für die ungeheuren Opfer eingebracht werden wird. Deshalb ist es auch
von allerhöchstem Wert, daß der Glaube an die Leistungsfähigkeit und Glorie
Englands bei dem Volke keinerlei Schwankungen ausgesetzt wird. Aufgabe der
Presse ist es, in diesem Sinn immer und immer wieder zu wirken. Wohl hatte
steh schon hier und da eine Stimme erhoben, die leise und versteckt Englands
siegesgewisser Überlegenheit ein Fragezeichen entgegenzuhalten wagte. Das
bolognesische Blatt Resto del Carlino schrieb anläßlich der Jährung des Kriegs-
begmns in einem etwas schwermütig gestimmten Überblick: „England beherrscht
die Meere, aber zahlt täglich einen Tribut für seine Herrschaft. Seine Kontinentul-
heere werden ausgeschifft, aber sie sind dezimiert, ehe sie sich gesammelt haben
und gefährlich werden." Daß solche Äußerungen, die in die Presse nur vereinzelt
und durch eine Hintertür gelangten, das Gewicht einer im Lande verbreiteten
Meinung hinter sich haben mußten, erfuhr man aus jenem bei uns gebührend


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[0319] Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei erhöht, so daß für das Kilogramm gesponnene Wolle heute 15 bis 16 Lire zu zahlen seien, gegen 12 bis 13 Lire oder weniger vor dem Kriege. Nach alledem hat man berechnet, daß sich die Kosten für den Lebensunterhalt in den breiten Volksschichten verdoppelt und verdreifacht haben. Wie der Not abzuhelfen sei. das bildet den Gegenstand von Erwägungen, Untersuchungen und Vorschlägen in allen Kreisen. Auf dem römischen Kapitol sind die Bürgermeister einer Anzahl Städte zusammengetreten; in Florenz hat die sozialdemokratische Partei¬ gruppe der Kammer eine Versammlung abgehalten; beide Körperschaften haben der Regierung die Ergebnisse ihrer Beratungen unterbreitet und in Aussicht zu nehmende Maßregeln vorgebracht. Die Regierung hatte selbst schon beschlossen, Getreide und Fleisch aus dem Ausland zu beziehen, um damit das Heer voll¬ ständig und noch einen Teil der Zivilbevölkerung zu versehen. Ob die Preis- treibung, wie von mancher Seite behauptet wird, nur eine künstliche ist, oder aber ihren Grund in tatsächlichen Verhältnissen hat. wird sich in der nächsten Zeit, wenn energische Vorkehrungen getroffen werden sollten, wohl aufklären müssen. Wünsche nach Einberufung des Parlaments lassen sich immer lauter vernehmen. Innerhalb solcher Bedrängnisse gibt es einen Pol, der das politische Denken mit magischer Kraft an sich hinzieht, der die Sicherheit aller Schwingungen sür die Zukunft zu verbürgen scheint: das britische Reich. Wie das Königreich Piemont unter der Leitung Cavours, als es sich zum Vollstrecker der Einigungs¬ bestrebungen der Italiener machte, durch eine kunstvolle Diplomatie das Ausland Zu benutzen suchte, um seine Zwecke zu fördern, so glaubte die heutige Diplomatie des Königreichs Italien mit Hilfe der Entente und unter trügerischer Berufung auf die gemeinsame durch sie ausgegebene Parole die eigene Sache führen zu können. Was damals Frankreich bedeutete, ist heute England. Man ist sich bewußt, daß England der wesentliche Faktor und die treibende Kraft im Vier- verband ist. daß man mit ihm über die Kriegführung und die Kriegszicle einig sein muß. daß es von ihm abhängt, was nach einem eventuellen Siege als Lohn für die ungeheuren Opfer eingebracht werden wird. Deshalb ist es auch von allerhöchstem Wert, daß der Glaube an die Leistungsfähigkeit und Glorie Englands bei dem Volke keinerlei Schwankungen ausgesetzt wird. Aufgabe der Presse ist es, in diesem Sinn immer und immer wieder zu wirken. Wohl hatte steh schon hier und da eine Stimme erhoben, die leise und versteckt Englands siegesgewisser Überlegenheit ein Fragezeichen entgegenzuhalten wagte. Das bolognesische Blatt Resto del Carlino schrieb anläßlich der Jährung des Kriegs- begmns in einem etwas schwermütig gestimmten Überblick: „England beherrscht die Meere, aber zahlt täglich einen Tribut für seine Herrschaft. Seine Kontinentul- heere werden ausgeschifft, aber sie sind dezimiert, ehe sie sich gesammelt haben und gefährlich werden." Daß solche Äußerungen, die in die Presse nur vereinzelt und durch eine Hintertür gelangten, das Gewicht einer im Lande verbreiteten Meinung hinter sich haben mußten, erfuhr man aus jenem bei uns gebührend so*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/319>, abgerufen am 25.08.2024.