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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Staatsgedanke

einen Riesenkörper. (Aber ist es in der Entwicklung des Einzelmenschen nicht
ähnlich?)

Der staatsmännische Ausdruck dieser Zeit ist: Bismarck. Aber hier erhebt
sich die Frage: war Bismarck überhaupt ein Staatsmann in dem hier gemeinten
Sinne? Lebte er einem Staatsgedanken, der dem Friedrichs, Steins, Fichtes
ebenbürtig war? Gewiß haben wir angesichts des Lebens Bismarcks den
wundervollsten Eindruck davon, wie sehr hier Person und Werk ganz eins
waren, wie hier ein Mann ganz und gar erschaffen zu sein scheint für seine
Arbeit und seine Arbeit nur dieses Mannes wartend. Nie hat Deutschland
einen Mann gehabt, dem das Leben im Staat und für den Staat so zum
Leben überhaupt geworden war. Die Einheitlichkeit. Überlegenheit und Selbst¬
sicherheit Bismarcks ist in diesem seinen gänzlichen Erfülltsein vom Staats¬
gedanken begründet. Jeder Mensch findet sich selbst nur auf dem Umweg über
eine sein Leben erfüllende Arbeit. Für ihn war diese Arbeit, die sein Ich fest
verankerte, die Arbeit des Staatsmanns. Dadurch, daß er sich in dieser Arbeit
restlos verlor -- und fand, steht er als ein Mensch von ganz seltener Ganzheit
vor uns, der eben deshalb jedes Menschen Seele ohne Unterschied der Nation
und der Partei stärken und aufbauen kann; genau so, wie der Anblick des zu
ähnlicher und doch ganz anderer innerer Vollendung gelangten Goetheschert
Lebens.

Aber der Staatsgedanke ist nicht nur dazu da, um einem Individuum,
und sei es auch einem noch so hervorragenden, Lebensfüllung zu sein. Man
kann freilich fast den Eindruck bekommen, als habe man bei den deutschen
Jahrhundertfeiern zu Ehren Bismarcks sehr wenig daran gedacht, daß auch der
Bismarcksche Staat unter jener Bedingung steht und nicht an sich eine Sache
ist, die von ihren Erben um jeden Preis erhalten werden muß. Je größer
das Werk des Kanzlers, und was seither aus ihm geworden ist, vor uns steht,
desto ernster wird die Frage: wie steht es bei diesem wunderbaren Staatsbäu
mit seiner inneren Berechtigung? Hat er überhaupt eine sittliche Grundlage
oder ist er tatsächlich nur ein Gewaltwerk, das ein Virtuose der Gewalt mit
Blut und Eisen zusammengeschweißt hat? Eine der besonneneren französischen
Zeitungen schrieb zur Zeit der Bismarckfeiern das Wort der Kritik und Selbst¬
kritik: das Lebenswerk Bismarcks sei nur die Fortsetzung und Folge der
Staatskunst Bonapartes -- bloße Erobererungspolitik. Hat vielleicht nur der
Erfolg unser Urteil über den ersten Kanzler getrübt, so daß wir das nicht
mehr sehen? Würden wir, wenn Bismarck 1866 nach verlorenem Krieg den
Tod in der Schlacht gefunden hätte, ähnlich über ihn urteilen, wie Treitschke
in jener Zeit? Der schrieb damals über Bismarck: "Er besitzt bei aller
Kühnheit und Beweglichkeit seines Geistes ein sehr geringes Verständnis für
die sittlichen Kräfte des Völkerlebens. Diese Mißachtung der Ideen ist ihm
gekräftigt worden durch die Verirrungen der öffentlichen Meinung in den letzten
Jahren, da der Idealismus der Nation sich in Phrasen verflüchtigte." Heute


Der deutsche Staatsgedanke

einen Riesenkörper. (Aber ist es in der Entwicklung des Einzelmenschen nicht
ähnlich?)

Der staatsmännische Ausdruck dieser Zeit ist: Bismarck. Aber hier erhebt
sich die Frage: war Bismarck überhaupt ein Staatsmann in dem hier gemeinten
Sinne? Lebte er einem Staatsgedanken, der dem Friedrichs, Steins, Fichtes
ebenbürtig war? Gewiß haben wir angesichts des Lebens Bismarcks den
wundervollsten Eindruck davon, wie sehr hier Person und Werk ganz eins
waren, wie hier ein Mann ganz und gar erschaffen zu sein scheint für seine
Arbeit und seine Arbeit nur dieses Mannes wartend. Nie hat Deutschland
einen Mann gehabt, dem das Leben im Staat und für den Staat so zum
Leben überhaupt geworden war. Die Einheitlichkeit. Überlegenheit und Selbst¬
sicherheit Bismarcks ist in diesem seinen gänzlichen Erfülltsein vom Staats¬
gedanken begründet. Jeder Mensch findet sich selbst nur auf dem Umweg über
eine sein Leben erfüllende Arbeit. Für ihn war diese Arbeit, die sein Ich fest
verankerte, die Arbeit des Staatsmanns. Dadurch, daß er sich in dieser Arbeit
restlos verlor — und fand, steht er als ein Mensch von ganz seltener Ganzheit
vor uns, der eben deshalb jedes Menschen Seele ohne Unterschied der Nation
und der Partei stärken und aufbauen kann; genau so, wie der Anblick des zu
ähnlicher und doch ganz anderer innerer Vollendung gelangten Goetheschert
Lebens.

Aber der Staatsgedanke ist nicht nur dazu da, um einem Individuum,
und sei es auch einem noch so hervorragenden, Lebensfüllung zu sein. Man
kann freilich fast den Eindruck bekommen, als habe man bei den deutschen
Jahrhundertfeiern zu Ehren Bismarcks sehr wenig daran gedacht, daß auch der
Bismarcksche Staat unter jener Bedingung steht und nicht an sich eine Sache
ist, die von ihren Erben um jeden Preis erhalten werden muß. Je größer
das Werk des Kanzlers, und was seither aus ihm geworden ist, vor uns steht,
desto ernster wird die Frage: wie steht es bei diesem wunderbaren Staatsbäu
mit seiner inneren Berechtigung? Hat er überhaupt eine sittliche Grundlage
oder ist er tatsächlich nur ein Gewaltwerk, das ein Virtuose der Gewalt mit
Blut und Eisen zusammengeschweißt hat? Eine der besonneneren französischen
Zeitungen schrieb zur Zeit der Bismarckfeiern das Wort der Kritik und Selbst¬
kritik: das Lebenswerk Bismarcks sei nur die Fortsetzung und Folge der
Staatskunst Bonapartes — bloße Erobererungspolitik. Hat vielleicht nur der
Erfolg unser Urteil über den ersten Kanzler getrübt, so daß wir das nicht
mehr sehen? Würden wir, wenn Bismarck 1866 nach verlorenem Krieg den
Tod in der Schlacht gefunden hätte, ähnlich über ihn urteilen, wie Treitschke
in jener Zeit? Der schrieb damals über Bismarck: „Er besitzt bei aller
Kühnheit und Beweglichkeit seines Geistes ein sehr geringes Verständnis für
die sittlichen Kräfte des Völkerlebens. Diese Mißachtung der Ideen ist ihm
gekräftigt worden durch die Verirrungen der öffentlichen Meinung in den letzten
Jahren, da der Idealismus der Nation sich in Phrasen verflüchtigte." Heute


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[0242] Der deutsche Staatsgedanke einen Riesenkörper. (Aber ist es in der Entwicklung des Einzelmenschen nicht ähnlich?) Der staatsmännische Ausdruck dieser Zeit ist: Bismarck. Aber hier erhebt sich die Frage: war Bismarck überhaupt ein Staatsmann in dem hier gemeinten Sinne? Lebte er einem Staatsgedanken, der dem Friedrichs, Steins, Fichtes ebenbürtig war? Gewiß haben wir angesichts des Lebens Bismarcks den wundervollsten Eindruck davon, wie sehr hier Person und Werk ganz eins waren, wie hier ein Mann ganz und gar erschaffen zu sein scheint für seine Arbeit und seine Arbeit nur dieses Mannes wartend. Nie hat Deutschland einen Mann gehabt, dem das Leben im Staat und für den Staat so zum Leben überhaupt geworden war. Die Einheitlichkeit. Überlegenheit und Selbst¬ sicherheit Bismarcks ist in diesem seinen gänzlichen Erfülltsein vom Staats¬ gedanken begründet. Jeder Mensch findet sich selbst nur auf dem Umweg über eine sein Leben erfüllende Arbeit. Für ihn war diese Arbeit, die sein Ich fest verankerte, die Arbeit des Staatsmanns. Dadurch, daß er sich in dieser Arbeit restlos verlor — und fand, steht er als ein Mensch von ganz seltener Ganzheit vor uns, der eben deshalb jedes Menschen Seele ohne Unterschied der Nation und der Partei stärken und aufbauen kann; genau so, wie der Anblick des zu ähnlicher und doch ganz anderer innerer Vollendung gelangten Goetheschert Lebens. Aber der Staatsgedanke ist nicht nur dazu da, um einem Individuum, und sei es auch einem noch so hervorragenden, Lebensfüllung zu sein. Man kann freilich fast den Eindruck bekommen, als habe man bei den deutschen Jahrhundertfeiern zu Ehren Bismarcks sehr wenig daran gedacht, daß auch der Bismarcksche Staat unter jener Bedingung steht und nicht an sich eine Sache ist, die von ihren Erben um jeden Preis erhalten werden muß. Je größer das Werk des Kanzlers, und was seither aus ihm geworden ist, vor uns steht, desto ernster wird die Frage: wie steht es bei diesem wunderbaren Staatsbäu mit seiner inneren Berechtigung? Hat er überhaupt eine sittliche Grundlage oder ist er tatsächlich nur ein Gewaltwerk, das ein Virtuose der Gewalt mit Blut und Eisen zusammengeschweißt hat? Eine der besonneneren französischen Zeitungen schrieb zur Zeit der Bismarckfeiern das Wort der Kritik und Selbst¬ kritik: das Lebenswerk Bismarcks sei nur die Fortsetzung und Folge der Staatskunst Bonapartes — bloße Erobererungspolitik. Hat vielleicht nur der Erfolg unser Urteil über den ersten Kanzler getrübt, so daß wir das nicht mehr sehen? Würden wir, wenn Bismarck 1866 nach verlorenem Krieg den Tod in der Schlacht gefunden hätte, ähnlich über ihn urteilen, wie Treitschke in jener Zeit? Der schrieb damals über Bismarck: „Er besitzt bei aller Kühnheit und Beweglichkeit seines Geistes ein sehr geringes Verständnis für die sittlichen Kräfte des Völkerlebens. Diese Mißachtung der Ideen ist ihm gekräftigt worden durch die Verirrungen der öffentlichen Meinung in den letzten Jahren, da der Idealismus der Nation sich in Phrasen verflüchtigte." Heute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/242>, abgerufen am 23.07.2024.