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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Staatsgedanke

der größtmöglichen formalen Freiheit für den einzelnen und des "freien Spiels
der Kräfte". Was hier Freiheit genannt wird, erscheint vom Steinschen
Standpunkt aus als Willkür beziehungsweise in seiner notwendigen Folge
als Unfreiheit. An diesem Punkte scheidet sich Stein deutlich von seinem
Lehrer Adam Smith.

Gewiß erinnern wir uns mit Dank daran, welche Förderung der Steinsche
Gedanke durch die Männer und Gedanken der französischen Revolution erfahren
hat, von denen auch Steins Denken befruchtet worden ist. Aber daneben war
er doch ebenso durch seine deutschen Erfahrungen in Westfalen angeregt; und
was das wichtigste ist: während Frankreich diese Idee entdeckte, um sie sofort
durch die Art ihrer Verwirklichung für viele zu diskreditieren, machte der
deutsche Staatsmann, der wahrlich kein lauer Kompromißler war, von ihnen
sachlichen und fruchtbaren Gebrauch zur Rettung und zugleich zur Veredlung
des Staates, dem er diente. Dies war zwar Preußen und nicht Deutschland.
Er selbst aber hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß Preußen ihm nur
Mittel zum Zweck sei; er konnte mit gutem Grunde von sich sagen: "Ich habe
nur ein Vaterland, das ist Deutschland." Er meinte damit aber nicht irgend¬
ein geographisches oder sprachliches Deutschland, sondern das, welchem er die
Bedingung stellte: "Wo die Freiheit ist und die Ehre, da ist das Vaterland."
Wie überhaupt jener erste Grundsatz seinen Gegensatz nicht in irgendeiner
Internationale, sondern im Partikularismus derer hatte, die ihm zuriefen: "Wir
sind zu allererst Preußen." Man denke auch hier an Fichte. "Deutsches" und
"ausländisches" Wesen waren ihm keine Gegensätze der Abstammung oder der
Sprache, sondern des Wertes. "Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit
glaubt und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das,
wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts,
es gehört uns an und wird sich zu uns tun. . . . Was an Stillstand, Rück¬
gang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Welt¬
regierung setzt, dieses, wo es auch geboren sei und welche Sprache es rede, ist
undeutsch und fremd für uns."

Der Versuch, die deutschen "Untertanen" zu Staatsbürgern in diesem
hohen Sinne zu erklären, war gewiß ein Wagnis; ein Unternehmen, zu dem
der große Friedrich selbst vielleicht in überlegener Ironie gesagt hätte: "Vous
us eonnal88L2 pgs as8e? Leite nMuciite rach ü laczuelle non8 appartenons."
Der Schüler hatte größeren Glauben als der Meister. Er vertraute, daß ein
hoher Gedanke, zum Allgemeingut gemacht, auch eine allgemein erhebende Kraft
haben werde und auch kleine Seelen groß machen könne. Den Beweis für die
Wahrheit dieses Glaubens konnte nur die Zukunft bringen. Diese brachte
Zunächst allerdings eine überraschende Wendung des preußisch-deutschen Staats-
lebens. Preußen stellte sich zunächst als der einzige Staat heraus, der die
staatliche Neuordnung Deutschlands in die Hand zu nehmen vermochte. Die
neu erwachte Staatsseele formte sich, noch ehe sie selbst sich entwickelt hatte,


Der deutsche Staatsgedanke

der größtmöglichen formalen Freiheit für den einzelnen und des „freien Spiels
der Kräfte". Was hier Freiheit genannt wird, erscheint vom Steinschen
Standpunkt aus als Willkür beziehungsweise in seiner notwendigen Folge
als Unfreiheit. An diesem Punkte scheidet sich Stein deutlich von seinem
Lehrer Adam Smith.

Gewiß erinnern wir uns mit Dank daran, welche Förderung der Steinsche
Gedanke durch die Männer und Gedanken der französischen Revolution erfahren
hat, von denen auch Steins Denken befruchtet worden ist. Aber daneben war
er doch ebenso durch seine deutschen Erfahrungen in Westfalen angeregt; und
was das wichtigste ist: während Frankreich diese Idee entdeckte, um sie sofort
durch die Art ihrer Verwirklichung für viele zu diskreditieren, machte der
deutsche Staatsmann, der wahrlich kein lauer Kompromißler war, von ihnen
sachlichen und fruchtbaren Gebrauch zur Rettung und zugleich zur Veredlung
des Staates, dem er diente. Dies war zwar Preußen und nicht Deutschland.
Er selbst aber hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß Preußen ihm nur
Mittel zum Zweck sei; er konnte mit gutem Grunde von sich sagen: „Ich habe
nur ein Vaterland, das ist Deutschland." Er meinte damit aber nicht irgend¬
ein geographisches oder sprachliches Deutschland, sondern das, welchem er die
Bedingung stellte: „Wo die Freiheit ist und die Ehre, da ist das Vaterland."
Wie überhaupt jener erste Grundsatz seinen Gegensatz nicht in irgendeiner
Internationale, sondern im Partikularismus derer hatte, die ihm zuriefen: „Wir
sind zu allererst Preußen." Man denke auch hier an Fichte. „Deutsches" und
„ausländisches" Wesen waren ihm keine Gegensätze der Abstammung oder der
Sprache, sondern des Wertes. „Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit
glaubt und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das,
wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts,
es gehört uns an und wird sich zu uns tun. . . . Was an Stillstand, Rück¬
gang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Welt¬
regierung setzt, dieses, wo es auch geboren sei und welche Sprache es rede, ist
undeutsch und fremd für uns."

Der Versuch, die deutschen „Untertanen" zu Staatsbürgern in diesem
hohen Sinne zu erklären, war gewiß ein Wagnis; ein Unternehmen, zu dem
der große Friedrich selbst vielleicht in überlegener Ironie gesagt hätte: „Vous
us eonnal88L2 pgs as8e? Leite nMuciite rach ü laczuelle non8 appartenons."
Der Schüler hatte größeren Glauben als der Meister. Er vertraute, daß ein
hoher Gedanke, zum Allgemeingut gemacht, auch eine allgemein erhebende Kraft
haben werde und auch kleine Seelen groß machen könne. Den Beweis für die
Wahrheit dieses Glaubens konnte nur die Zukunft bringen. Diese brachte
Zunächst allerdings eine überraschende Wendung des preußisch-deutschen Staats-
lebens. Preußen stellte sich zunächst als der einzige Staat heraus, der die
staatliche Neuordnung Deutschlands in die Hand zu nehmen vermochte. Die
neu erwachte Staatsseele formte sich, noch ehe sie selbst sich entwickelt hatte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/241>, abgerufen am 23.07.2024.