Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.Der letzte Rheinbundminister Wenn die heutige Generation fast Nut Erstaunen dieser Erscheinung nach¬ Dieser Summe von Staatseinheiten mußte die Forderung, sie durch eine Ein Staatsmann, der diesen Standpunkt unnachgiebig verfocht, konnte für In dieser Lage gegenüber Preußens sieghaften Vordringen unter Bismarcks Der letzte Rheinbundminister Wenn die heutige Generation fast Nut Erstaunen dieser Erscheinung nach¬ Dieser Summe von Staatseinheiten mußte die Forderung, sie durch eine Ein Staatsmann, der diesen Standpunkt unnachgiebig verfocht, konnte für In dieser Lage gegenüber Preußens sieghaften Vordringen unter Bismarcks <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0212" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324185"/> <fw type="header" place="top"> Der letzte Rheinbundminister</fw><lb/> <p xml:id="ID_623"> Wenn die heutige Generation fast Nut Erstaunen dieser Erscheinung nach¬<lb/> sinnt, die die älteren unter uns noch mit Augen gesehen haben, so wird man<lb/> ihr doch Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem man sie historisch begreift.<lb/> Die partikularen Gewalten, vor der formellen Auflösung des alten Reichs¬<lb/> verbandes schon jahrhundertelang die Träger jeglichen staatlichen Lebens im<lb/> deutschen Volke, hatten sich nach den Stürmen der napoleonischen Zeit unter<lb/> Garantie der europäischen Staatengesellschaft gefestigt, hatten durch die An¬<lb/> nahme konstitutioneller Formen ihren Angehörigen an ihrem Wohlergehen Anteil<lb/> und Verantwortlichkeit gegeben und ihre Sonderexistenz hierdurch im Bewußtsein<lb/> ihrer Volksteile aufs tiefste verankert. Ihre Fürsten hatten die Pflicht eifer¬<lb/> süchtiger Wahrung ihrer Selbständigkeit mit auf die Staatsbürger übertragen.<lb/> So erscheint der deutsche Einzelstaat noch vor fünfzig Jahren als ein Wesen<lb/> von lebhaftesten Sondertrieben, das ungehemmt durch das lockere Band der<lb/> Bundesverfassung seine Situation grundsätzlich nur nach eigenen Maßstäben<lb/> beurteilte, weil es in seiner Selbsterhaltung einen absoluten Wert sah. Freilich<lb/> stand diese Auffassung in seltsamem Gegensatz zu der Kleinheit und der Gemeng¬<lb/> lage mancher Staatswesen, aber es scheint ja eine Eigenschaft des Deutschen<lb/> ini neunzehnten Jahrhundert zu sein, daß er auch in der Politik nicht nach<lb/> gegebenen Verhältnissen und Kräften, sondern nach Prinzipien und Doktrinen<lb/> die Lage und ihre Forderungen beurteilt. Schließlich kam man ja auch nicht<lb/> umsonst von Hegel her und war imstande, die absolute Bedeutung des souveränen<lb/> Staatsindividuums philosophisch zu begründen.</p><lb/> <p xml:id="ID_624"> Dieser Summe von Staatseinheiten mußte die Forderung, sie durch eine<lb/> höhere Einheit zu ersetzen, als schlechthin revolutionär erscheinen, ob nun die<lb/> Menge der Untertanen sie aussprach oder ob einer der bestehenden Staaten selbst<lb/> als ihr Träger hervortrat. Ja, der letztere war noch verhaßter, weil er an<lb/> den gemeinsamen Interessen aller einzelnen Staaten Verrat zu üben schien;<lb/> gemeinsam, weil durch den abstrakten Begriff Souveränität allen Angehörigen<lb/> des deutschen Bundes eine gleichmäßige Stellung zugesprochen war.</p><lb/> <p xml:id="ID_625"> Ein Staatsmann, der diesen Standpunkt unnachgiebig verfocht, konnte für<lb/> sich zwar nicht den Weitblick des großen Politikers, aber doch ein positives<lb/> Recht geltend machen. Aber er setzte in seine Rechnung nicht die Tatsache ein,<lb/> daß im deutschen Volke die Forderung nach nationaler Einheit übermächtig<lb/> anwuchs, und daß Preußen im Begriff war, dieser Bewegung zum Ziele zu<lb/> verhelfen, indem es überlebte positive Rechte auflöste. Oder wenn er diese Tat¬<lb/> sache erwog, so konnte er sich doch verpflichtet fühlen, mit der in seinen Augen<lb/> revolutionären Macht den Kampf aufzunehmen und seine Waffen herzunehmen,<lb/> wo er sie auch finden mochte.</p><lb/> <p xml:id="ID_626" next="#ID_627"> In dieser Lage gegenüber Preußens sieghaften Vordringen unter Bismarcks<lb/> Führung finden wir den hessischen Staatsminister Reinhard von Dalwigk. Er<lb/> erscheint in dem Schauspiele der deutschen Einigung als ein Gegenspieler<lb/> Bismarcks; sein zäher Haß gegen das Preußentum überdauerte die Ereignisse</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0212]
Der letzte Rheinbundminister
Wenn die heutige Generation fast Nut Erstaunen dieser Erscheinung nach¬
sinnt, die die älteren unter uns noch mit Augen gesehen haben, so wird man
ihr doch Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem man sie historisch begreift.
Die partikularen Gewalten, vor der formellen Auflösung des alten Reichs¬
verbandes schon jahrhundertelang die Träger jeglichen staatlichen Lebens im
deutschen Volke, hatten sich nach den Stürmen der napoleonischen Zeit unter
Garantie der europäischen Staatengesellschaft gefestigt, hatten durch die An¬
nahme konstitutioneller Formen ihren Angehörigen an ihrem Wohlergehen Anteil
und Verantwortlichkeit gegeben und ihre Sonderexistenz hierdurch im Bewußtsein
ihrer Volksteile aufs tiefste verankert. Ihre Fürsten hatten die Pflicht eifer¬
süchtiger Wahrung ihrer Selbständigkeit mit auf die Staatsbürger übertragen.
So erscheint der deutsche Einzelstaat noch vor fünfzig Jahren als ein Wesen
von lebhaftesten Sondertrieben, das ungehemmt durch das lockere Band der
Bundesverfassung seine Situation grundsätzlich nur nach eigenen Maßstäben
beurteilte, weil es in seiner Selbsterhaltung einen absoluten Wert sah. Freilich
stand diese Auffassung in seltsamem Gegensatz zu der Kleinheit und der Gemeng¬
lage mancher Staatswesen, aber es scheint ja eine Eigenschaft des Deutschen
ini neunzehnten Jahrhundert zu sein, daß er auch in der Politik nicht nach
gegebenen Verhältnissen und Kräften, sondern nach Prinzipien und Doktrinen
die Lage und ihre Forderungen beurteilt. Schließlich kam man ja auch nicht
umsonst von Hegel her und war imstande, die absolute Bedeutung des souveränen
Staatsindividuums philosophisch zu begründen.
Dieser Summe von Staatseinheiten mußte die Forderung, sie durch eine
höhere Einheit zu ersetzen, als schlechthin revolutionär erscheinen, ob nun die
Menge der Untertanen sie aussprach oder ob einer der bestehenden Staaten selbst
als ihr Träger hervortrat. Ja, der letztere war noch verhaßter, weil er an
den gemeinsamen Interessen aller einzelnen Staaten Verrat zu üben schien;
gemeinsam, weil durch den abstrakten Begriff Souveränität allen Angehörigen
des deutschen Bundes eine gleichmäßige Stellung zugesprochen war.
Ein Staatsmann, der diesen Standpunkt unnachgiebig verfocht, konnte für
sich zwar nicht den Weitblick des großen Politikers, aber doch ein positives
Recht geltend machen. Aber er setzte in seine Rechnung nicht die Tatsache ein,
daß im deutschen Volke die Forderung nach nationaler Einheit übermächtig
anwuchs, und daß Preußen im Begriff war, dieser Bewegung zum Ziele zu
verhelfen, indem es überlebte positive Rechte auflöste. Oder wenn er diese Tat¬
sache erwog, so konnte er sich doch verpflichtet fühlen, mit der in seinen Augen
revolutionären Macht den Kampf aufzunehmen und seine Waffen herzunehmen,
wo er sie auch finden mochte.
In dieser Lage gegenüber Preußens sieghaften Vordringen unter Bismarcks
Führung finden wir den hessischen Staatsminister Reinhard von Dalwigk. Er
erscheint in dem Schauspiele der deutschen Einigung als ein Gegenspieler
Bismarcks; sein zäher Haß gegen das Preußentum überdauerte die Ereignisse
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