Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.Der letzte Rheinbundminister Professor Dr. Wilhelm Martin Becker von le schnell wir doch heute politisch leben! Noch Bismarck konnte Es ist in diesen Tagen für uns Daheimgebliebene, die wir, der Atem- Der letzte Rheinbundminister Professor Dr. Wilhelm Martin Becker von le schnell wir doch heute politisch leben! Noch Bismarck konnte Es ist in diesen Tagen für uns Daheimgebliebene, die wir, der Atem- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324184"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341901_323972/figures/grenzboten_341901_323972_324184_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Der letzte Rheinbundminister<lb/><note type="byline"> Professor Dr. Wilhelm Martin Becker</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_621"> le schnell wir doch heute politisch leben! Noch Bismarck konnte<lb/> als seine Lebenserfahrung in deutschen Angelegenheiten nur das<lb/> aussprechen, daß sich das Nationalgefühl als die stärkere Kraft<lb/> erweise, wo es mit dem Partikularismus in Kampf gerate. Er<lb/> hatte seine Erlebnisse mit dieser zähen, hartnäckigen Kraft gehabt.<lb/> Und wo ist der Partikularismus heute? Wenn wir uns prüfen, fühlen wir uns<lb/> nur noch als Deutsche. Bedurfte es noch eines Beweises, daß die Epoche, da<lb/> sich der Partikularismus gegen deutsches Wesen setzte, unwiderruflich ihr Ende<lb/> gefunden hat, so wäre er heute erbracht, wo wir ohne Rücksicht auf territoriale<lb/> Zugehörigkeit unser Deutschland und nicht unser Preußen, Bayern, Hessen und<lb/> Braunschweig mit der Waffe verteidigen; wir können von Herzen lachen über<lb/> die vom Feinde verbreiteten Märchen, wonach es zwischen preußischen und<lb/> bayerischen Truppen Kämpfe gegeben hätte, oder der König von Sachsen gern<lb/> Frieden schließen möchte, wenn er sich nicht vor den Preußen fürchtete. Auch das<lb/> andere Bismarckwort ist heute im Begriffe überwunden zu werden: „Deutscher<lb/> Patriotismus bedarf in der Regel, um tätig und wirksam zu werden, der Ver¬<lb/> mittlung dynastischer Anhänglichkeit." Dieses dynastische Gefühl, das ja im<lb/> neuen Reich bei der unbedingten Loyalität aller Fürsten kein Partikularismus<lb/> wäre, spielt heute eine weitaus geringere Rolle als früher; es wird von dem<lb/> vaterländischen Gefühl überwogen.</p><lb/> <p xml:id="ID_622"> Es ist in diesen Tagen für uns Daheimgebliebene, die wir, der Atem-<lb/> losigkeit des täglichen Kampfes entrückt, vielleicht eher in der Lage sind, etwas<lb/> vom Sinne dieses großen Geschehens zu ahnen, ein bedeutsamer Gedanke, daß<lb/> die Wandlung des deutschen Menschen vom Partikularisten zum Reichsbürger<lb/> das Werk weniger Jahrzehnte ist, ja daß der Partikularismus in krassen Formen<lb/> noch in die Zeit des neuen Reiches hereingegriffen hat. Insbesondere aber<lb/> beweisen die Veröffentlichungen der letzten Jahre über das, was der Gründung<lb/> deutscher Einheit voranging, daß es sich um eine Kraft handelte, die nicht leicht<lb/> zu überwinden, ja durch bloßen Kampf nicht zu beseitigen war, sondern deren<lb/> nur die Zeit Herr werden konnte.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0211]
[Abbildung]
Der letzte Rheinbundminister
Professor Dr. Wilhelm Martin Becker von
le schnell wir doch heute politisch leben! Noch Bismarck konnte
als seine Lebenserfahrung in deutschen Angelegenheiten nur das
aussprechen, daß sich das Nationalgefühl als die stärkere Kraft
erweise, wo es mit dem Partikularismus in Kampf gerate. Er
hatte seine Erlebnisse mit dieser zähen, hartnäckigen Kraft gehabt.
Und wo ist der Partikularismus heute? Wenn wir uns prüfen, fühlen wir uns
nur noch als Deutsche. Bedurfte es noch eines Beweises, daß die Epoche, da
sich der Partikularismus gegen deutsches Wesen setzte, unwiderruflich ihr Ende
gefunden hat, so wäre er heute erbracht, wo wir ohne Rücksicht auf territoriale
Zugehörigkeit unser Deutschland und nicht unser Preußen, Bayern, Hessen und
Braunschweig mit der Waffe verteidigen; wir können von Herzen lachen über
die vom Feinde verbreiteten Märchen, wonach es zwischen preußischen und
bayerischen Truppen Kämpfe gegeben hätte, oder der König von Sachsen gern
Frieden schließen möchte, wenn er sich nicht vor den Preußen fürchtete. Auch das
andere Bismarckwort ist heute im Begriffe überwunden zu werden: „Deutscher
Patriotismus bedarf in der Regel, um tätig und wirksam zu werden, der Ver¬
mittlung dynastischer Anhänglichkeit." Dieses dynastische Gefühl, das ja im
neuen Reich bei der unbedingten Loyalität aller Fürsten kein Partikularismus
wäre, spielt heute eine weitaus geringere Rolle als früher; es wird von dem
vaterländischen Gefühl überwogen.
Es ist in diesen Tagen für uns Daheimgebliebene, die wir, der Atem-
losigkeit des täglichen Kampfes entrückt, vielleicht eher in der Lage sind, etwas
vom Sinne dieses großen Geschehens zu ahnen, ein bedeutsamer Gedanke, daß
die Wandlung des deutschen Menschen vom Partikularisten zum Reichsbürger
das Werk weniger Jahrzehnte ist, ja daß der Partikularismus in krassen Formen
noch in die Zeit des neuen Reiches hereingegriffen hat. Insbesondere aber
beweisen die Veröffentlichungen der letzten Jahre über das, was der Gründung
deutscher Einheit voranging, daß es sich um eine Kraft handelte, die nicht leicht
zu überwinden, ja durch bloßen Kampf nicht zu beseitigen war, sondern deren
nur die Zeit Herr werden konnte.
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