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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Kampf gegen den "Militarismus"

after, wo sie England mehr als erwünscht ist, dem Vordringen lästiger Konkurrenten
Schwierigkeiten bereitet. Und wo England nicht selbst offen hervortreten will,
zum Beispiel Japan gegenüber, darf Amerika eintreten. Daß die Vereinigten
Staaten trotzdem eine gewisse Selbständigkeit behaupten, wird man nicht leugnen,
entspricht ja auch ganz der stets von England beobachteten Klugheit, die auf
die Form wenig Gewicht legt, um so mehr auf die Tatsache. So haben die
Vereinigten Staaten auch in diesem Kriege bisher ihre Neutralität beobachten
können, aber eine Neutralität nach englischer Vorschrift, die beiden Teilen die
größten Vorteile bietet: England die ihm nötige Zufuhr an Kriegsmaterial.
Lebensmitteln aller Art, den Vereinigten Staaten einen gewaltigen Verdienst
und die Verschönung von irgendwelchen Kriegslasten, zugleich die Sicherheit vor
japanischen Anschlägen. Sollten diese die Lusitania-Angelegenheit dazu benutzen,
um die Neutralität offen aufzugeben, so wird der Wunsch Englands ausschlag¬
gebend sein, die in den nordamerikanischen Häfen liegende deutsche Handelsflotte
mit Beschlag belegt zu wissen und sich eine neue Ergänzungsquelle von Mann¬
schaften für sein Heer und seine Marine zu sichern.

Der angelsächsischen Welt konnte England also sicher sein in seinem Kampfe
gegen Deutschland und seine etwaigen Bundesgenossen. Es galt aber auf
dem Kontinente Helfer im Streite zu werben. Frankreich war leicht zu
gewinnen: ohne Zaudern schlug es ein in die Hand seines Todfeindes von
früher her. Von den Schlägen, die es 1870/71 getroffen hatten, konnte es sich
nicht mehr erholen. Seine Bevölkerung blieb stehen, sein Handel und seine
Industrie zeigten die gleichen Erscheinungen der Erschöpfung. notwendigerweise
mußte es immer mehr hinter dem mächtig aufstrebenden Deutschland zurücktreten.
Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, daß es sich mit der Stellung einer
Macht zweiten Ranges hätte begnügen müssen. Rettung konnte nur der Anschluß
an eine andere Großmacht bieten. Durchaus im Bereiche der Möglichkeit lag
ein solcher an Deutschland, das sich als ein gemäßigter Sieger stets gezeigt
hatte und stets bereit war zur Freundschaft mit dem alten Gegner. Daß
Frankreich diesen Weg der Verständigung nicht einschlug, wird man einem nicht
einmal zu tadelnden Stolz zuschreiben dürfen, mehr noch der Überlegung,
daß diese Freundschaft eine künftige Machtentfaltung vielleicht für immer
unmöglich machen müßte. Und auf diese Hoffnung wollte man nicht verzichten.
Auch nicht auf Elsaß-Lothringen. Die Länder hätte man missen können, aber
nicht ihr Menschenmaterial. Mit mathematischer Sicherheit war der Zeitpunkt
vorher zu bestimmen, da Frankreich an das Ende seiner militärischen Leistungs¬
fähigkeit angelangt sein würde. Es konnte also nur ein Bündnis gegen Deutschland
in Frage kommen. Es gab aber nur eine Macht, die an einem starken Frankreich
ein Interesse hatte, nämlich Rußland. Bismarck hatte schon die Natur¬
notwendigkeit dieser französisch-russischen Annäherung eingesehen. In seinen
"Gedanken und Erinnerungen" äußerte er sich über diesen Punkt ganz klar:
"daß es für die russische Politik eine Grenze gibt, über die hinaus das Gewicht


Englands Kampf gegen den „Militarismus"

after, wo sie England mehr als erwünscht ist, dem Vordringen lästiger Konkurrenten
Schwierigkeiten bereitet. Und wo England nicht selbst offen hervortreten will,
zum Beispiel Japan gegenüber, darf Amerika eintreten. Daß die Vereinigten
Staaten trotzdem eine gewisse Selbständigkeit behaupten, wird man nicht leugnen,
entspricht ja auch ganz der stets von England beobachteten Klugheit, die auf
die Form wenig Gewicht legt, um so mehr auf die Tatsache. So haben die
Vereinigten Staaten auch in diesem Kriege bisher ihre Neutralität beobachten
können, aber eine Neutralität nach englischer Vorschrift, die beiden Teilen die
größten Vorteile bietet: England die ihm nötige Zufuhr an Kriegsmaterial.
Lebensmitteln aller Art, den Vereinigten Staaten einen gewaltigen Verdienst
und die Verschönung von irgendwelchen Kriegslasten, zugleich die Sicherheit vor
japanischen Anschlägen. Sollten diese die Lusitania-Angelegenheit dazu benutzen,
um die Neutralität offen aufzugeben, so wird der Wunsch Englands ausschlag¬
gebend sein, die in den nordamerikanischen Häfen liegende deutsche Handelsflotte
mit Beschlag belegt zu wissen und sich eine neue Ergänzungsquelle von Mann¬
schaften für sein Heer und seine Marine zu sichern.

Der angelsächsischen Welt konnte England also sicher sein in seinem Kampfe
gegen Deutschland und seine etwaigen Bundesgenossen. Es galt aber auf
dem Kontinente Helfer im Streite zu werben. Frankreich war leicht zu
gewinnen: ohne Zaudern schlug es ein in die Hand seines Todfeindes von
früher her. Von den Schlägen, die es 1870/71 getroffen hatten, konnte es sich
nicht mehr erholen. Seine Bevölkerung blieb stehen, sein Handel und seine
Industrie zeigten die gleichen Erscheinungen der Erschöpfung. notwendigerweise
mußte es immer mehr hinter dem mächtig aufstrebenden Deutschland zurücktreten.
Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, daß es sich mit der Stellung einer
Macht zweiten Ranges hätte begnügen müssen. Rettung konnte nur der Anschluß
an eine andere Großmacht bieten. Durchaus im Bereiche der Möglichkeit lag
ein solcher an Deutschland, das sich als ein gemäßigter Sieger stets gezeigt
hatte und stets bereit war zur Freundschaft mit dem alten Gegner. Daß
Frankreich diesen Weg der Verständigung nicht einschlug, wird man einem nicht
einmal zu tadelnden Stolz zuschreiben dürfen, mehr noch der Überlegung,
daß diese Freundschaft eine künftige Machtentfaltung vielleicht für immer
unmöglich machen müßte. Und auf diese Hoffnung wollte man nicht verzichten.
Auch nicht auf Elsaß-Lothringen. Die Länder hätte man missen können, aber
nicht ihr Menschenmaterial. Mit mathematischer Sicherheit war der Zeitpunkt
vorher zu bestimmen, da Frankreich an das Ende seiner militärischen Leistungs¬
fähigkeit angelangt sein würde. Es konnte also nur ein Bündnis gegen Deutschland
in Frage kommen. Es gab aber nur eine Macht, die an einem starken Frankreich
ein Interesse hatte, nämlich Rußland. Bismarck hatte schon die Natur¬
notwendigkeit dieser französisch-russischen Annäherung eingesehen. In seinen
„Gedanken und Erinnerungen" äußerte er sich über diesen Punkt ganz klar:
„daß es für die russische Politik eine Grenze gibt, über die hinaus das Gewicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/17>, abgerufen am 01.07.2024.