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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Kampf gegen den "Militarismus"

der Politik eigene Wege zu gehen? Und wie würde England selbst sich zu
seinen Kolonien stellen, wenn es nun tatsächlich im eigenen Lande die allgemeine
Wehrpflicht einführte und in jenen auf sie verzichtete? Die Kolonien müßten
aus Freunden, Verbündeten sofort Untertanen werden. Und das bedeutete den
Krieg mit diesen, die Zertrümmerung des Reichs. Der Widerstand Englands
gegen die allgemeine Wehrpflicht ist in den innersten Lebensbedingungen seines
materiellen und politischen Daseins begründet.

Einmal zum Kampf entschlossen gingen die englischen Staatsmänner kalt
abwägend, nur den Vorteil ihres Landes im Auge, rücksichtslos ihren Weg.
Sie erweiterten den Kreis der Freunde und Verbündeten und wußten neue
Verbindungen, bis dahin ganz außerhalb der Möglichkeit stehende, anzuknüpfen.
Meisterhaft verstanden sie, wie in den besten Zeiten britischer Politik, völlig
skrupellos in der Wahl der Mittel, den Mächten, die sie ihren Interessen dienstbar
machen wollten, darzulegen, daß die Niederringung Deutschlands und damit des
kultur- und friedensfeindlichen Militarismus in dem allgemeinen europäischen Inter¬
esse und besonders des jeweiligen Kontrahenten liege. Die Kolonien zu gewinnen
war der leichteste Teil der gewaltigen diplomatischen Arbeit. Denn in der Tat
ist ihr Schicksal mit dem Englands eng verknüpft. Ohne den Rückhalt an dieses
werden sie nichts anderes sein als Spielbälle in der Hand der Mächtigen, wenn
nicht ihres politischen Sonderdaseins überhaupt verlustig gehen. Diese Einsicht
in die Welt unerbittlicher Tatsachen veranlaßte die Kolonien denn auch zu ihren
großen Leistungen, mit denen sie dem Mutterlande zu Hilfe gekommen sind.
Die Haltung der Vereinigten Staaten von Nordamerika hat besonders in
Deutschland Befremden und Entrüstung ausgelöst. Es ist das erste Mal im
Laufe der Weltgeschichte, da die positiven Machtmittel dieses riesigen Staatswesen
auf Herz und Nieren geprüft wurden. Das Ergebnis dieser Prüfung konnte
nur der vollständige Verzicht auf eine selbständige Politik sein. Eine Großmacht,
die nicht imstande ist einen Krieg gegen Mexiko zu führen, kann nur im Schatten
einer anderen wandeln. Und diese mußte England sein. Nicht nur weil die
Vereinigten Staaten der englischen Flotte keine auch nur annähernd gleich¬
wertige entgegenzusetzen haben, also bei einer englandfeindlichen Politik den
Drangsalierungen schutzlos preisgegeben sein würden, sondern weil auch die
politischen Interessen, die gegenwärtigen und zukünftigen, gemeinsame sind. Auch
die Vereinigten Staaten haben das größte Interesse daran, die allgemeine Wehr¬
pflicht nicht einzuführen. Ihr noch im Werden begriffenes Staatswesen wäre
dieser Aufgabe nicht gewachsen, die Industrie könnte so wenig wie die Land¬
wirtschaft die durch diese gebundenen Kräfte entbehren, die Einwanderung hätte
mit einem Schlage ein Ende, die Gefahr des Zerfalls in Sonderstaaten wäre
kaum abzuwenden. Auch für die Vereinigten Staaten war England die Schutz¬
macht, deren militärische Hilfsmittel es diesen ermöglichte, die eigenen in nur
bescheidenem Maße zu entwickeln. Darüber kann auch ihre imperialistische
Politik nicht hinwegtäuschen. Denn diese betätigt sich ausschließlich in Ost-


Englands Kampf gegen den „Militarismus"

der Politik eigene Wege zu gehen? Und wie würde England selbst sich zu
seinen Kolonien stellen, wenn es nun tatsächlich im eigenen Lande die allgemeine
Wehrpflicht einführte und in jenen auf sie verzichtete? Die Kolonien müßten
aus Freunden, Verbündeten sofort Untertanen werden. Und das bedeutete den
Krieg mit diesen, die Zertrümmerung des Reichs. Der Widerstand Englands
gegen die allgemeine Wehrpflicht ist in den innersten Lebensbedingungen seines
materiellen und politischen Daseins begründet.

Einmal zum Kampf entschlossen gingen die englischen Staatsmänner kalt
abwägend, nur den Vorteil ihres Landes im Auge, rücksichtslos ihren Weg.
Sie erweiterten den Kreis der Freunde und Verbündeten und wußten neue
Verbindungen, bis dahin ganz außerhalb der Möglichkeit stehende, anzuknüpfen.
Meisterhaft verstanden sie, wie in den besten Zeiten britischer Politik, völlig
skrupellos in der Wahl der Mittel, den Mächten, die sie ihren Interessen dienstbar
machen wollten, darzulegen, daß die Niederringung Deutschlands und damit des
kultur- und friedensfeindlichen Militarismus in dem allgemeinen europäischen Inter¬
esse und besonders des jeweiligen Kontrahenten liege. Die Kolonien zu gewinnen
war der leichteste Teil der gewaltigen diplomatischen Arbeit. Denn in der Tat
ist ihr Schicksal mit dem Englands eng verknüpft. Ohne den Rückhalt an dieses
werden sie nichts anderes sein als Spielbälle in der Hand der Mächtigen, wenn
nicht ihres politischen Sonderdaseins überhaupt verlustig gehen. Diese Einsicht
in die Welt unerbittlicher Tatsachen veranlaßte die Kolonien denn auch zu ihren
großen Leistungen, mit denen sie dem Mutterlande zu Hilfe gekommen sind.
Die Haltung der Vereinigten Staaten von Nordamerika hat besonders in
Deutschland Befremden und Entrüstung ausgelöst. Es ist das erste Mal im
Laufe der Weltgeschichte, da die positiven Machtmittel dieses riesigen Staatswesen
auf Herz und Nieren geprüft wurden. Das Ergebnis dieser Prüfung konnte
nur der vollständige Verzicht auf eine selbständige Politik sein. Eine Großmacht,
die nicht imstande ist einen Krieg gegen Mexiko zu führen, kann nur im Schatten
einer anderen wandeln. Und diese mußte England sein. Nicht nur weil die
Vereinigten Staaten der englischen Flotte keine auch nur annähernd gleich¬
wertige entgegenzusetzen haben, also bei einer englandfeindlichen Politik den
Drangsalierungen schutzlos preisgegeben sein würden, sondern weil auch die
politischen Interessen, die gegenwärtigen und zukünftigen, gemeinsame sind. Auch
die Vereinigten Staaten haben das größte Interesse daran, die allgemeine Wehr¬
pflicht nicht einzuführen. Ihr noch im Werden begriffenes Staatswesen wäre
dieser Aufgabe nicht gewachsen, die Industrie könnte so wenig wie die Land¬
wirtschaft die durch diese gebundenen Kräfte entbehren, die Einwanderung hätte
mit einem Schlage ein Ende, die Gefahr des Zerfalls in Sonderstaaten wäre
kaum abzuwenden. Auch für die Vereinigten Staaten war England die Schutz¬
macht, deren militärische Hilfsmittel es diesen ermöglichte, die eigenen in nur
bescheidenem Maße zu entwickeln. Darüber kann auch ihre imperialistische
Politik nicht hinwegtäuschen. Denn diese betätigt sich ausschließlich in Ost-


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[0016] Englands Kampf gegen den „Militarismus" der Politik eigene Wege zu gehen? Und wie würde England selbst sich zu seinen Kolonien stellen, wenn es nun tatsächlich im eigenen Lande die allgemeine Wehrpflicht einführte und in jenen auf sie verzichtete? Die Kolonien müßten aus Freunden, Verbündeten sofort Untertanen werden. Und das bedeutete den Krieg mit diesen, die Zertrümmerung des Reichs. Der Widerstand Englands gegen die allgemeine Wehrpflicht ist in den innersten Lebensbedingungen seines materiellen und politischen Daseins begründet. Einmal zum Kampf entschlossen gingen die englischen Staatsmänner kalt abwägend, nur den Vorteil ihres Landes im Auge, rücksichtslos ihren Weg. Sie erweiterten den Kreis der Freunde und Verbündeten und wußten neue Verbindungen, bis dahin ganz außerhalb der Möglichkeit stehende, anzuknüpfen. Meisterhaft verstanden sie, wie in den besten Zeiten britischer Politik, völlig skrupellos in der Wahl der Mittel, den Mächten, die sie ihren Interessen dienstbar machen wollten, darzulegen, daß die Niederringung Deutschlands und damit des kultur- und friedensfeindlichen Militarismus in dem allgemeinen europäischen Inter¬ esse und besonders des jeweiligen Kontrahenten liege. Die Kolonien zu gewinnen war der leichteste Teil der gewaltigen diplomatischen Arbeit. Denn in der Tat ist ihr Schicksal mit dem Englands eng verknüpft. Ohne den Rückhalt an dieses werden sie nichts anderes sein als Spielbälle in der Hand der Mächtigen, wenn nicht ihres politischen Sonderdaseins überhaupt verlustig gehen. Diese Einsicht in die Welt unerbittlicher Tatsachen veranlaßte die Kolonien denn auch zu ihren großen Leistungen, mit denen sie dem Mutterlande zu Hilfe gekommen sind. Die Haltung der Vereinigten Staaten von Nordamerika hat besonders in Deutschland Befremden und Entrüstung ausgelöst. Es ist das erste Mal im Laufe der Weltgeschichte, da die positiven Machtmittel dieses riesigen Staatswesen auf Herz und Nieren geprüft wurden. Das Ergebnis dieser Prüfung konnte nur der vollständige Verzicht auf eine selbständige Politik sein. Eine Großmacht, die nicht imstande ist einen Krieg gegen Mexiko zu führen, kann nur im Schatten einer anderen wandeln. Und diese mußte England sein. Nicht nur weil die Vereinigten Staaten der englischen Flotte keine auch nur annähernd gleich¬ wertige entgegenzusetzen haben, also bei einer englandfeindlichen Politik den Drangsalierungen schutzlos preisgegeben sein würden, sondern weil auch die politischen Interessen, die gegenwärtigen und zukünftigen, gemeinsame sind. Auch die Vereinigten Staaten haben das größte Interesse daran, die allgemeine Wehr¬ pflicht nicht einzuführen. Ihr noch im Werden begriffenes Staatswesen wäre dieser Aufgabe nicht gewachsen, die Industrie könnte so wenig wie die Land¬ wirtschaft die durch diese gebundenen Kräfte entbehren, die Einwanderung hätte mit einem Schlage ein Ende, die Gefahr des Zerfalls in Sonderstaaten wäre kaum abzuwenden. Auch für die Vereinigten Staaten war England die Schutz¬ macht, deren militärische Hilfsmittel es diesen ermöglichte, die eigenen in nur bescheidenem Maße zu entwickeln. Darüber kann auch ihre imperialistische Politik nicht hinwegtäuschen. Denn diese betätigt sich ausschließlich in Ost-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/16>, abgerufen am 29.06.2024.