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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Englands Kampf gegen den "Militarismus"

diesem seit hundert Jahren schwierigsten Problem Stellung nehmen. Die
Regierung machte sich an die Ausführung zweier ihr geeignet erscheinenden
Pläne: durch ein System von Allianzen den gefurchtsten Gegner zu isolieren
und die Kolonien fester an das Reich zu fesseln. Mit diesen Mitteln glaubten
die Liberalen die Gefahren beschwören zu können, Mittel aus der Rüstkammer
des achtzehnten Jahrhunderts, die allerdings bisher noch nie versagt hatten.
Die Konservativen glaubten zudem, den Feind der Zukunft mit seiner eigenen
furchtbarsten Waffe schlagen zu müssen und verlangten die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht. Daß für diesen Gedanken sich maßgebende Männer
erwärmen, sür ihn in der Öffentlichkeit eintreten konnten, beweist schlagend, daß
man sich über den Ernst der Sachlage keiner Täuschung hingab, daß man den
Kampf mit dem Rivalen für unvermeidlich und für das Schicksal des Reichs
für entscheidend hielt. Indessen hatte dieser Gedanke nur bei einer geringen
Anzahl Männer Wurzel fassen können, das Land selbst und die Regierung
diskutierten ihn nicht einmal. Mit gutem Grunde, vielleicht mehr aus Instinkt
als aus klarer Einsicht. Die allgemeine Wehrpflicht für England fordern, heißt
das Unmögliche verlangen, die Waffen strecken, bevor der Kampf begonnen hat.
Hier von Händlermoral zu sprechen, ist eine völlige Verkennung der Sachlage.
Dieser Auffassung steht schon entgegen, daß sich die englische Armee durchaus nicht
aus dem Abschaum der Bevölkerung zusammensetzt, und daß ihr Offizierkorps
zu einem nicht geringen Teil aus Angehörigen hochangesehener Familien besteht,
für deren Söhne der Heeresdienst traditionell ist. Es sind zum Teil Anschauungen,
die auch in Deutschland vielerorts bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
galten, die in der Abneigung gegen den Waffendienst zu Worte kommen, mehr
noch das moderne Gesetz der Arbeitsteilung. England ist das weitaus am meisten
industrialisierte Land der Erde. Wie die einen im Dienst der Industrie arbeiten, so
die anderen für die Verteidigung des Landes, alle aber zum Wohle des Ganzen.
Vor allem hat aber diese Industrialisierung den Zustand geschaffen, daß das
Land die Arbeitskräfte nicht entbehren kann, die die allgemeine Wehrpflicht ihr
wegnehmen würde. Sie wäre ein tödlicher Stoß für diesen Lebensnerv Englands,
seines Weltreichs. Ihre Einführung wäre aber vermutlich auch gleichbedeutend
mit dem Ende der politischen Weltherrschaft. Denn mit einem Schlage müßte
das Verhältnis von Mutterland und Kolonien ein anderes werden. Mag man
das Gemeingefühl der Sprache, der gemeinsamen Abstammung. Kultur und
durch Jahrhunderte alte Beziehungen noch so hoch veranschlagen, ausschlaggebend
sür die Unterordnung der Kolonien unter das Mutterland ist der bisher
unerschütterliche Glaube, in seinem mächtigen Schutz ruhig und sicher wohnen
zu können. Dieser ist geradezu eine Lebensbedingung für Australien, Kanada,
Südafrika, die settlements. Für diese Kolonien bedeutete die allgemeine Wehr¬
pflicht den völligen Ruin bei ihren dünnen Bevölkerungen. Und welchen Grund
gäbe es noch, der stark genug wäre, die Kolonie, die diese Last auf sich nehmen
würde, bei dem Mutterlande festzuhalten, statt in Handel und Wandel wie in


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Englands Kampf gegen den „Militarismus"

diesem seit hundert Jahren schwierigsten Problem Stellung nehmen. Die
Regierung machte sich an die Ausführung zweier ihr geeignet erscheinenden
Pläne: durch ein System von Allianzen den gefurchtsten Gegner zu isolieren
und die Kolonien fester an das Reich zu fesseln. Mit diesen Mitteln glaubten
die Liberalen die Gefahren beschwören zu können, Mittel aus der Rüstkammer
des achtzehnten Jahrhunderts, die allerdings bisher noch nie versagt hatten.
Die Konservativen glaubten zudem, den Feind der Zukunft mit seiner eigenen
furchtbarsten Waffe schlagen zu müssen und verlangten die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht. Daß für diesen Gedanken sich maßgebende Männer
erwärmen, sür ihn in der Öffentlichkeit eintreten konnten, beweist schlagend, daß
man sich über den Ernst der Sachlage keiner Täuschung hingab, daß man den
Kampf mit dem Rivalen für unvermeidlich und für das Schicksal des Reichs
für entscheidend hielt. Indessen hatte dieser Gedanke nur bei einer geringen
Anzahl Männer Wurzel fassen können, das Land selbst und die Regierung
diskutierten ihn nicht einmal. Mit gutem Grunde, vielleicht mehr aus Instinkt
als aus klarer Einsicht. Die allgemeine Wehrpflicht für England fordern, heißt
das Unmögliche verlangen, die Waffen strecken, bevor der Kampf begonnen hat.
Hier von Händlermoral zu sprechen, ist eine völlige Verkennung der Sachlage.
Dieser Auffassung steht schon entgegen, daß sich die englische Armee durchaus nicht
aus dem Abschaum der Bevölkerung zusammensetzt, und daß ihr Offizierkorps
zu einem nicht geringen Teil aus Angehörigen hochangesehener Familien besteht,
für deren Söhne der Heeresdienst traditionell ist. Es sind zum Teil Anschauungen,
die auch in Deutschland vielerorts bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
galten, die in der Abneigung gegen den Waffendienst zu Worte kommen, mehr
noch das moderne Gesetz der Arbeitsteilung. England ist das weitaus am meisten
industrialisierte Land der Erde. Wie die einen im Dienst der Industrie arbeiten, so
die anderen für die Verteidigung des Landes, alle aber zum Wohle des Ganzen.
Vor allem hat aber diese Industrialisierung den Zustand geschaffen, daß das
Land die Arbeitskräfte nicht entbehren kann, die die allgemeine Wehrpflicht ihr
wegnehmen würde. Sie wäre ein tödlicher Stoß für diesen Lebensnerv Englands,
seines Weltreichs. Ihre Einführung wäre aber vermutlich auch gleichbedeutend
mit dem Ende der politischen Weltherrschaft. Denn mit einem Schlage müßte
das Verhältnis von Mutterland und Kolonien ein anderes werden. Mag man
das Gemeingefühl der Sprache, der gemeinsamen Abstammung. Kultur und
durch Jahrhunderte alte Beziehungen noch so hoch veranschlagen, ausschlaggebend
sür die Unterordnung der Kolonien unter das Mutterland ist der bisher
unerschütterliche Glaube, in seinem mächtigen Schutz ruhig und sicher wohnen
zu können. Dieser ist geradezu eine Lebensbedingung für Australien, Kanada,
Südafrika, die settlements. Für diese Kolonien bedeutete die allgemeine Wehr¬
pflicht den völligen Ruin bei ihren dünnen Bevölkerungen. Und welchen Grund
gäbe es noch, der stark genug wäre, die Kolonie, die diese Last auf sich nehmen
würde, bei dem Mutterlande festzuhalten, statt in Handel und Wandel wie in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/15>, abgerufen am 26.06.2024.