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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der katholische Priester unter russischer Herrschaft

In der folgenden Nacht entwich er wieder aus dem genannten Kloster und
treibt sich gegenwärtig im Gouvernement Kleine herum."

Derart krasse Fälle find natürlich vereinzelt.

Die übliche Strafe, ein oder zwei Jahre Klosterhaft, wird offenbar vom
Bischof verhängt und von den Zivilbehörden bestätigt, während umgekehrt die
Regierung in Fällen, die ihr wichtig find, dem Bischof die Bestrafung des
betreffenden Geistlichen aufgibt.

Beispiele von religiösem Fanatismus verzeichnen die Konduitenlisten mehr¬
fach. Ein Priester im Gouvernement Raton versuchte 1910 die Bevölkerung
gegen die Mariawiten aufzuhetzen; ein Vikar der Gemeinde S. wird wegen
Aufreizung seiner Gemeindeangehörigen gegen die Juden 1903 zu 25 Rubeln
Geldstrafe und Strafversetzung verurteilt; Verweigerungen von Beichte und
Absolution kommen öfters vor, wenn Eheschließungen mit Nichtkatholiken, ins¬
besondere Orthodoxen, vorliegen. In einem Falle des Jahres 1910 weigert
sich ein Priester, eine Taufe zu vollziehen, weil im Hause der Eltern des
Kindes -- ein Jude wohnt.

Das Hauptinteresse der Regierung gilt aber doch dem politischen Ver¬
halten der Priester und etwaigen Äußerungen nationalpolnischer Gesinnung.

Verstöße dieser Art sind zunächst ganz allgemein Abneigung gegen das
Russentum, insbesondere gegen die russische Sprache. Folgender Auszug aus
einer Konduitenliste bezieht sich auf einen Fall, wie er ähnlich öfters wieder¬
kehrt: "Durch Verordnung des Warschauer Generalgouverneurs vom 2. April
1896 mit 100 Rubel Geldstrafe belegt, weil er in der Wohnung eines Ein¬
wohners des Dorfes M. ein Bild des heiligen Nikolaus zerstörte, auf dem sich
eine russische Unterschrift befand." Mit Strenge hält die Regierung darauf,
daß der Eid den Zivilbehörden in russischer Sprache geleistet wird: "Durch
Verfügung des Ministeriums des Innern vom 20. November 1910 wurde
dem römisch-katholischen Bischof von K. aufgegeben, den nichtetatsmäßigen Vikar
der Gemeinde S., Priester N. L., vom geistlichen Amte zu entfernen, weil
er sich weigerte, den Regierungsbehörden den Eid in russischer Sprache zu
leisten."

Wie alle oppositionellen Regungen, so konnte auch die nationalpolnische
Gesinnung in der Revolutionszeit sich in der Öffentlichkeit betätigen, und mehr¬
fach finden wir nach den Angaben der Konduitenlisten, daß Priester durch Teil¬
nahme an Versammlungen und Umzügen und durch öffentliche Ansprachen hier¬
bei in führender Weise hervortraten. Zunächst ist der einzige Niederschlag
derart unerhörten politischen Mißverhaltens ein jedesmaliger ausführlicher Ver¬
merk zur Konduite. Als aber die Regierung sich sicher und stark genug fühlte,
ihre reaktionären Ziele gegenüber den Zugeständnissen der Revolutionszeit
rücksichtslos wieder durchzusetzen, scheute sie sich nicht, noch nach Jahren mit
Maßregelungen gegen in dieser Weise belastete Priester vorzugehen. Als ein
Beispiel für viele sei folgender Auszug einer Konduitenliste wiedergegeben:


Der katholische Priester unter russischer Herrschaft

In der folgenden Nacht entwich er wieder aus dem genannten Kloster und
treibt sich gegenwärtig im Gouvernement Kleine herum."

Derart krasse Fälle find natürlich vereinzelt.

Die übliche Strafe, ein oder zwei Jahre Klosterhaft, wird offenbar vom
Bischof verhängt und von den Zivilbehörden bestätigt, während umgekehrt die
Regierung in Fällen, die ihr wichtig find, dem Bischof die Bestrafung des
betreffenden Geistlichen aufgibt.

Beispiele von religiösem Fanatismus verzeichnen die Konduitenlisten mehr¬
fach. Ein Priester im Gouvernement Raton versuchte 1910 die Bevölkerung
gegen die Mariawiten aufzuhetzen; ein Vikar der Gemeinde S. wird wegen
Aufreizung seiner Gemeindeangehörigen gegen die Juden 1903 zu 25 Rubeln
Geldstrafe und Strafversetzung verurteilt; Verweigerungen von Beichte und
Absolution kommen öfters vor, wenn Eheschließungen mit Nichtkatholiken, ins¬
besondere Orthodoxen, vorliegen. In einem Falle des Jahres 1910 weigert
sich ein Priester, eine Taufe zu vollziehen, weil im Hause der Eltern des
Kindes — ein Jude wohnt.

Das Hauptinteresse der Regierung gilt aber doch dem politischen Ver¬
halten der Priester und etwaigen Äußerungen nationalpolnischer Gesinnung.

Verstöße dieser Art sind zunächst ganz allgemein Abneigung gegen das
Russentum, insbesondere gegen die russische Sprache. Folgender Auszug aus
einer Konduitenliste bezieht sich auf einen Fall, wie er ähnlich öfters wieder¬
kehrt: „Durch Verordnung des Warschauer Generalgouverneurs vom 2. April
1896 mit 100 Rubel Geldstrafe belegt, weil er in der Wohnung eines Ein¬
wohners des Dorfes M. ein Bild des heiligen Nikolaus zerstörte, auf dem sich
eine russische Unterschrift befand." Mit Strenge hält die Regierung darauf,
daß der Eid den Zivilbehörden in russischer Sprache geleistet wird: „Durch
Verfügung des Ministeriums des Innern vom 20. November 1910 wurde
dem römisch-katholischen Bischof von K. aufgegeben, den nichtetatsmäßigen Vikar
der Gemeinde S., Priester N. L., vom geistlichen Amte zu entfernen, weil
er sich weigerte, den Regierungsbehörden den Eid in russischer Sprache zu
leisten."

Wie alle oppositionellen Regungen, so konnte auch die nationalpolnische
Gesinnung in der Revolutionszeit sich in der Öffentlichkeit betätigen, und mehr¬
fach finden wir nach den Angaben der Konduitenlisten, daß Priester durch Teil¬
nahme an Versammlungen und Umzügen und durch öffentliche Ansprachen hier¬
bei in führender Weise hervortraten. Zunächst ist der einzige Niederschlag
derart unerhörten politischen Mißverhaltens ein jedesmaliger ausführlicher Ver¬
merk zur Konduite. Als aber die Regierung sich sicher und stark genug fühlte,
ihre reaktionären Ziele gegenüber den Zugeständnissen der Revolutionszeit
rücksichtslos wieder durchzusetzen, scheute sie sich nicht, noch nach Jahren mit
Maßregelungen gegen in dieser Weise belastete Priester vorzugehen. Als ein
Beispiel für viele sei folgender Auszug einer Konduitenliste wiedergegeben:


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[0145] Der katholische Priester unter russischer Herrschaft In der folgenden Nacht entwich er wieder aus dem genannten Kloster und treibt sich gegenwärtig im Gouvernement Kleine herum." Derart krasse Fälle find natürlich vereinzelt. Die übliche Strafe, ein oder zwei Jahre Klosterhaft, wird offenbar vom Bischof verhängt und von den Zivilbehörden bestätigt, während umgekehrt die Regierung in Fällen, die ihr wichtig find, dem Bischof die Bestrafung des betreffenden Geistlichen aufgibt. Beispiele von religiösem Fanatismus verzeichnen die Konduitenlisten mehr¬ fach. Ein Priester im Gouvernement Raton versuchte 1910 die Bevölkerung gegen die Mariawiten aufzuhetzen; ein Vikar der Gemeinde S. wird wegen Aufreizung seiner Gemeindeangehörigen gegen die Juden 1903 zu 25 Rubeln Geldstrafe und Strafversetzung verurteilt; Verweigerungen von Beichte und Absolution kommen öfters vor, wenn Eheschließungen mit Nichtkatholiken, ins¬ besondere Orthodoxen, vorliegen. In einem Falle des Jahres 1910 weigert sich ein Priester, eine Taufe zu vollziehen, weil im Hause der Eltern des Kindes — ein Jude wohnt. Das Hauptinteresse der Regierung gilt aber doch dem politischen Ver¬ halten der Priester und etwaigen Äußerungen nationalpolnischer Gesinnung. Verstöße dieser Art sind zunächst ganz allgemein Abneigung gegen das Russentum, insbesondere gegen die russische Sprache. Folgender Auszug aus einer Konduitenliste bezieht sich auf einen Fall, wie er ähnlich öfters wieder¬ kehrt: „Durch Verordnung des Warschauer Generalgouverneurs vom 2. April 1896 mit 100 Rubel Geldstrafe belegt, weil er in der Wohnung eines Ein¬ wohners des Dorfes M. ein Bild des heiligen Nikolaus zerstörte, auf dem sich eine russische Unterschrift befand." Mit Strenge hält die Regierung darauf, daß der Eid den Zivilbehörden in russischer Sprache geleistet wird: „Durch Verfügung des Ministeriums des Innern vom 20. November 1910 wurde dem römisch-katholischen Bischof von K. aufgegeben, den nichtetatsmäßigen Vikar der Gemeinde S., Priester N. L., vom geistlichen Amte zu entfernen, weil er sich weigerte, den Regierungsbehörden den Eid in russischer Sprache zu leisten." Wie alle oppositionellen Regungen, so konnte auch die nationalpolnische Gesinnung in der Revolutionszeit sich in der Öffentlichkeit betätigen, und mehr¬ fach finden wir nach den Angaben der Konduitenlisten, daß Priester durch Teil¬ nahme an Versammlungen und Umzügen und durch öffentliche Ansprachen hier¬ bei in führender Weise hervortraten. Zunächst ist der einzige Niederschlag derart unerhörten politischen Mißverhaltens ein jedesmaliger ausführlicher Ver¬ merk zur Konduite. Als aber die Regierung sich sicher und stark genug fühlte, ihre reaktionären Ziele gegenüber den Zugeständnissen der Revolutionszeit rücksichtslos wieder durchzusetzen, scheute sie sich nicht, noch nach Jahren mit Maßregelungen gegen in dieser Weise belastete Priester vorzugehen. Als ein Beispiel für viele sei folgender Auszug einer Konduitenliste wiedergegeben:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/145>, abgerufen am 23.07.2024.