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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

der Autorität aus denkbar: nur von oben herab kann es durch die rechte
Fürsorge für die Niederen bewirkt werden, daß auch unter diesen genügend
viele tüchtige Individuen sich entwickeln und auf der sozialen Leiter emporsteigen,
während das in Frankreich geübte Verhätscheln und Umschmeicheln der Massen
diese nur durch einen falschen Enthusiasmus entnervt und entsittlicht.

Was aber haben die oberen Klassen seit zwanzig Jahren getan, um ihrer
doppelten Aufgabe als Inhaber der staatlichen und gesellschaftlichen Autorität
und als Vorbilder des Volkes gerecht zu werden? Furchtbar lautet die Antwort,
die Schilderung der Fäulnis, die sich in diesen Schichten festgesetzt hat, in
dieser Pariser Gesellschaft zumal, die, genährt, bereichert, ergötzt von dem
Allerweltskarneval, den sie nach ihrer Stadt zu ziehen vermocht hat, nun kein
anderes Ziel in der Welt mehr kennt, als diesen Karneval immer mehr zu
vervollkommnen und auszudehnen, und die in der Literatur, die sie sich
geschaffen, ein ihrer würdiges Spiegelbild findet, ihren tieferen Grund wohl
aber schon in der Erziehung haben muß. Ein unendlich trauriger Ausblick in
die Zukunft, wie ihn Gobineau das Bild der Pariser Schuljugend eingibt,
beschließt diesen ersten Teil: "Die französische Jugend verläßt die Schule, ohne
Jugend des Herzens, ohne Frische der Ideen, geistig abgenutzt, skeptisch und
tief unwissend. Man braucht nur Scharen dieser Schüler die Straßen von
Paris durchziehen zu sehen, um sich von den traurigsten und widerwärtigsten
Eindrücken erfaßt zu fühlen. Diese unglücklichen Kinder, meist vereinzelt gehend,
ohne Haltung, ohne Anstand, auf ihren fahlen, bleifarbenen, ungesunden oder
krankhaften Gesichtern den Ausdruck herausforderndster Frechheit, verheißen nichts
Gutes für ihre Zukunft." Diese Jugend der Bürgerklassen kennt nur ein Ziel,
einen Gedanken: reich zu sein oder vielmehr zu werden. Zu genießen, nichts
zu tun erscheint ihr das einzige Glück, die einzige Ehre in der modernen Welt.

Hier bricht, leider mitten im Thema, das Manuskript des ersten Teiles
ab. Gewisse Gedankengänge, die für diesen zweifellos noch vorgesehen waren,
haben nach Jahren in der Schrift über die dritte Republik*) (die überhaupt
als eine Fortsetzung derjenigen über den Krieg betrachtet werden kann) ihre
teilweise Ausführung gefunden, doch bieten sie dort keinen vollgültigen Ersatz
für das uns hier Entgangene, da zwischen beiden Arbeiten ein merklicher
Abstand in Ton und Gehalt besteht und Gobineau die Höhe, auf die ihn die
Außerordentlichkeit der Lage von 1870 erhoben hatte, unter den abgeschwächten
Verhältnissen von 1877 nicht wohl wieder erreichen konnte.

Der zweite, den Kriegsereignissen gewidmete Teil schildert zunächst in
grellen Farben den Gegensatz zwischen den Vorspiegelungen und Selbsttäuschungen,
den Stimmungen und Absichten der Verantwortlicher und deren Leistungen und
Vorkehrungen in der Wirklichkeit. Nur eine beispiellose Verblendung konnte



"1." troisieme Kepublique kran^aise et ce qu'elle ohne." Veröffentlicht bei Trübner
in Straßburg, 1907.
Gobineau über Deutsche und Franzosen

der Autorität aus denkbar: nur von oben herab kann es durch die rechte
Fürsorge für die Niederen bewirkt werden, daß auch unter diesen genügend
viele tüchtige Individuen sich entwickeln und auf der sozialen Leiter emporsteigen,
während das in Frankreich geübte Verhätscheln und Umschmeicheln der Massen
diese nur durch einen falschen Enthusiasmus entnervt und entsittlicht.

Was aber haben die oberen Klassen seit zwanzig Jahren getan, um ihrer
doppelten Aufgabe als Inhaber der staatlichen und gesellschaftlichen Autorität
und als Vorbilder des Volkes gerecht zu werden? Furchtbar lautet die Antwort,
die Schilderung der Fäulnis, die sich in diesen Schichten festgesetzt hat, in
dieser Pariser Gesellschaft zumal, die, genährt, bereichert, ergötzt von dem
Allerweltskarneval, den sie nach ihrer Stadt zu ziehen vermocht hat, nun kein
anderes Ziel in der Welt mehr kennt, als diesen Karneval immer mehr zu
vervollkommnen und auszudehnen, und die in der Literatur, die sie sich
geschaffen, ein ihrer würdiges Spiegelbild findet, ihren tieferen Grund wohl
aber schon in der Erziehung haben muß. Ein unendlich trauriger Ausblick in
die Zukunft, wie ihn Gobineau das Bild der Pariser Schuljugend eingibt,
beschließt diesen ersten Teil: „Die französische Jugend verläßt die Schule, ohne
Jugend des Herzens, ohne Frische der Ideen, geistig abgenutzt, skeptisch und
tief unwissend. Man braucht nur Scharen dieser Schüler die Straßen von
Paris durchziehen zu sehen, um sich von den traurigsten und widerwärtigsten
Eindrücken erfaßt zu fühlen. Diese unglücklichen Kinder, meist vereinzelt gehend,
ohne Haltung, ohne Anstand, auf ihren fahlen, bleifarbenen, ungesunden oder
krankhaften Gesichtern den Ausdruck herausforderndster Frechheit, verheißen nichts
Gutes für ihre Zukunft." Diese Jugend der Bürgerklassen kennt nur ein Ziel,
einen Gedanken: reich zu sein oder vielmehr zu werden. Zu genießen, nichts
zu tun erscheint ihr das einzige Glück, die einzige Ehre in der modernen Welt.

Hier bricht, leider mitten im Thema, das Manuskript des ersten Teiles
ab. Gewisse Gedankengänge, die für diesen zweifellos noch vorgesehen waren,
haben nach Jahren in der Schrift über die dritte Republik*) (die überhaupt
als eine Fortsetzung derjenigen über den Krieg betrachtet werden kann) ihre
teilweise Ausführung gefunden, doch bieten sie dort keinen vollgültigen Ersatz
für das uns hier Entgangene, da zwischen beiden Arbeiten ein merklicher
Abstand in Ton und Gehalt besteht und Gobineau die Höhe, auf die ihn die
Außerordentlichkeit der Lage von 1870 erhoben hatte, unter den abgeschwächten
Verhältnissen von 1877 nicht wohl wieder erreichen konnte.

Der zweite, den Kriegsereignissen gewidmete Teil schildert zunächst in
grellen Farben den Gegensatz zwischen den Vorspiegelungen und Selbsttäuschungen,
den Stimmungen und Absichten der Verantwortlicher und deren Leistungen und
Vorkehrungen in der Wirklichkeit. Nur eine beispiellose Verblendung konnte



„1.» troisieme Kepublique kran^aise et ce qu'elle ohne." Veröffentlicht bei Trübner
in Straßburg, 1907.
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[0097] Gobineau über Deutsche und Franzosen der Autorität aus denkbar: nur von oben herab kann es durch die rechte Fürsorge für die Niederen bewirkt werden, daß auch unter diesen genügend viele tüchtige Individuen sich entwickeln und auf der sozialen Leiter emporsteigen, während das in Frankreich geübte Verhätscheln und Umschmeicheln der Massen diese nur durch einen falschen Enthusiasmus entnervt und entsittlicht. Was aber haben die oberen Klassen seit zwanzig Jahren getan, um ihrer doppelten Aufgabe als Inhaber der staatlichen und gesellschaftlichen Autorität und als Vorbilder des Volkes gerecht zu werden? Furchtbar lautet die Antwort, die Schilderung der Fäulnis, die sich in diesen Schichten festgesetzt hat, in dieser Pariser Gesellschaft zumal, die, genährt, bereichert, ergötzt von dem Allerweltskarneval, den sie nach ihrer Stadt zu ziehen vermocht hat, nun kein anderes Ziel in der Welt mehr kennt, als diesen Karneval immer mehr zu vervollkommnen und auszudehnen, und die in der Literatur, die sie sich geschaffen, ein ihrer würdiges Spiegelbild findet, ihren tieferen Grund wohl aber schon in der Erziehung haben muß. Ein unendlich trauriger Ausblick in die Zukunft, wie ihn Gobineau das Bild der Pariser Schuljugend eingibt, beschließt diesen ersten Teil: „Die französische Jugend verläßt die Schule, ohne Jugend des Herzens, ohne Frische der Ideen, geistig abgenutzt, skeptisch und tief unwissend. Man braucht nur Scharen dieser Schüler die Straßen von Paris durchziehen zu sehen, um sich von den traurigsten und widerwärtigsten Eindrücken erfaßt zu fühlen. Diese unglücklichen Kinder, meist vereinzelt gehend, ohne Haltung, ohne Anstand, auf ihren fahlen, bleifarbenen, ungesunden oder krankhaften Gesichtern den Ausdruck herausforderndster Frechheit, verheißen nichts Gutes für ihre Zukunft." Diese Jugend der Bürgerklassen kennt nur ein Ziel, einen Gedanken: reich zu sein oder vielmehr zu werden. Zu genießen, nichts zu tun erscheint ihr das einzige Glück, die einzige Ehre in der modernen Welt. Hier bricht, leider mitten im Thema, das Manuskript des ersten Teiles ab. Gewisse Gedankengänge, die für diesen zweifellos noch vorgesehen waren, haben nach Jahren in der Schrift über die dritte Republik*) (die überhaupt als eine Fortsetzung derjenigen über den Krieg betrachtet werden kann) ihre teilweise Ausführung gefunden, doch bieten sie dort keinen vollgültigen Ersatz für das uns hier Entgangene, da zwischen beiden Arbeiten ein merklicher Abstand in Ton und Gehalt besteht und Gobineau die Höhe, auf die ihn die Außerordentlichkeit der Lage von 1870 erhoben hatte, unter den abgeschwächten Verhältnissen von 1877 nicht wohl wieder erreichen konnte. Der zweite, den Kriegsereignissen gewidmete Teil schildert zunächst in grellen Farben den Gegensatz zwischen den Vorspiegelungen und Selbsttäuschungen, den Stimmungen und Absichten der Verantwortlicher und deren Leistungen und Vorkehrungen in der Wirklichkeit. Nur eine beispiellose Verblendung konnte „1.» troisieme Kepublique kran^aise et ce qu'elle ohne." Veröffentlicht bei Trübner in Straßburg, 1907.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/97>, abgerufen am 22.07.2024.