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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

Heiligen", ein Gegenstand des Glaubens mehr, als des Schauens, des Sehnens,
als des Wissens. Die Ausgabe der sichtbaren Kirche aber im letzten Grunde:
ihre Glieder zu solchen der unsichtbaren zu erziehen.

Wir verstehen diese spekulativen Gedanken auch heute noch, wir fühlen,
wie die Sehnsucht unserer Zeit auf jene Joealkirche gerichtet ist, die, der letzten
Wahrheit nahe, alle Glieder zur Einmütigkeit in sich schließend, das große
Wort Christi zur Wirklichkeit macht: Eine Herde und ein Hirt.

Für die ernste Realität des Lebens der Gegenwart freilich liegt ein
anderes Ziel näher: die Staatskirche, in der wir leben, zur Volkskirche zu
gestalten.

Man wollte es auf dem vielen erstrebenswerten Wege zu erreichen suchen:
Loslösung der Kirche vom Staate.

Ich möchte vor diesem Wege warnen. Nicht in der Loslösung vom
Staate, im Gegenteil, nur in der Verbindung mit ihm kann die Kirche Volks¬
kirche werden. Denn nur so ist ihr die Möglichkeit gegeben, von aller
Isoliertheit entfernt, das Volksleben religiös, ethisch und kulturell zu durch¬
dringen. Nur so kann sie ihre Ordnungen rechtlich geschützt sehen, und nur
so schließlich ihrerseits die staatlich soziale Tätigkeit mit freien Lebenskräften
erfüllen. Zweifellos entsprang der Gedanke einer Loslösung der Kirche vom
Staate ideellen Motiven, seine Verwirklichung aber wäre, wenn überhaupt
möglich, mit Bedenken verbunden, die unter Umständen die Existenz der Kirche
gefährden könnten. Das ward in warm liebendem Eifer übersehen. Aber auch
für den Staat wäre eine solche Trennung eine Gefahr. Denn die enge Ver¬
bindung mit der Kirche bewahrt ihn davor, religionslos zu werden. Daß
außerdem bei einer Loslösung die theologische Ausbildung der Prediger auf
den Universitäten, die Anstellung der Professoren heute gar nicht zu übersehenden
Schwierigkeiten begegnen würde, soll nur nebenhin erwähnt werden. Wie es
ja überhaupt nicht in der Richtung und Absicht dieses Aufsatzes liegt, das
Gebiet der Loslösung der Kirche vom Staate eingehender zu erörtern. Nur
gestreift sollte es werden und denen, die sich auch heute noch nicht von dem
Wunsche einer solchen Trennung lossagen können, die Frage vorgelegt werden:
ob sie wirklich meinen, daß die Kirche stark genug wäre, eines Tages ganz
auf sich selbst gestellt zu sein? Ich glaube, sie braucht den Staat, wie der
Staat sie braucht.

Freilich mit der Staatskirche allein wäre es auch nicht getan. Das sahen
die bald ein, denen die freie Entwicklungsfähigkeit der Kirche am Herzen lag.
Darum trat an Stelle des Schlachtrufes: "Hie Staatskirche", "hie Freikirche!"
bei den Einsichtigen das Bestreben zutage: anstatt sich in zwei Lager zu
zersplittern, lieber alle Kräfte darauf zu richten, die Staatskirche zur Volkskirche
umzuwandeln.

Aber nun zeigten sich erst recht die Schwierigkeiten, die sich einer Volks¬
tümlichkeit der Kirche entgegenstellten. Nicht die stark einsetzende und methodisch


Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

Heiligen", ein Gegenstand des Glaubens mehr, als des Schauens, des Sehnens,
als des Wissens. Die Ausgabe der sichtbaren Kirche aber im letzten Grunde:
ihre Glieder zu solchen der unsichtbaren zu erziehen.

Wir verstehen diese spekulativen Gedanken auch heute noch, wir fühlen,
wie die Sehnsucht unserer Zeit auf jene Joealkirche gerichtet ist, die, der letzten
Wahrheit nahe, alle Glieder zur Einmütigkeit in sich schließend, das große
Wort Christi zur Wirklichkeit macht: Eine Herde und ein Hirt.

Für die ernste Realität des Lebens der Gegenwart freilich liegt ein
anderes Ziel näher: die Staatskirche, in der wir leben, zur Volkskirche zu
gestalten.

Man wollte es auf dem vielen erstrebenswerten Wege zu erreichen suchen:
Loslösung der Kirche vom Staate.

Ich möchte vor diesem Wege warnen. Nicht in der Loslösung vom
Staate, im Gegenteil, nur in der Verbindung mit ihm kann die Kirche Volks¬
kirche werden. Denn nur so ist ihr die Möglichkeit gegeben, von aller
Isoliertheit entfernt, das Volksleben religiös, ethisch und kulturell zu durch¬
dringen. Nur so kann sie ihre Ordnungen rechtlich geschützt sehen, und nur
so schließlich ihrerseits die staatlich soziale Tätigkeit mit freien Lebenskräften
erfüllen. Zweifellos entsprang der Gedanke einer Loslösung der Kirche vom
Staate ideellen Motiven, seine Verwirklichung aber wäre, wenn überhaupt
möglich, mit Bedenken verbunden, die unter Umständen die Existenz der Kirche
gefährden könnten. Das ward in warm liebendem Eifer übersehen. Aber auch
für den Staat wäre eine solche Trennung eine Gefahr. Denn die enge Ver¬
bindung mit der Kirche bewahrt ihn davor, religionslos zu werden. Daß
außerdem bei einer Loslösung die theologische Ausbildung der Prediger auf
den Universitäten, die Anstellung der Professoren heute gar nicht zu übersehenden
Schwierigkeiten begegnen würde, soll nur nebenhin erwähnt werden. Wie es
ja überhaupt nicht in der Richtung und Absicht dieses Aufsatzes liegt, das
Gebiet der Loslösung der Kirche vom Staate eingehender zu erörtern. Nur
gestreift sollte es werden und denen, die sich auch heute noch nicht von dem
Wunsche einer solchen Trennung lossagen können, die Frage vorgelegt werden:
ob sie wirklich meinen, daß die Kirche stark genug wäre, eines Tages ganz
auf sich selbst gestellt zu sein? Ich glaube, sie braucht den Staat, wie der
Staat sie braucht.

Freilich mit der Staatskirche allein wäre es auch nicht getan. Das sahen
die bald ein, denen die freie Entwicklungsfähigkeit der Kirche am Herzen lag.
Darum trat an Stelle des Schlachtrufes: „Hie Staatskirche", „hie Freikirche!"
bei den Einsichtigen das Bestreben zutage: anstatt sich in zwei Lager zu
zersplittern, lieber alle Kräfte darauf zu richten, die Staatskirche zur Volkskirche
umzuwandeln.

Aber nun zeigten sich erst recht die Schwierigkeiten, die sich einer Volks¬
tümlichkeit der Kirche entgegenstellten. Nicht die stark einsetzende und methodisch


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[0084] Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung Heiligen", ein Gegenstand des Glaubens mehr, als des Schauens, des Sehnens, als des Wissens. Die Ausgabe der sichtbaren Kirche aber im letzten Grunde: ihre Glieder zu solchen der unsichtbaren zu erziehen. Wir verstehen diese spekulativen Gedanken auch heute noch, wir fühlen, wie die Sehnsucht unserer Zeit auf jene Joealkirche gerichtet ist, die, der letzten Wahrheit nahe, alle Glieder zur Einmütigkeit in sich schließend, das große Wort Christi zur Wirklichkeit macht: Eine Herde und ein Hirt. Für die ernste Realität des Lebens der Gegenwart freilich liegt ein anderes Ziel näher: die Staatskirche, in der wir leben, zur Volkskirche zu gestalten. Man wollte es auf dem vielen erstrebenswerten Wege zu erreichen suchen: Loslösung der Kirche vom Staate. Ich möchte vor diesem Wege warnen. Nicht in der Loslösung vom Staate, im Gegenteil, nur in der Verbindung mit ihm kann die Kirche Volks¬ kirche werden. Denn nur so ist ihr die Möglichkeit gegeben, von aller Isoliertheit entfernt, das Volksleben religiös, ethisch und kulturell zu durch¬ dringen. Nur so kann sie ihre Ordnungen rechtlich geschützt sehen, und nur so schließlich ihrerseits die staatlich soziale Tätigkeit mit freien Lebenskräften erfüllen. Zweifellos entsprang der Gedanke einer Loslösung der Kirche vom Staate ideellen Motiven, seine Verwirklichung aber wäre, wenn überhaupt möglich, mit Bedenken verbunden, die unter Umständen die Existenz der Kirche gefährden könnten. Das ward in warm liebendem Eifer übersehen. Aber auch für den Staat wäre eine solche Trennung eine Gefahr. Denn die enge Ver¬ bindung mit der Kirche bewahrt ihn davor, religionslos zu werden. Daß außerdem bei einer Loslösung die theologische Ausbildung der Prediger auf den Universitäten, die Anstellung der Professoren heute gar nicht zu übersehenden Schwierigkeiten begegnen würde, soll nur nebenhin erwähnt werden. Wie es ja überhaupt nicht in der Richtung und Absicht dieses Aufsatzes liegt, das Gebiet der Loslösung der Kirche vom Staate eingehender zu erörtern. Nur gestreift sollte es werden und denen, die sich auch heute noch nicht von dem Wunsche einer solchen Trennung lossagen können, die Frage vorgelegt werden: ob sie wirklich meinen, daß die Kirche stark genug wäre, eines Tages ganz auf sich selbst gestellt zu sein? Ich glaube, sie braucht den Staat, wie der Staat sie braucht. Freilich mit der Staatskirche allein wäre es auch nicht getan. Das sahen die bald ein, denen die freie Entwicklungsfähigkeit der Kirche am Herzen lag. Darum trat an Stelle des Schlachtrufes: „Hie Staatskirche", „hie Freikirche!" bei den Einsichtigen das Bestreben zutage: anstatt sich in zwei Lager zu zersplittern, lieber alle Kräfte darauf zu richten, die Staatskirche zur Volkskirche umzuwandeln. Aber nun zeigten sich erst recht die Schwierigkeiten, die sich einer Volks¬ tümlichkeit der Kirche entgegenstellten. Nicht die stark einsetzende und methodisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/84>, abgerufen am 22.07.2024.