Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung UM sich greifende Austrittsbewegung war die größste unter ihnen. Sie wurde Eine bei weitem größere war der auffällige und unaufhaltsame Rückgang Ein weiterer Hinderungsgrund für die Volkstümlichkeit der Kirche war Zu dieser Gleichgültigkeit und Abwendung von der Kirche gesellte sich, Die Kirche erkannte die ihr drohenden Schwierigkeiten und war auf dem Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung UM sich greifende Austrittsbewegung war die größste unter ihnen. Sie wurde Eine bei weitem größere war der auffällige und unaufhaltsame Rückgang Ein weiterer Hinderungsgrund für die Volkstümlichkeit der Kirche war Zu dieser Gleichgültigkeit und Abwendung von der Kirche gesellte sich, Die Kirche erkannte die ihr drohenden Schwierigkeiten und war auf dem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0085" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323624"/> <fw type="header" place="top"> Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung</fw><lb/> <p xml:id="ID_258" prev="#ID_257"> UM sich greifende Austrittsbewegung war die größste unter ihnen. Sie wurde<lb/> weit überschätzt und hatte für Bestehen und Bedeutung der Kirche durchaus<lb/> nicht den Wert, den man ihr anfangs maaß.</p><lb/> <p xml:id="ID_259"> Eine bei weitem größere war der auffällige und unaufhaltsame Rückgang<lb/> des protestantischen Bevölkerungsanteils, der sich mit der Notwendigkeit eines<lb/> natürlichen Ereignisses vollzog. Er war weniger durch religiöse als durch<lb/> wirtschaftliche und ethische Motive begründet. Und zwar durch den Rückgang<lb/> der Geburten insbesondere in den germanischen Ländern, die sämtlich einen viel<lb/> stärkeren Rückgang zeigten als die südromanischen und slawischen.</p><lb/> <p xml:id="ID_260"> Ein weiterer Hinderungsgrund für die Volkstümlichkeit der Kirche war<lb/> die religiöse und kirchliche Gleichgültigkeit, der sie unter ihren eigenen Gliedern<lb/> begegnete. Es gab wohl Gemeinden und Orte, in denen die Beliebtheit oder<lb/> besondere Befähigung eines Geistlichen einen starken Kirchenbesuch hervorrief,<lb/> in denen gute Gewohnheit fast ausnahmslos Taufen und kirchliche Trauungen<lb/> verlangte, und die Begräbnisse stets unter geistlicher Begleitung stattfanden.<lb/> Hieraus aber den Schluß der Volkstümlichkeit der Kirche als solcher zu ziehen,<lb/> wäre gewagter Optimismus gewesen. Gerade in dieser regen Entfaltung<lb/> kirchlicher Gepflogenheit stagnierte oft das kirchliche Leben, konnte von seinem<lb/> Eindringen in das Volk keine Rede sein. Jenen Kreisen standen andere<lb/> gegenüber, — und oft waren es ernst und aufrichtig suchende — die sich durch<lb/> die für die große Menge berechneten Leistungen der Kirche, durch ihre Gottes¬<lb/> dienste, in denen der Geistliche, wohl auch die Gemeinde als solche zu ihrem<lb/> Rechte kamen, aber nicht der einzelne mit seinem religiösen Verlangen und<lb/> seiner persönlichen Anteilnahme, von der großen kirchlichen Organisation ab¬<lb/> gestoßen fühlten. Das schuf den zahllosen Sekten den Boden, vor allem auch<lb/> den wachsenden Gemeinschaftsbewegungen, die bald eine größere Volkstümlichkeit<lb/> besaßen als die Kirche.</p><lb/> <p xml:id="ID_261"> Zu dieser Gleichgültigkeit und Abwendung von der Kirche gesellte sich,<lb/> insbesondere in stark industriellen Ländern oder Großstädten, etwas anderes:<lb/> ausgesprochene Feindseligkeit. Mochte diese nun sozialen oder politischen<lb/> Ursprungs sein, mochte sie in der wachsenden Kirchensteuer oder in anderen<lb/> wirtschaftlichen Einrichtungen begründet sein, mochten die Sekten sie schüren<lb/> oder die Agitation der Konfessionslosen, jedenfalls hinderte sie die Kirche<lb/> volkstümlich zu werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_262" next="#ID_263"> Die Kirche erkannte die ihr drohenden Schwierigkeiten und war auf dem<lb/> Plane. Sie teilte ihre Gemeinden, besonders in den größeren Städten, zwecks<lb/> stärkerer Durchdringung und intensiverer Arbeit, in einzelne Seelsorgerbezirle,<lb/> sie ordnete, um dem Gemeinschaftsbedürfnis erfolgreich entgegenzukommen,<lb/> regelmäßige Bibelstunden im engeren Kreise an, sie förderte und spornte die<lb/> Vereinstätigkeit, sie veranstaltete Familien- und Elternabende und widmete den<lb/> Kindergottesdiensten erhöhte Aufmerksamkeit. Sie veranstaltete Vorträge apologe¬<lb/> tischen Charakters oder ließ Fragen ethischen und kulturellen Inhalts im Rahmen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0085]
Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung
UM sich greifende Austrittsbewegung war die größste unter ihnen. Sie wurde
weit überschätzt und hatte für Bestehen und Bedeutung der Kirche durchaus
nicht den Wert, den man ihr anfangs maaß.
Eine bei weitem größere war der auffällige und unaufhaltsame Rückgang
des protestantischen Bevölkerungsanteils, der sich mit der Notwendigkeit eines
natürlichen Ereignisses vollzog. Er war weniger durch religiöse als durch
wirtschaftliche und ethische Motive begründet. Und zwar durch den Rückgang
der Geburten insbesondere in den germanischen Ländern, die sämtlich einen viel
stärkeren Rückgang zeigten als die südromanischen und slawischen.
Ein weiterer Hinderungsgrund für die Volkstümlichkeit der Kirche war
die religiöse und kirchliche Gleichgültigkeit, der sie unter ihren eigenen Gliedern
begegnete. Es gab wohl Gemeinden und Orte, in denen die Beliebtheit oder
besondere Befähigung eines Geistlichen einen starken Kirchenbesuch hervorrief,
in denen gute Gewohnheit fast ausnahmslos Taufen und kirchliche Trauungen
verlangte, und die Begräbnisse stets unter geistlicher Begleitung stattfanden.
Hieraus aber den Schluß der Volkstümlichkeit der Kirche als solcher zu ziehen,
wäre gewagter Optimismus gewesen. Gerade in dieser regen Entfaltung
kirchlicher Gepflogenheit stagnierte oft das kirchliche Leben, konnte von seinem
Eindringen in das Volk keine Rede sein. Jenen Kreisen standen andere
gegenüber, — und oft waren es ernst und aufrichtig suchende — die sich durch
die für die große Menge berechneten Leistungen der Kirche, durch ihre Gottes¬
dienste, in denen der Geistliche, wohl auch die Gemeinde als solche zu ihrem
Rechte kamen, aber nicht der einzelne mit seinem religiösen Verlangen und
seiner persönlichen Anteilnahme, von der großen kirchlichen Organisation ab¬
gestoßen fühlten. Das schuf den zahllosen Sekten den Boden, vor allem auch
den wachsenden Gemeinschaftsbewegungen, die bald eine größere Volkstümlichkeit
besaßen als die Kirche.
Zu dieser Gleichgültigkeit und Abwendung von der Kirche gesellte sich,
insbesondere in stark industriellen Ländern oder Großstädten, etwas anderes:
ausgesprochene Feindseligkeit. Mochte diese nun sozialen oder politischen
Ursprungs sein, mochte sie in der wachsenden Kirchensteuer oder in anderen
wirtschaftlichen Einrichtungen begründet sein, mochten die Sekten sie schüren
oder die Agitation der Konfessionslosen, jedenfalls hinderte sie die Kirche
volkstümlich zu werden.
Die Kirche erkannte die ihr drohenden Schwierigkeiten und war auf dem
Plane. Sie teilte ihre Gemeinden, besonders in den größeren Städten, zwecks
stärkerer Durchdringung und intensiverer Arbeit, in einzelne Seelsorgerbezirle,
sie ordnete, um dem Gemeinschaftsbedürfnis erfolgreich entgegenzukommen,
regelmäßige Bibelstunden im engeren Kreise an, sie förderte und spornte die
Vereinstätigkeit, sie veranstaltete Familien- und Elternabende und widmete den
Kindergottesdiensten erhöhte Aufmerksamkeit. Sie veranstaltete Vorträge apologe¬
tischen Charakters oder ließ Fragen ethischen und kulturellen Inhalts im Rahmen
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