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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

pologischem Wege inzwischen längst bestätigten Diagnose in gewissem Sinne
allerdings für die ostdeutschen und süddeutschen Gebiete eine Mindereinschätzung
gegenüber Völkern, die sich reiner germanisch erhalten hätten, wie Skandinavier
und Briten, bei denen ihn vorwiegend das normännische Element anzog und
blendete. Aber seiner Theorie zum Trotz hat er vorher wie nachher unserem
wahren Blutswerte mehr als eine Huldigung dargebracht (wofür die vorer¬
wähnten Quellenwerke reiche Belege bringen), vor allem aber durch die Praxis,
durch andauernde verständnisvolle Vertiefung in deutsches Wesen kundgetan, wie
hoch er dieses stelle.

Man darf in Wahrheit sagen, daß Gobineau wie für die Deutschen
prädestiniert war. Kraft eines angeborenen Instinkts wählte und fand er in
jungen wie in alten Jahren seine nächsten und bedeutendsten Freunde vor¬
wiegend in der deutschen Welt: sein "Pylades" Germann Bohn, Ary Scheffer,
Adelbert Keller, Prokesch-Osten, Richard Wagner waren deutschen Geblüts.
Diese enge persönliche Verbindung ward ihm schon sehr früh ein Anlaß, unsere
Entwicklung auf den verschiedensten Gebieten mit warmem Interesse zu verfolgen,
die Perspektiven unserer Zukunft aufzurollen. Um nur ein besonders sprechendes
Beispiel aus den zahlreichen Studien, die er uns unter dem Julikönigtume ge¬
widmet hat, anzuführen: wie eigen mutet es heute an, zu sehen, wie ernstlich
dieser junge Denker sich schon vor siebzig Jahren unsere Lebensfragen von heute,
die Auswanderungs- und Kolonialfragen, hat angelegen sein lassen, wie er
unter anderem -- zur Beschämung wie vieler Deutscher! -- der ersten einer
war, die Friedrich List die gebührende Beachtung schenkten!

Daß Gobineau in der poetischen Literatur, in der Musik der Deutschen
nicht minder wie-in der heimischen zu Hause war, bezeugen zahlreiche Stellen
seiner Werke wie seiner Briefe. Wissenschaftlich bekannte er sich (in einem
Briefe an einen französischen Landsmann) mit Stolz zu den strengen Grund¬
sätzen der deutschen Schule, und sein Hauptwerk, das Buch über die Menschen¬
rassen, baut sich zum weitaus überwiegenden Teile auf den Forschungsergebnissen
der deutschen Wissenschaft auf. Als einen Dankesakt für das viele, das er
dieser schulde, bezeichnet er selbst die Veröffentlichung einer philosophischen Arbeit
in einer deutschen Zeitschrift (1868), und gegen Ende seines Lebens hat er in
dem Maße mehr und mehr an die Deutschen als das eigentliche Publikum
seiner letzten Arbeiten gedacht, als er sich den eigenen Landsleuten mit seinen
intimsten Gedanken und Absichten entfremdet sah.

Gobineau betrachtete also, wie ein berühmter englischer Staatsmann unserer
Tage, Deutschland als seine geistige Heimat. Aber er schrak nicht, wie dieser,
vor den Konsequenzen und Verpflichtungen, welche diese seine Überzeugung mit
sich brachte, zurück: er hatte den Mut, auch als nach 1870 der deutsche Name in
seinem Vaterlande den schlimmsten Klang angenommen hatte, der engsten geistigen
Verbindung beider Länder das Wort zu reden und vorzuarbeiten und seine
Landsleute zu ernähren, daß sie bei dem Volke, das noch vor kurzem ihr Feind


Gobineau über Deutsche und Franzosen

pologischem Wege inzwischen längst bestätigten Diagnose in gewissem Sinne
allerdings für die ostdeutschen und süddeutschen Gebiete eine Mindereinschätzung
gegenüber Völkern, die sich reiner germanisch erhalten hätten, wie Skandinavier
und Briten, bei denen ihn vorwiegend das normännische Element anzog und
blendete. Aber seiner Theorie zum Trotz hat er vorher wie nachher unserem
wahren Blutswerte mehr als eine Huldigung dargebracht (wofür die vorer¬
wähnten Quellenwerke reiche Belege bringen), vor allem aber durch die Praxis,
durch andauernde verständnisvolle Vertiefung in deutsches Wesen kundgetan, wie
hoch er dieses stelle.

Man darf in Wahrheit sagen, daß Gobineau wie für die Deutschen
prädestiniert war. Kraft eines angeborenen Instinkts wählte und fand er in
jungen wie in alten Jahren seine nächsten und bedeutendsten Freunde vor¬
wiegend in der deutschen Welt: sein „Pylades" Germann Bohn, Ary Scheffer,
Adelbert Keller, Prokesch-Osten, Richard Wagner waren deutschen Geblüts.
Diese enge persönliche Verbindung ward ihm schon sehr früh ein Anlaß, unsere
Entwicklung auf den verschiedensten Gebieten mit warmem Interesse zu verfolgen,
die Perspektiven unserer Zukunft aufzurollen. Um nur ein besonders sprechendes
Beispiel aus den zahlreichen Studien, die er uns unter dem Julikönigtume ge¬
widmet hat, anzuführen: wie eigen mutet es heute an, zu sehen, wie ernstlich
dieser junge Denker sich schon vor siebzig Jahren unsere Lebensfragen von heute,
die Auswanderungs- und Kolonialfragen, hat angelegen sein lassen, wie er
unter anderem — zur Beschämung wie vieler Deutscher! — der ersten einer
war, die Friedrich List die gebührende Beachtung schenkten!

Daß Gobineau in der poetischen Literatur, in der Musik der Deutschen
nicht minder wie-in der heimischen zu Hause war, bezeugen zahlreiche Stellen
seiner Werke wie seiner Briefe. Wissenschaftlich bekannte er sich (in einem
Briefe an einen französischen Landsmann) mit Stolz zu den strengen Grund¬
sätzen der deutschen Schule, und sein Hauptwerk, das Buch über die Menschen¬
rassen, baut sich zum weitaus überwiegenden Teile auf den Forschungsergebnissen
der deutschen Wissenschaft auf. Als einen Dankesakt für das viele, das er
dieser schulde, bezeichnet er selbst die Veröffentlichung einer philosophischen Arbeit
in einer deutschen Zeitschrift (1868), und gegen Ende seines Lebens hat er in
dem Maße mehr und mehr an die Deutschen als das eigentliche Publikum
seiner letzten Arbeiten gedacht, als er sich den eigenen Landsleuten mit seinen
intimsten Gedanken und Absichten entfremdet sah.

Gobineau betrachtete also, wie ein berühmter englischer Staatsmann unserer
Tage, Deutschland als seine geistige Heimat. Aber er schrak nicht, wie dieser,
vor den Konsequenzen und Verpflichtungen, welche diese seine Überzeugung mit
sich brachte, zurück: er hatte den Mut, auch als nach 1870 der deutsche Name in
seinem Vaterlande den schlimmsten Klang angenommen hatte, der engsten geistigen
Verbindung beider Länder das Wort zu reden und vorzuarbeiten und seine
Landsleute zu ernähren, daß sie bei dem Volke, das noch vor kurzem ihr Feind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/68>, abgerufen am 24.08.2024.