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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

gewesen, nach möglichst vielen Seiten in die Schule gehen möchten. Er hat
sich dadurch viel Verkennung zugezogen, und bis heute vermag kein französischer
Nationalist anders als mit tiefem Groll und in der absprechendsten Weise über
ihn zu reden: er gilt als ein Abtrünniger und bleibt als solcher verfemt,
während er in Wahrheit nur die uns Deutschen so ganz anders geläufige
Eigenschaft des Universalismus, des Versenkens in fremde Art bewährt, und
die daraus wie von selbst entsprießende Tugend der Gerechtigkeit geübt hat,
so daß dem wahren Gobineau derjenige, der ihm seine enge Zusammengehörigkeit
mit Deutschland absprechen will, wie es seine Tochter getan, schlimmer zu nahe
tritt, als wer sie ihm vorwirft, wie es -- von im übrigen durchaus zu
würdigenden Gesichtspunkten aus -- die französischen Patrioten tun.

Nein, es bleibt dabei: das Verständnis und die Liebe, welche die Deutschen
ihm in so reichem Maße entgegengebracht haben, hat Gobineau als erster ihnen
gewidmet. Dieser Endeseindruck kann auch nicht geschmälert, vielmehr eher
noch verstärkt werden, wenn wir uns nunmehr dem zweiten, für die Öffentlichkeit
neuen Gegenstand unserer Betrachtung: "Gobineau während des Krieges 1870/71,
und vor allem über diesen Krieg", zuwenden.

Gobineau war einer von den wenigen in seinem Vaterlande, welche die
damals eingetretenen Ereignisse vorausgesehen haben. In den langjährigen
Berührungen mit den Regierenden war ihm das Vertrauen in diese gründlich
erschüttert worden; auch im Volke hatte er Fäulnis- und Entartungserscheinungen
wahrgenommen, welche ihn für dieses beim Zusammenstoße mit einem Gegner,
dessen vollen Wert gerade er kannte und würdigte, das schlimmste ahnen ließen.
So konnte er, als dies schlimmste wirklich eingetroffen war, gegen einen
französischen Freund sich äußern: "Ich glaube, daß ich der wenigst erstaunte
unter allen Franzosen bin, da ich niemals an dem, was sich jetzt ereignet, ge¬
zweifelt habe, und mich auf noch besseres gefaßt halte," und der schon erwähnte
englische ihm während des Krieges schreiben: "Wie tausendfach Sie recht hatten,
und wie klar Sie blickten! ... Sie sind der einzige, der die Wahrheit nicht
fürchtet, und der sie sagt. Es ist herzzerreißend zu sehen, wie ein ganzes Volk
sich von Lügen nährt und mit Phrasen bezahlt macht -- usqus aä nauseam."

Während in der Tat die meisten seiner Landsleute ihr Heil in der Lüge
suchten, ward sich Gobineau mit dem Fortschreiten des Unheils nur immer
unerbittlicher über die ganze Wahrheit klar. "Wissen Sie wohl," schreibt er
an Prokesch im Dezember 1870, "daß das Schlimmste für dieses unglückliche
Land nicht die Preußen, die Sachsen, die Bayern und Württemberger find:
das Mene Tekel Phares steht an der Wardi" Und wieder und wieder weis¬
sagt er seinem Volks ein rettungsloses Verderben, wenn es nicht, anstatt alles
auf die Führenden abzuwälzen, in den eigenen Busen greifen und seine
moralische Verfassung von Grund aus umwandeln wolle.

Was er im Verlaufe des Krieges zu sehen bekam, ließ sich freilich wenig
genug hiernach an. Auf Schritt und Tritt stieß er da auf Kopflosigkeiten und


Gobineau über Deutsche und Franzosen

gewesen, nach möglichst vielen Seiten in die Schule gehen möchten. Er hat
sich dadurch viel Verkennung zugezogen, und bis heute vermag kein französischer
Nationalist anders als mit tiefem Groll und in der absprechendsten Weise über
ihn zu reden: er gilt als ein Abtrünniger und bleibt als solcher verfemt,
während er in Wahrheit nur die uns Deutschen so ganz anders geläufige
Eigenschaft des Universalismus, des Versenkens in fremde Art bewährt, und
die daraus wie von selbst entsprießende Tugend der Gerechtigkeit geübt hat,
so daß dem wahren Gobineau derjenige, der ihm seine enge Zusammengehörigkeit
mit Deutschland absprechen will, wie es seine Tochter getan, schlimmer zu nahe
tritt, als wer sie ihm vorwirft, wie es — von im übrigen durchaus zu
würdigenden Gesichtspunkten aus — die französischen Patrioten tun.

Nein, es bleibt dabei: das Verständnis und die Liebe, welche die Deutschen
ihm in so reichem Maße entgegengebracht haben, hat Gobineau als erster ihnen
gewidmet. Dieser Endeseindruck kann auch nicht geschmälert, vielmehr eher
noch verstärkt werden, wenn wir uns nunmehr dem zweiten, für die Öffentlichkeit
neuen Gegenstand unserer Betrachtung: „Gobineau während des Krieges 1870/71,
und vor allem über diesen Krieg", zuwenden.

Gobineau war einer von den wenigen in seinem Vaterlande, welche die
damals eingetretenen Ereignisse vorausgesehen haben. In den langjährigen
Berührungen mit den Regierenden war ihm das Vertrauen in diese gründlich
erschüttert worden; auch im Volke hatte er Fäulnis- und Entartungserscheinungen
wahrgenommen, welche ihn für dieses beim Zusammenstoße mit einem Gegner,
dessen vollen Wert gerade er kannte und würdigte, das schlimmste ahnen ließen.
So konnte er, als dies schlimmste wirklich eingetroffen war, gegen einen
französischen Freund sich äußern: „Ich glaube, daß ich der wenigst erstaunte
unter allen Franzosen bin, da ich niemals an dem, was sich jetzt ereignet, ge¬
zweifelt habe, und mich auf noch besseres gefaßt halte," und der schon erwähnte
englische ihm während des Krieges schreiben: „Wie tausendfach Sie recht hatten,
und wie klar Sie blickten! ... Sie sind der einzige, der die Wahrheit nicht
fürchtet, und der sie sagt. Es ist herzzerreißend zu sehen, wie ein ganzes Volk
sich von Lügen nährt und mit Phrasen bezahlt macht — usqus aä nauseam."

Während in der Tat die meisten seiner Landsleute ihr Heil in der Lüge
suchten, ward sich Gobineau mit dem Fortschreiten des Unheils nur immer
unerbittlicher über die ganze Wahrheit klar. „Wissen Sie wohl," schreibt er
an Prokesch im Dezember 1870, „daß das Schlimmste für dieses unglückliche
Land nicht die Preußen, die Sachsen, die Bayern und Württemberger find:
das Mene Tekel Phares steht an der Wardi" Und wieder und wieder weis¬
sagt er seinem Volks ein rettungsloses Verderben, wenn es nicht, anstatt alles
auf die Führenden abzuwälzen, in den eigenen Busen greifen und seine
moralische Verfassung von Grund aus umwandeln wolle.

Was er im Verlaufe des Krieges zu sehen bekam, ließ sich freilich wenig
genug hiernach an. Auf Schritt und Tritt stieß er da auf Kopflosigkeiten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/69>, abgerufen am 22.07.2024.