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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

Seite 177 ff.). Und wie klar er sich vollends über das Abnorme und für ganz
Europa Verhängnisvolle eines englischen Übergewichtes gewesen ist. lehrt sein schon
im September 1843 geprägtes Wort: "England kann sich nur dann an der
Spitze der europäischen Welt befinden, wenn diese aus ihren normalen Daseins¬
bedingungen heraustritt" -- ein Wort, das er den europäischen Völkern von
heute noch mehr als denen von damals ins Stammbuch geschrieben zu haben
scheint, und neben das seine Landsleute das andere, im gleichen Aufsatze sich findende,
halten mögen, "man könne es als Grundsatz, als unwiderlegliche Maxime fassen,
daß die Interessen Frankreichs und Englands nichts gemein hätten."

Und sollte er gleichwohl in späterer Zeit neben solchen Erkenntnissen noch
Illusionen über den inneren Wert des England seiner Tage gehegt haben, so
dürfte sie ihm ein Brief eines seiner nächsten Freunde, Lord Lyttons (Sohnes
des großen Romandichters Bulwer Lytton und späteren Vizekönigs von Indien),
benommen haben, der ihm angesichts des furchtbaren moralischen Zusammen¬
bruchs Frankreichs im November 1870 schrieb, "daß England, wenn die Vor¬
sehung ihm eine ähnliche Prüfung auferlegen sollte, wie jetzt Frankreich, sie
ebenso wenig bestehen würde, da auch bei ihm nur die Anarchie im Grunde,
und Lüge und Feigheit auf der Oberfläche zu finden seien" -- eine Weissagung,
die sich heute vor unseren Augen in erschreckender Weise zu erfüllen beginnt.

Aber genug hiervon, und nun zur Hauptsache, zu uns selbst!

Frau von Guldencrone will des öfteren von ihrem Vater gehört haben,
daß er "die deutsche Nation als ein heterogenes Gemisch minderwertiger
Elemente betrachtet habe." Für uns steht es natürlich fest, daß dergleichen
mündlich hingeworfene Äußerungen, bei denen alles auf den Wortlaut ankommt,
solange nicht die Spur einer Beweiskraft haben, als sie nicht in den öffentlichen
Kundgebungen des betreffenden Autors eine Stiche finden. Man braucht aber
nur die Hauptstelle des Essai über Deutschland (T. IV., 172 bis 175, deutsche
Ausgabe, Band 4, Seite 176 bis 178) anzusehen, um zu erkennen, wie sehr
die obige Wendung, gelinde gesagt, an Übertreibung leidet. Als Gobineau
diese Stelle niederschrieb -- es war in dem Frankfurt des Bundestages von
1854, also einem Milieu, das ohnehin auf alles Deutsche unwillkürlich drücken
mußte --, stand er mehr als je wieder in seinem Leben unter dem Einfluß
einer allbeherrschender Doctrin, welche für ihn in der Verherrlichung des Rein¬
germanischen gipfelte, so daß er den Mischgestaltungen des germanischen Blutes
weniger gerecht zu werden vermochte. An dem genannten Orte nun führt er
aus, daß wir nach den Auswanderungen der germanischen und Einwanderungen
der slawischen Stämme eine sehr starke Schwächung des germanischen Elementes
erfahren hätten, welches geschlossen nur in Friesland, Westfalen, Hannover und
den Rheingegenden verblieben sei, während die übrigen Landschaften Deutschlands
durch und durch gemischt, stark slawisch und keltisch durchsetzt in die eigentliche
deutsche Geschichte eingetreten seien. Da Gobineau die letztgenannten Stämme
zweifellos hinter die Germanen zurückstellt, so liegt in dieser auf exakt-anthro-


Gobineau über Deutsche und Franzosen

Seite 177 ff.). Und wie klar er sich vollends über das Abnorme und für ganz
Europa Verhängnisvolle eines englischen Übergewichtes gewesen ist. lehrt sein schon
im September 1843 geprägtes Wort: „England kann sich nur dann an der
Spitze der europäischen Welt befinden, wenn diese aus ihren normalen Daseins¬
bedingungen heraustritt" — ein Wort, das er den europäischen Völkern von
heute noch mehr als denen von damals ins Stammbuch geschrieben zu haben
scheint, und neben das seine Landsleute das andere, im gleichen Aufsatze sich findende,
halten mögen, „man könne es als Grundsatz, als unwiderlegliche Maxime fassen,
daß die Interessen Frankreichs und Englands nichts gemein hätten."

Und sollte er gleichwohl in späterer Zeit neben solchen Erkenntnissen noch
Illusionen über den inneren Wert des England seiner Tage gehegt haben, so
dürfte sie ihm ein Brief eines seiner nächsten Freunde, Lord Lyttons (Sohnes
des großen Romandichters Bulwer Lytton und späteren Vizekönigs von Indien),
benommen haben, der ihm angesichts des furchtbaren moralischen Zusammen¬
bruchs Frankreichs im November 1870 schrieb, „daß England, wenn die Vor¬
sehung ihm eine ähnliche Prüfung auferlegen sollte, wie jetzt Frankreich, sie
ebenso wenig bestehen würde, da auch bei ihm nur die Anarchie im Grunde,
und Lüge und Feigheit auf der Oberfläche zu finden seien" — eine Weissagung,
die sich heute vor unseren Augen in erschreckender Weise zu erfüllen beginnt.

Aber genug hiervon, und nun zur Hauptsache, zu uns selbst!

Frau von Guldencrone will des öfteren von ihrem Vater gehört haben,
daß er „die deutsche Nation als ein heterogenes Gemisch minderwertiger
Elemente betrachtet habe." Für uns steht es natürlich fest, daß dergleichen
mündlich hingeworfene Äußerungen, bei denen alles auf den Wortlaut ankommt,
solange nicht die Spur einer Beweiskraft haben, als sie nicht in den öffentlichen
Kundgebungen des betreffenden Autors eine Stiche finden. Man braucht aber
nur die Hauptstelle des Essai über Deutschland (T. IV., 172 bis 175, deutsche
Ausgabe, Band 4, Seite 176 bis 178) anzusehen, um zu erkennen, wie sehr
die obige Wendung, gelinde gesagt, an Übertreibung leidet. Als Gobineau
diese Stelle niederschrieb — es war in dem Frankfurt des Bundestages von
1854, also einem Milieu, das ohnehin auf alles Deutsche unwillkürlich drücken
mußte —, stand er mehr als je wieder in seinem Leben unter dem Einfluß
einer allbeherrschender Doctrin, welche für ihn in der Verherrlichung des Rein¬
germanischen gipfelte, so daß er den Mischgestaltungen des germanischen Blutes
weniger gerecht zu werden vermochte. An dem genannten Orte nun führt er
aus, daß wir nach den Auswanderungen der germanischen und Einwanderungen
der slawischen Stämme eine sehr starke Schwächung des germanischen Elementes
erfahren hätten, welches geschlossen nur in Friesland, Westfalen, Hannover und
den Rheingegenden verblieben sei, während die übrigen Landschaften Deutschlands
durch und durch gemischt, stark slawisch und keltisch durchsetzt in die eigentliche
deutsche Geschichte eingetreten seien. Da Gobineau die letztgenannten Stämme
zweifellos hinter die Germanen zurückstellt, so liegt in dieser auf exakt-anthro-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/67>, abgerufen am 22.07.2024.